Verbildlichen trotz allem

in (23.11.2008)
  Leonor Arfuch skizziert und kommentiert die Debatte, die sich im Anschluss an das Auftauchen von vier Fotos aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zwischen einigen Intellektuellen in Frankreich entspann. Die Fotos waren von Mitgliedern des Sonderkommandos, also von Häftlingen selbst, aufgenommen und aus dem Lager geschmuggelt worden. Sie wurden 2001 in der Ausstellung Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration nazi in Paris gezeigt und in einem von Clément Chéroux herausgegebenen, gleichnamigen Band publiziert. Der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman plädiert im Katalogtext für das Zeigen der Bilder und führt dieses Plädoyer in seinem Buch Bilder trotz allem (2007) aus. In der Debatte um dieses Buch und die Ausstellung ging es um die Frage, ob es eine Repräsentation der Lager geben könne oder ob sich der Terror nicht jeder Reduzierbarkeit auf ein Bild verschließe (oder verschließen müsse). [Die Red.]

Welches sind Streitpunkte innerhalb dieser Polemik? Welche Positionen stehen sich hier gegenüber? Weit über ihren spezifischen Gegenstand hinaus, fördern die vorliegenden Argumente ein altes Dilemma zu Tage: Das Misstrauen gegenüber dem Bild als pure Erscheinung, als Reflex, als Spektakel und darüber hinaus gegenüber der Gefahr, der „Idolatrie“ und der Faszination anheim zu fallen, und seine Entsprechung, das Vertrauen in den Logos, das Wort, den Sinn, garantiert durch die formalen Strukturen der Sprache. Wort gegen Bild, in diesem Fall wird der Status des Zeugen demjenigen zuerkannt, der sprechen kann, aber nicht dem Dokument – dem Bild –, das den Anspruch erhebt, angesichts des Verschwindens des Zeugen zu sprechen.

Sowohl die Vorwürfe Gerárd Wajcmans als auch jene Élisabeth Pagnoux´ [gegen die Ausstellung und Didi-Hubermans Argumente; Anm. d. Red.] drehen sich um diese Frage: ob es notwendig ist zu zeigen, was man bereits weiß – „das Foto zeigt nichts, was wir nicht schon gewusst hätten“ –, ob es der unübertroffenen Dimension des Ereignisses gegenüber nicht ausreichend – oder radikal nicht ausreichende – Worte gibt, einem Ereignis gegenüber, das weder ein mögliches Bild noch eine mögliche Übersetzung besitzt: Es gibt keine Bilder der Shoah, weil es keine ZeugInnen gibt, niemand kann aus den Gaskammern erzählen – „Auschwitz, ein Ereignis ohne ZeugInnen“. Deshalb schaffen die Schilderung und die Vorstellung, die die vier Fotos wecken, zunächst eine beinahe sakrileghafte Kategorie, denn sie beanspruchen, diese absolute Stille, diese bilderlose Leere zu „usurpieren“, indem sie ihnen ihr „davor“ und ihr „danach“ anheften. Sie bestehen darauf, die Leere zu füllen anstatt sich ihr auszusetzen. Überinterpretation, Halluzination, Phantasiemaschine, betrügerische Identifikation, kindliche Begeisterung, hypnotische Suggestion, religiöse Fetischisierung des Bildes, eine Bewunderung, die der sexuellen Perversion nahe komme, Voyeurismus, eine abscheuliche Idee, die die Henker mit den Opfern gleichsetzen würde, Freude am Horror… die Anklagen reichten bis zum Vorwurf des Antisemitismus: Georges Didi-Huberman sei eine Art christianisierter Renegat, der dem allgemeinen Kult um die Bilder erlegen sei.

Die Debatte ist über ihren Gegenstand hinaus von Interesse: Wir leben in Zeiten der globalen Expansion des Bildes, in Zeiten einer wachsenden Simultaneität, die uns keine Art von visuellen Eindrücken erspart, auch nicht die traumatischen, und die aus ihnen das Los einer verpflichtenden Alltäglichkeit macht. Diese Last der Visualität, die von manchen theoretisch dem Bild gegenübergestellt wird,[1] wird ausgerechnet wegen ihres Ausmaßes als potenziell negativ betrachtet – weil sie den Blick verblendet, fesselt, automatisiert. Sie ist zweifellos präsent in der Reaktion der KritikerInnen von Bilder trotz allem, deren Bösartigkeit einmal mehr ein Paradox hat offensichtlich werden lassen: Während die Oberflächlichkeit des Bildes und die Unangemessenheit dem Ereignis gegenüber kritisiert wird, denunziert man gleichzeitig seine offensive Macht.

Die Mächte des Bildes, nach Louis Marin, der hierin Benveniste folgt, „instituieren es als Subjekt , im stärksten Sinne des Wortes, nicht durch die Steigerung dessen, was bereits existiert, sondern durch ihre Fähigkeit zur Produktion.“[2] In dieser Sichtweise begnügt sich das Wesen des Bildes weder mit jenem „sekundären“ Status, den ihm die westliche Philosophie beigemessen hat – Kopie, Mimesis, Repräsentation, die niemals ihr „Original“ erreicht –, noch definiert sich seine Macht über das, was es uns über die Dinge wissen (oder nicht wissen) lässt. Seine Macht besteht in der Kraft zu repräsentieren, d.h. etwas Neues zu zeigen, auf eine Art und Weise, die auf die Menschen einwirkt, die es lesen, und insofern besteht sie mehr in der Ausrichtung der Antwort als in ihrer Anpassung an das, was das Bild entstehen ließ.

Der „Eindruck auf den Empfänger“ artikuliert sich auch in der Widerlegung von Didi-Huberman, die sich ganz fundamental auf die Zeugnisse Überlebender – Primo Levi, Jorge Semprún – stützt und zudem auf Texte von Walter Benjamin, Hannah Arendt und Maurice Blanchot. Von ersteren nimmt sie die eigenen Eindrücke gegenüber dem Unterschied zwischen Erfahrung und Bild, sie (die Überlebenden) erkennen die Orte, an denen sie gelebt haben, im Genre des Dokumentarfilms nicht „wörtlich“ wieder. Semprun berichtet von dem Befremden gegenüber diesem Beweis in einem Kinosaal, kurz nachdem er das Lager von Buchenwald verlassen hatte: „Die grauen, manchmal verschwommenen Bilder, im Hüpfen einer Handkamera gedreht, bekamen eine Dimension maßloser, erschütternder Realität, an die meine Erinnerung nicht heranreichten.“[3] Ein Beweis, der zugleich den Übergang von der Intimität zum Raum des Öffentlichen markiert – eine Form der „Derealisierung“ – und die Notwendigkeit dieses Übergangs, im ethischen Sinne der Überlieferung.

Diese Aufspaltung zwischen erlebter Erinnerung und erkennbarem, aber unabänderlich entferntem Spektakel wird von Didi-Huberman als „zweifache Ordnung des Bildes“ gelesen, das auf der einen Seite dazu in der Lage ist, einen „Augenblick der Wahrheit“ – wie Arendt es nennt – zu erhellen, ohne das es uns dadurch glauben machte, wir seien „dabei“. Annäherung ist weder Aneignung noch Identifizierung, behauptet der er, und noch weniger „Faszination“: Die vier Bilder würden niemals in dem Sinne beruhigend sein, dass man sie als „gesehen“ abhaken könnte, sondern vielmehr würden sie durch ihre kategorische Andersheit erschüttern.

Diese Überlegung steht sicherlich in Beziehung zu den „zwei Versionen des Imaginären“, die nach Blanchot dem Bild als konstitutive Ambiguität eigen sind: entweder hilft uns das Bild idealer Weise, die Sache wiederzuerlangen und damit dessen „belebende Negation“ zu bewerkstelligen, oder es kann uns kraft seines eigenen Gewichts gerade nicht an die abwesende Sache, sondern an die Abwesenheit selbst als Präsenz verweisen. Aber diese Doppeldeutigkeit löst sich nicht in einer Option zwischen „diesem und dem anderen“ auf, sondern handelt in einer eigensinnigen Zeitlichkeit, „manchmal“ in einer Artikulation der Welt gegenüber, „manchmal“ als fasziniertes Eintauchen, „manchmal“ als die Macht, dank der Fiktion aber mit allen Sinnen „die Dinge in ihrer Abwesenheit präsent zu machen“.[4] Ereignis und Bild sind so durch die Distanz moduliert, die nicht dem Bild selbst eigen ist, sondern dem Einfluss, den es auf den/die BetrachterIn ausüben kann, den Gefühlen, die es zu produzieren in der Lage ist.

Und um Gefühle handelt es sich hier zweifellos, mehr als um einen dokumentarischen Beitrag zum visuell und verbal sehr reichen Archiv von Auschwitz. Man nimmt im Text von Didi-Hubermans permanent diese emotionale Spannung der verschiedenen „Manchmals“ wahr, die seine Lesweise begleiten, die Analyse des Bildes und seine Möglichkeitsbedingungen, die – ausgiebig befragte – Fluktuation zwischen dem Ganzen und dem Detail, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren und dem vorgeschlagenen Dialog zwischen dem Bild und den Stimmen, die es nicht überlebt haben. Es stimmt, das sein Blick für Momente versunken scheint, gefangen von der Tiefe des Bildes – diese Tiefe der Abwesenheit, des Unvorstellbaren, das Jean-Luc Nancy den „Grund der Bilder“ genannt hat, die sowohl auf den (eigenen) Tod als auch auf die Unsterblichkeit verweist. Eine Tiefe, die, im Falle von zwei der vier präsentierten Fotografien, gerade den unmöglichen Ort berührt, von dem aus sie, Didi-Hubermans Hypothese zufolge, gemacht worden waren: dem „Auge des Zyklons“, dem Inneren einer Gaskammer. Nach Wajcman eine unverzeihliche Zumutung zu behaupten, es wäre möglich gewesen, wenigstens von dem Ort aus ein Bild zu machen, von dem selbst kein Bild existiert.

Ja, seinen KritikerInnen zufolge „besetzt“ Didi-Huberman in seinem Bericht den Ort des Zeugen, bringt die Fotografien zum Wort – lässt sie mit großem Aufwand „sprechen“. Auch Claude Lanzmann – der ihn der „unerträglichen interpretativen Pedanterie“ beschuldigt – wirft ihm vor, sich dem Sehtrieb zu beugen und dem Archivbild eine Vorstellungsgabe zuzuerkennen: „Ich habe immer betont, daß es sich bei den Bildern der Archive um Bilder ohne Einbildungskraft (images sans imagination) handelt. Sie lassen das Denken erstarren und töten jegliches Vorstellungsvermögen.“[5] Didi-Huberman weist das Argument des Autors von Shoah zurück, auch wenn er die bedeutende Größe von dessen Film anerkennt – neun Stunden Zeugnisse von Überlebenden und diversen, in irgendeiner Weise an der Vernichtung Beteiligten, ohne auch nur ein Archivbild – und kommt auf die Singularität „seiner“ unter Lebensgefahr– unter Gefahr selbst des „nackten Lebens“ im Lager – gemachten Bilder zurück: er kommt auf das zurück, was diese Bilder verdienen, was sie von ihrem eventuellen Betrachter fordern – hier können wir an William J. T. Mitchell denken[6] –, was nicht weniger ist als eine Anerkennung ihrer Identität in Übereinstimmung mit ihrer Ontologie. Die Ablehnung jeglichen Archivbildes durch den Filmemacher, wie sie in Shoah deutlich wird, ist so nicht nur als gleichfalls anmaßende Geste zu betrachten, als Verabsolutierung des Wortes und der Zeugenaussage – unter den Vorwürfen von Wajcman befand sich auch jener gegen den angeblichen Anspruch Didi-Hubermans, das Bild zu „verabsolutieren“ –, eines Wortes, das in seiner reinen Gegenwart gewonnen wird und zeitgenössische Stimmen und Bilder des Horrors überhört und auf bestimmte Weise „negiert“. Die Ablehnung des Archivbildes ist auch als eine Negation der Konzeption des Archivs selbst zu betrachten, das obwohl bereits konfiguriert, immer offen ist gegenüber der Vielfältigkeit der Lesweisen, einer innovativen Syntax seiner Dokumente gegenüber, und letzten Endes gegenüber der Imagination, die alle „historisierende Repräsentation“ mit sich bringt, wie Paul Ricoeur sie gerne nennt. Das Archiv als solches legt nicht Zeugnis ab, wenn es nicht durch eine Frage „geweckt“ wird.


Leonor Arfuch ist Professorin für Literaturwissenschaften an der Universität Buenos Aires.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Winter 2008/2009, „Die Macht des Faktischen“.

Der Text ist ein Unterkapitel aus Leonor Arfuchs aktuellem Buch Crítica cultural entre política y poética, Buenos Aires 2008 (Fondo de Cultura Económomica) und wurde für den Bildpunkt aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner und Carlos Toledo.


[1] Marie-José Mondzain schlägt eine Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit und Bild vor, wobei die erste für Wiederholung, Passivität und Konformismus des Auges steht und sie dem zweiten eine doppelt aktive Stellung (auch des Betrachters) in Richtung Denken und Kritik zumisst, vgl. Marie-José Mondzain: Können Bilder töten? Berlin/Zürich 2006 (Diaphanes Verlag).

[2] Louis Marin: Von den Mächten des Bildes. Glossen, Zürich/Berlin 2006 (Diaphanes Verlag).

[3] Zit. n. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007 (Wilhlem Fink Verlag), S. 128.

[4] Maurice Blanchot: El Espacio literario, Barcelona 1992 (Paidos Verlag).

[5] Zit. n. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007 (Wilhlem Fink Verlag), S.S. 138.

[6] W. J. T. Mitchell: Was wollen Bilder wirklich?, in: ders.: Bildtheorie, Frankfurt a. M. 2007 (Suhrkamp Verlag), S. 347-370.