Leuchtende Zukunft

Nächste Runde beim Aufbau des EU-Staats

Ende 2009 läuft das Haager Programm "zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht" aus. Bis dahin sollen die Staats- und Regierungschefs der EU, der Europäische Rat, einen neuen Fünfjahresplan für die Innen- und Justizpolitik beschließen. Die Vorarbeiten dazu leistete die "Zukunftsgruppe".

Vom ersten Fünfjahresplan für die Innen- und Justizpolitik der EU (2000-2004), den "Schlussfolgerungen" von Tampere, erhielt die Öffentlichkeit erst am Morgen des 16. Oktobers 1999 Kenntnis, wenige Stunden bevor sie die Staats- und Regierungschefs verabschiedeten. Das darauf folgende Haager Programm (2005-2009) lag gerade mal vier Wochen vor, als es der Europäische Rat am 4. November 2004 ohne weitere Diskussion absegnete. Für die Erarbeitung des neuen Programms, so scheint es, haben sich die InnenpolitikerInnen der EU neue Manieren zugelegt: Von "Transparenz" ist die Rede, von "offener" Diskussion und "intensivem Austausch", für die man sich ungewöhnlich viel Zeit nahm.

Die "Zukunftsgruppe" – die "hochrangige beratende Gruppe über die Zukunft der europäischen Innenpolitik" – wurde auf Betreiben von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble auf der Dresdener Ratstagung im Januar 2007 eingesetzt. Ihr gehörten neben dem zuständigen EU-Kommissar die InnenministerInnen jener sechs Mitgliedstaaten an, die bis Ende 2009 den EU-Vorsitz innehaben. Hinzu kamen als BeobachterInnen eine britische Ministerin (als Vertreterin der "Common Law"-Staaten), ein Mitglied des Ratssekretariats und der Präsident des Innen- und Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments (EP). "Die Mitglieder haben alle in ihrer persönlichen Eigenschaft teilgenommen, d.h. sie sprachen nur für sich und mussten nicht die Regierungsmeinung ihres Landes vertreten. Das hat dazu geführt, dass offener diskutiert werden konnte als in den formellen Ratssitzungen", erklärt das Bundesinnenministerium (BMI) auf seiner Homepage in einem Einleitungstext zu den Materialien der Zukunftsgruppe.[1] Zur Ratstagung im Juli 2008 legte die Gruppe ihren Bericht vor.[2] Er ist faktisch der Blueprint für das Programm, dessen Entwurf die Kommission bis zum Frühjahr 2009 erstellen soll. Im Mai 2009 sind Wahlen zum EP, im Herbst wird die Kommission neu gebildet, und Ende 2009 kann der EU-Gipfel unter schwedischer Präsidentschaft das Programm beschließen.

Die Aufforderung zur offenen und freimütigen Diskussion um die Zukunft der EU-Innenpolitik richtet sich jedoch nicht primär an die Öffentlichkeit, der vor allem eine passive, rezipierende Rolle zugedacht ist. In bekannter europäischer Manier erklärt die Zukunftsgruppe, den BürgerInnen die Ziele der EU "näher bringen" zu wollen. Diesem Verständnis von Bürgernähe entspricht auch die Multiple-Choice-Umfrage der Kommission, an denen sich Organisationen wie Einzelpersonen bis zum 4. Dezember 2008 beteiligen konnten.[3] Auf Fragen wie "Sind Sie der Auffassung, dass moderne Technologien stärker als bisher eingesetzt werden sollten, um Grenz- und Identitätskontrollen zu verstärken und Reisedokumente zu überprüfen?" oder "Sollte die EU mehr tun, um der terroristischen Bedrohung zu begegnen?" konnte man dort mit "ja – nein – keine Meinung" antworten. An eine reale Einflussnahme der Öffentlichkeit ist also nicht ernstlich gedacht. Zwar sind der Bericht der Zukunftsgruppe sowie sämtliche Konzeptpapiere, auf denen er aufbaut, öffentlich zugänglich. Ihre Diskussionen vollzogen sich jedoch wie üblich hinter verschlossenen Türen.

Nicht bloß zur Schau getragen hingegen ist die "Offenheit" gegenüber den exekutiven "Players". Hier ergab die Zusammensetzung der Zukunftsgruppe – in den Worten des BMI – einen "Querschnitt durch den Rat: Innenminister aus großen und kleinen, nördlichen und südlichen, alten und neuen Mitgliedstaaten kamen an einem Tisch zusammen." Der Versuch der breiten Abstützung erklärt sich vor allem daraus, dass die EU-Innenpolitik in den letzten Jahren an Schwung verloren hat. Die Exekutiven – sprich: die im Rat vertretenen Regierungen der Mitgliedstaaten einerseits und die Kommission andererseits – können zwar die Agenda für den Aufbau des EU-Staates weitgehend alleine setzen. Mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten gehen die Verhandlungen jedoch nur langsam voran. Der letzte Bericht der Kommission über die Umsetzung des Haager Programms[4] zeigt das deutlich: Im Jahre 2007 gab es in den polizeilichen und strafrechtlichen Angelegenheiten, der Dritten Säule, nur wenige "Fortschritte". Hier entscheidet der Rat alleine, aber er muss seine Entscheidungen einstimmig treffen. In den zur ersten Säule gehörenden Bereichen des Asyls, der Migration und der Grenzkontrollen meldete die Kommission hingegen weitgehende Planerfüllung. Das EP darf dabei zwar mitentscheiden, erweist sich aber als handzahm und lässt sich regelmäßig auf geheime "Trialoge" mit Kommission und Rat ein. Viel wichtiger ist jedoch, dass in diesem Bereich Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit fallen.

Die Übertragung dieses so genannten Mitentscheidungsverfahrens auf die gesamte Rechtsetzung in der Innen- und Justizpolitik klammerte die Zukunftsgruppe bewusst aus. Der Verfassungsvertrag, der dies vorgesehen hätte, war 2005 in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Ob es zu einer Neuauflage kommen würde, war Anfang 2007 völlig unklar. Inzwischen ist auch der Lissaboner Vertrag dank des irischen Referendums im Juni 2008 – zumindest vorerst – auf Eis gelegt. Die Zukunftsgruppe ist die unsichere Wette auf die Einführung eines schnelleren Verfahrens gar nicht erst eingegangen, sondern setzte statt dessen auf einen längeren Vorlauf und eine breitere Vorabstimmung unter den Mitgliedstaaten.

Migrationsmanagement und Grenzüberwachung

Wie nicht anders zu erwarten war, hat die "offene Diskussion" nicht dazu geführt, dass die ad personam an ihr beteiligten europäischen Staatsleute die Entwicklung des EU-Staatsgebildes und seiner repressiven Institutionen seit den 90er Jahren in Frage gestellt hätten. Die Arbeiten auf der Großbaustelle sollen weiter vorangetrieben werden. Die SicherheitsarchitektInnen der Zukunftsgruppe setzen dabei erneut auf die Verstärkung und Erhöhung der ohnehin schon massigen Außenmauern des europäischen Hauses. Schon bei ihrem ersten Treffen waren sie sich einig, dass "Außengrenzkontrollen ... ein Herzstück der inneren Sicherheit Europas und eine Voraussetzung für jegliche legale Migration" seien.[5]

Hinsichtlich der Migrations- und Asylpolitik im engeren Sinne wiederholt und bekräftigt die Zukunftsgruppe im Wesentlichen die bereits im Haager Programm formulierten Ziele:

  • Im Asylbereich fordert sie nicht nur, die Standards der Aufnahme in den Mitgliedstaaten weiter zu vereinheitlichen, sondern propagiert erneut "regionale Schutzprogramme", anders ausgedrückt: die Ver-Lager-ung des Flüchtlingselends vor die Tore der Union – eine Strategie, die sich jedoch nur verwirklichen lässt, wenn die anvisierten Drittstaaten dabei mitmachen.[6]
  • In der Migrationspolitik propagiert sie einen "ganzheitlichen Ansatz": Sie will einerseits eine gesteuerte, "nützliche" Einwanderung, die sich strikt an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausrichtet, und andererseits eine konsequente Bekämpfung der "illegalen Migration". Legalisierungen von Sans-papiers in großem Stil wie in Spanien im Jahre 2005 soll es definitiv nicht mehr geben. Ausbauen will die Zukunftsgruppe dagegen die "zirkuläre Migration", d.h. die von vorneherein befristete Einwanderung. Dafür will man "Mobilitätspartnerschaften" mit Drittstaaten eingehen, die als Gegengeschäft "bei der Bekämpfung illegaler Zuwanderung und der Durchführung effizienter Rückführungen enger mit der Europäischen Union zusammenarbeiten."

Die Migrationsaußenpolitik soll in den kommenden Jahren einen deutlich höheren Stellenwert erhalten. Um die "illegale Migration an ihren Wurzeln zu bekämpfen", empfiehlt die Zukunftsgruppe nicht etwa, die Ausbeutung des Trikont zu beenden oder zumindest zu bremsen. Sie fordert vielmehr "nachdrücklich, eine politische Strategie für Drittstaaten zu entwickeln" – und zwar "mit Blick auf die Probleme des Grenzschutzes". Die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt der EU-Migrations- und Asylpolitik. Die Zukunftsgruppe orientiert sich an diesem Punkt durchgehend an dem von der Kommission im Februar 2008 vorgelegten "Grenzpaket",[7] dessen Inhalte sie unter dem Titel "Modernisierung des Schengen-Ansatzes in Grenz- und Visumsangelegenheiten" wiederholt: Das ist zum einen das "E-Border-Konzept", d.h. der Ausbau der biometrischen Kontrollsysteme an den Außengrenzen, die das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) und das Visa-Informationssystem (VIS) ergänzen werden: Geplant ist erstens ein Ein- und Ausreisekontrollsystem für alle Drittstaatsangehörigen. Visumspflichtige Personen, die häufiger in die EU kommen, sollen zweitens die Möglichkeit erhalten, sich vorab überprüfen und registrieren zu lassen. Für nicht-visumspflichtige Drittstaatsangehörige soll es drittens ein Reiseerlaubnissystem und für EU-BürgerInnen schließlich eine automatisierte Grenzkontrolle geben.

Das zweite Großprojekt der Kommission, das die Zukunftsgruppe "in Betracht ziehen" will, ist das Grenzüberwachungssystem (Eurosur). Seine ersten Elemente, nämlich die nationalen Koordinationszentren des Europäischen Patrouillennetzes im Mittelmeer und Südatlantik, sind bereits in Betrieb. Im Jahre 2013 soll Eurosur fertig gestellt sein. Die EU-Grenzschutzagentur (Frontex) wird darin eine zentrale Rolle spielen.

Völlig unstrittig war für die Mitglieder der Zukunftsgruppe, dass Frontex in den kommenden Jahren weiter zu stärken sei. Fraglich war nur, wie schnell sich die Agentur zu einem EU-Grenzschutzkorps mausern sollte. Geeinigt hat man sich auf ein "schrittweises Vorgehen". Die lange Liste dieser "Schritte" würde die Bedeutung der Agentur im Verhältnis zu den nationalen Grenzpolizeien der EU-Staaten erheblich aufwerten – und zwar sowohl rechtlich als auch praktisch.

So soll Frontex

  • nicht nur Einsätze an den Außengrenzen und "Sammelrückführungen" (gemeinsame Abschiebeflüge) koordinieren, sondern auch die Kompetenz haben, solche Aktionen einzuleiten und zu organisieren;
  • über eine eigene Ausrüstung verfügen können, statt wie bisher bloß ein Register der Materialien zu führen, die bei den Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten vorrätig sind;
  • die Tätigkeit der Grenzpolizeien regelmäßig evaluieren – eine Aufgabe, die bisher eine Arbeitsgruppe des Rates wahrnahm;
  • "regionale und/oder spezialisierte Außenstellen" einrichten und
  • sich "stärker in die Unterstützung und den Aufbau von Grenzschutzbehörden in Drittstaaten" einbringen und gegebenenfalls auch die Rolle von "Dokumentenberatern" einnehmen, die bisher von den Mitgliedstaaten entsandt wurden.

"Out of Area" will die Zukunftsgruppe aber nicht nur Frontex-Leute und zur Agentur abgeordnete GrenzpolizistInnen der EU-Länder stationieren, sondern auch "ständige operative Gruppen" von "Zuwanderungspersonal", um diese Drittstaaten "in Visumsangelegenheiten zu beraten und mögliche Zuwanderer anzuwerben."

Von der Verfügbarkeit zur Konvergenz

Ihre beiden bisherigen Fünfjahrespläne hat die EU jeweils genutzt, um mehr oder minder feierlich neue Prinzipien zu verkünden, die hinfort insbesondere die Zusammenarbeit im Bereich Strafrecht und Polizei bestimmen sollten. In Tampere proklamierte sie den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen, aus dem insbesondere der EU-Haftbefehl resultierte. Im Haager Programm folgte das Prinzip der Verfügbarkeit: Die EU wollte nun nicht mehr (nur) zentrale Informationssysteme aufbauen, sondern dafür sorgen, dass die Polizeien der Mitgliedstaaten gegenseitig auf ihre nationalen Datenbanken zugreifen könnten. Der Vertrag von Prüm – 2005 von sieben EU-Staaten unterzeichnet – bzw. seine Überführung in einen Ratsbeschluss brachte den Einstieg in diesen "Binnenmarkt für Polizeiinformationen", der nun für DNA-Profile, Fingerabdrücke sowie Kfz- und Kfz-Halterdaten realisiert wird bzw. teilweise schon ist. Um die Umsetzung des Grundsatzes weiterzutreiben, schlägt die Zukunftsgruppe nun vor, eine "Top Ten"-Liste von Datenkategorien zusammenzustellen, auf die der gegenseitige automatische Zugriff in den kommenden Jahren auszudehnen wäre.

Die Prinzipien der beiden vorangegangenen Programme sind bisher zwar nur zu einem Teil verwirklicht; dennoch erkor die Zukunftsgruppe ein Leitmotiv für den kommenden Fünfjahresplan: Die Jahre 2010-2014 sollen unter dem Motto der "Konvergenz" stehen: "Ziel dieser Idee ist es, die Mitgliedstaaten einander nicht nur über Mittel der Standardisierung, wenn nötig, sondern auch über operative Mittel näher zu bringen. Gemeinsame Ausbildungsprogramme, Austauschnetzwerke, Solidaritätsmechanismen, die Zusammenlegung bestimmter Ausrüstungsgegenstände, einfachere Verfahren der Zusammenarbeit und natürlich Informationsaustausch sind entscheidende Wege, um wahre operative Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen."

Aus dem Binnenmarkt für Polizeidaten soll nun also einer des polizeilichen Handelns werden. Dass dieser Grundsatz den nächsten Fünfjahresplan bestimmen wird, ist seit der Tagung der Innen- und Justizminister im Juli 2008 beschlossene Sache. Ende Oktober 2008 verabschiedete der Rat "Schlussfolgerungen zum Konvergenzprinzip".[8] Nun sollen die großen Worte auf einzelne Arbeitsziele heruntergebrochen werden.

Wohin die Reise geht, zeigt am ehesten ein vom französischen Innenministerium erstelltes Konzeptpapier zur polizeilichen Zusammenarbeit, dessen Forderungen die Zukunftsgruppe weitgehend übernahm.[9] Danach sollen sich die Polizeien der Mitgliedstaaten zum einen durch gemeinsame Aus- und Fortbildung annähern: Dieses Feld beackert seit 2001 die Europäische Polizeiakademie (CEPOL), die keine feste Ausbildungsstätte, sondern ein Netzwerk der Polizeiakademien der EU ist. Seit 2004 verfügt sie über ein Sekretariat bei der britischen Polizeihochschule in Bramshill, seit 2006 hat sie den Status einer EU-Agentur, den sie auch weiter behalten soll. Eine zentralistische Lösung lehnen die Mitglieder der Zukunftsgruppe ab. Schon bisher erarbeitet CEPOL gemeinsame Curricula, die zum einen von den angeschlossenen Polizeiausbildungsstätten und zum anderen in den 70-80 Kursen jährlich genutzt werden, die CEPOL selbst organisiert. Sowohl diese Seminare als auch das seit 2007 betriebene Austauschprogramm richten sich an höhere PolizeibeamtInnen. Nach den französischen Vorstellungen soll CEPOL seine Arbeiten jetzt systematisieren und sich verstärkt an die mittleren Kader der EU-Polizeien wenden.

Das neue Prinzip der Konvergenz bringt für die operative Kooperation einen ähnlichen Perspektivenwechsel wie zuvor der Verfügbarkeitsgrundsatz für den Datenaustausch. In dem Konzeptpapier des französischen Innenministeriums stehen bezeichnenderweise nicht die zentralen Institutionen wie Europol und Eurojust an erster Stelle, sondern Formen der Zusammenarbeit, die im Zusammenhang mit "Schengen und seinen Ausdehnungen" entstanden, insbesondere die Polizei- und Zollkooperationszentren an den Binnengrenzen. Das gemeinsame Kommissariat an der deutsch-französischen Grenze in Kehl/Strasbourg war eine der ersten Einrichtungen dieser Art. Mittlerweile gibt es sie an fast allen Schengener Binnengrenzen. Neben dem unmittelbaren fallbezogenen Informationsaustausch koordinieren sie eine Serie von gemeinsamen Handlungsformen – Streifen auf den Straßen und in Zügen auf beiden Seiten der Grenze und damit verbundene Kontrollaktionen (Schleierfahndung), gemischte Observationsgruppen u.ä.m.

Rechtlich beruht diese Kooperation bisher auf bi- oder multilateralen Abkommen, zu denen das Schengener Durchführungsübereinkommen (Art. 39 Abs. 5 ) die Mitgliedstaaten animierte. Einige dieser Abkommen räumen den Polizeien der beteiligten Staaten darüber hinaus die Möglichkeit ein, unter bestimmten Bedingungen selbständig exekutive Befugnisse auf der jeweils anderen Seite der Grenze wahrzunehmen. Der Vertrag von Prüm ist diesem Konzept gefolgt, der darauf aufbauende Ratsbeschluss jedoch nicht.

Die Zukunftsgruppe will nun die Arbeit dieser Zentren evaluieren – ein Prozess, der bereits im Gange ist[10] – und in den Acquis der EU-Polizeikooperation übernehmen. Sie sollen zum "Modell für die künftige polizeiliche Zusammenarbeit werden." Geht es nach dem französischen Konzept, dann wird auch die grenzüberschreitende Wahrnehmung exekutiver Befugnisse wieder auf die Tagesordnung der EU gesetzt.

Die zweite Form der direkten Kooperation, auf die das französische Papier und im Anschluss daran der Bericht der Zukunftsgruppe Bezug nehmen, sind die gemeinsamen Ermittlungsgruppen. Rechtliche Grundlage für diese Teams ist zum einen das EU-Rechtshilfeabkommen aus dem Jahr 2000. Weil die Mitgliedstaaten für dessen Ratifizierung sehr lange brauchten, verabschiedete der Rat im Jahre 2002 einen Rahmenbeschluss, in dem die Einrichtung dieser Gruppen vorgezogen wurde. Ebenfalls aus diesem Jahr stammen ein Zusatzprotokoll zur Europol-Konvention sowie der Eurojust-Beschluss, die den beiden zentralen Institutionen eine Teilnahme an gemeinsamen Ermittlungsteams ermöglichten. Praktisch wirksam wurden diese Regelungen erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts: 2005 gab es gerade einmal drei solcher Teams, Ende 2007 waren es 35. Hinzu kamen zwei ständige sowie mehrere "Ermittlungsgruppen Light".[11]

Die Zukunftsgruppe empfiehlt nun eine Vereinfachung der Rechtsgrundlagen, insbesondere hinsichtlich der Beteiligung von BeamtInnen eines Staates an Ermittlungshandlungen auf dem Territorium eines andern. Eine solche Vereinfachung will die Zukunftsgruppe auch in Fällen, in denen die Einrichtung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe nicht möglich oder nicht sinnvoll ist und es sich bei den Handlungen auf dem Gebiet eines Nachbarstaates nicht um Zwangsmaßnahmen handelt.

Europol und die Polizeien, SitCen und die Geheimdienste

Europol taucht im Bericht der Zukunftsgruppe erst an dritter Stelle auf. Die Stärkung des Amtes solle das "Umfeld der polizeilichen Zusammenarbeit" verbessern. Europol solle "auf europäischer Ebene enger Partner und europäischer Fokus für nationale Polizeien sein". Die Formulierungen erinnern stark an entsprechende Floskeln aus der Vergangenheit – etwa aus dem Haager Programm. Sie zeigen an, dass die Kooperation zwischen dem wachsenden zentralistischen Apparat in Den Haag und den nationalen Polizeien nicht so funktioniert, wie sich das die InnenpolitikerInnen der EU wünschen. Eine Verbesserung erwarten sie sich nun von der Umwandlung der Europol-Konvention in einen Ratsbeschluss. Auf dessen Text haben sich die MinisterInnen Ende Oktober 2008 geeinigt, in Kraft treten soll er mit allen neuen Ausführungsbestimmungen Anfang 2010. Europol wird dadurch zu einer aus dem Haushalt der EU finanzierten Agentur. Zugleich wird der Zuständigkeitsbereich erneut ausgedehnt: Hinweise auf Aktivitäten krimineller Organisationen sind nicht mehr erforderlich. Zudem soll das Amt die Polizeien der Mitgliedstaaten durch seine Analysen und Erkenntnisse auch bei größeren internationalen Veranstaltungen – sprich: Demonstrationen und Sportereignissen – unterstützen.

Das eigentliche Problem des Amtes, der mangelnde Informationsfluss von den nationalen Polizeien, ist ein Dilemma jeder zentralistischen Organisation, das auch mit dem neuen "flexiblen" rechtlichen Rahmen nicht automatisch gelöst ist. Während das französische Konzeptpapier immerhin noch festhält, dass die Weiterleitung von Daten an Europol für die nationalen Stellen einen zusätzlichen Aufwand darstellt, begnügt sich der Bericht der Zukunftsgruppe mit einer kryptischen Formulierung: Europol müsse "seine Fähigkeit weiterentwickeln, Informationen an die Polizeien der Mitgliedstaaten zu verbreiten. Zu diesem Zweck muss gewährleistet sein, dass Informationen an Europol übermittelt ... werden." Das Amt soll nun von der Umsetzung des so genannten schwedischen Rahmenbeschlusses[12] "über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden" profitieren, der die nationalen Polizeien dazu zwingt, einander auf Anfragen innerhalb kurzer Fristen zu antworten. Wenn dafür wie vorgesehen automatische Übermittlungswege geschaffen werden, soll Europol ebenso automatisch Kopien erhalten.

In der Terrorismusbekämpfung will die Zukunftsgruppe aber nicht nur einen verbesserten Informationsaustausch zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, sondern auch zwischen den Geheimdiensten. Während der Austausch zwischen den Polizeien immer selbstverständlicher werde, bleibe der zwischen den Diensten eine "große Herausforderung", weil hier eben nicht das Prinzip der Verfügbarkeit gelte, sondern das der "Vertraulichkeit". Um "Synergien zwischen Polizei und Nachrichtendiensten zu nutzen", schlägt die Zukunftsgruppe vor, "Terrorismus-Abwehrzentren" nach deutschem Vorbild aufzubauen und diese zu vernetzen.

Nachdenken solle man auch über eine "zukünftige institutionelle Architektur" auf EU-Ebene. Dass Europol und das zur außenpolitisch-militärischen Zweiten Säule gehörende geheimdienstliche Lagezentrum (SitCen) enger zusammenarbeiten sollen, erscheint im Bericht der Zukunftsgruppe fast als Selbstverständlichkeit. Die kläglichen Reste des deutschen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten sind für die Gruppe gar kein Thema mehr.

Nutznießer des "Digitalen Tsunami"

Seit dem Seebeben in Südasien, das Ende 2004 Hunderttausende Menschenleben gekostet hat, weiß man auch in Europa, was ein Tsunami ist. Die Mitglieder der Zukunftsgruppe haben jedoch keine Scheu, diesen Begriff im übertragenen Sinne zu nutzen. Der "digitale Tsunami" ist in ihren Augen keine bloße Katastrophe, sondern eine "Herausforderung" für die "Behörden der öffentlichen Sicherheit". Portugal entwickelte dazu in einem Konzeptpapier[13] eine ganz besondere Argumentation: Die wachsende Nutzung digitaler Technologien vergrößere auch die Masse von Informationen, die die besagten Behörden in ihrer täglichen Arbeit nutzen könnten. Bewegungen und Aktivitäten von Menschen ließen sich immer häufiger in Echtzeit verfolgen, weil sie immer mehr Datenspuren legten – durch ihr Online-Verhalten, bei ihren digitalen Transaktionen vom Zahlungs- bis hin zum öffentlichen Nahverkehr, durch die Nutzung technischer Objekte etc. Neue Technologien wie Funkchips (RFID), Videoüberwachung und Biometrie, so das portugiesische Innenministerium, würden diese Gefahren für die Privatsphäre weiter steigern. Zu deren Schutz brauche es deshalb "privacy enhancing technologies". Diese kämen jedoch nicht nur den ordentlichen BürgerInnen zugute, sondern "paradoxerweise" auch "Terroristen und anderen Kriminellen". Die automatische Anonymisierung würde auch deren Spuren verwischen. "Wir stehen vor der komplexen Herausforderung, hohe Schutzstandards für die gewöhnlichen Bürger aufrecht zu erhalten und gleichzeitig einen fairen Gebrauch effektiver Instrumente gegen Kriminelle und damit den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu erlauben."

Dass die AutorInnen dieses Papiers just die Möglichkeit der Ortung von Mobiltelefonen als "offensichtliche Illustration" für die Gefahr nennen, die von digitalen Spuren ausgeht, macht die ganze schöne Argumentation zu einem Treppenwitz. Denn gerade mit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von Telekom-Verbindungsdaten haben der Rat und das Europäische Parlament bewiesen, dass ihnen die "Schutzstandards für die gewöhnlichen Bürger" im Zweifelsfalle egal sind.

Der Rest des Papiers und daran anknüpfend der Bericht der Zukunftsgruppe ist deshalb ein konsequenter Aufruf zu einer sicherheitstechnischen Offensive, bei der die Mitgliedstaaten den "Aufbau konvergenter Plattformen vorantreiben" müssten. Ihre Polizeien sollen neue technische Instrumente gemeinsam nutzen und gegenseitig evaluieren. Eine gemeinsam benutzte Werkzeugkiste (tool box) sei überdies kostengünstiger. Nutzen will man auch die Ergebnisse des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU, bei dem Informations- und Sicherheitstechniken im Vordergrund stehen, und das 2007 auf Betreiben der Kommission gegründete "Europäische Forum für Sicherheitsforschung und Innovation" (ESRIF), an dem auch die Rüstungsindustrie beteiligt ist. Dass sich die Zukunftsgruppe auch mit dem Einsatz von unbemannten Überwachungsflugzeugen, so genannten Drohnen, befasste, zeigt, dass sie keine Scheu vor militärischer Technologie hat.[14]

Alles fließt: Militär und Polizei, Außen und Innen

Die Ausdifferenzierung des Gewaltmonopols in einen nach außen gerichteten militärischen und einen inneren polizeilichen Teil gehörte – zumindest in Friedenszeiten – zu den zentralen Errungenschaften bürgerlicher Verfassungsstaaten. Seit der Anti-Terrorismus die politische Agenda bestimmt, finden die EU und ihre Mitgliedstaaten wachsenden Gefallen daran, dieses bürgerlich-demokratische Erbe über Bord zu werfen. Die Zukunftsgruppe favorisiert nicht nur die Entwicklung und Nutzung von hybriden Sicherheitstechnologien sowie die Einbindung des zur außen- und militärpolitischen Säule gehörenden geheimdienstlichen Lagezentrums in die "innere" Sicherheit. Sie erhebt vielmehr die "Verwischung" (im englischen Original: "blurriness") von Militär und Polizei, von Innen- und Außenpolitik zu einem zentralen Programmpunkt.

Mit dieser Verwischung begründet die Gruppe zum einen die Forderung nach einer stärkeren Einbindung der innenpolitischen Gremien des Rates in die Außen- und Militärpolitik.[15] Bei Auslandsmissionen sollen Militär und Polizei gleichberechtigt in gemeinsamen Einsatzlagezentren zusammenarbeiten. Für "besondere Gefahrensituation" möchte die Zukunftsgruppe "gemeinsame robuste Polizeikräfte" und will deshalb die Überführung der European Gendarmerie Force in den Rechtsrahmen der EU prüfen lassen. Diese aus "Polizeien mit militärischem Status" zusammengesetzte Truppe stützt sich bisher nur auf einen Vertrag der beteiligten EU-Staaten (Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal und Spanien). Ferner soll Europol mit den "bei Auslandseinsätzen erworbenen Sicherheitsinformationen" versorgt werden.

Umgekehrt will die Zukunftsgruppe die "externe Dimension der Innenpolitik" systematischer "umsetzen". Im Visier hat die Gruppe dabei nicht nur die beitrittswilligen Nachbarstaaten, die als Vorbedingung den gesamten Schengen-Besitzstand übernehmen müssen, und die Herkunfts- und Transitstaaten von MigrantInnen, denen sie "Mobilitätspartnerschaften" aufzwingen möchte. "Besondere Partnerschaften" will sie mit Russland, die nicht weiter konkretisiert wird, und den USA.[16] In der Periode des nächsten innenpolitischen Fünfjahresplans solle die EU "eine Entscheidung über das politische Ziel treffen, im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen gemeinsamen euro-atlantischen Raum der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu schaffen", in dem dann noch "mehr relevante Informationen" als bisher schon ausgetauscht werden könnten. Damit das klappt, braucht es den legitimatorischen Glanz einer "verbindlichen Vereinbarung über Datenschutz".

Vision und Albtraum

Die Zukunftsgruppe hatte versprochen, eine "reelle Vision" europäischer Innenpolitik zu entwickeln. Wie nicht anders zu erwarten war, hat sie nur die bestehende Agenda des EU-Staatsaufbaus fortgeschrieben: Sie will die Außengrenzen weiter zementieren. Sie will nicht nur Hindernisse beim polizeilichen Informationsaustausch beseitigen, sondern auch bei der operativen Zusammenarbeit über die Binnengrenzen hinweg. Sie will Europol weiter ausbauen – ungeachtet der praktischen Schwierigkeiten, die sich selbst unter immanenten polizeilichen Kriterien auftun. Die Aufhebung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten, die Vermischung von Polizei und Militär, stellt für die offene Debatte der europäischen Exekutiven kein Problem dar. Und der Datenschutz gerät ihnen vollends zur Legitimationsformel für den Ausbau staatlicher Überwachung. Weiter im Text, lautet die Parole.

Dabei hat es die innenpolitischen SicherheitsarchitektInnen offensichtlich nicht gestört, dass das Soll der vorhergehenden Fünfjahrespläne noch nicht erfüllt ist. Die Eröffnung immer neuer Teilbaustellen, die Deklaration neuer "ehrgeiziger" Ziele, hat System. Sie gewährleistet, dass sich die EU in der vorgegebenen Richtung weiter entwickelt. Die Revidierbarkeit politischer Entscheidungen, ein zentraler Anspruch liberaler Demokratie, ist in der EU nicht vorgesehen. Hier gilt das Prinzip der Wahrung und des Ausbaus eines von der Exekutive formulierten Besitzstandes, an das sich auch das Parlament sklavisch hält – so es überhaupt ein Mitspracherecht hat.

Für diejenigen, die es mit Menschenrechten und Demokratie ernst meinen, für die kleinen Bürgerrechtsorganisationen und die Netzwerke der sozialen Bewegungen, bieten der Bericht der Zukunftsgruppe und die Planungen für das neue Programm der EU-Innenpolitik nur zwei Vorteile: die Chance für eine öffentliche Debatte und den Anlass dafür, von links unten eine andere europäische Vision zu entwerfen.

Anmerkungen

[1] siehe unter Future Group auf www.bmi.bund.de
[2] Future Group: Freiheit, Sicherheit, Privatheit – Europäische Innenpolitik in einer offenen Welt, Juni 2008, s. unter www.bmi.bund.de oder als Ratsdok. 11657/08 v. 9.7.2008; soweit nicht anders vermerkt, stammen die Zitate im Folgenden aus diesem Bericht.
[3] http://ec.europa.eu/yourvoice/ipm/forms/dispatch?form=JLSFuture&lang=de
[4] KOM(2008) 373 endg. v. 2.7.2008
[5] First Meeting of the Future Group, Eltville, 20 and 21 May 2007, Report, p. 8 (siehe www.bmi.bund.de)
[6] s. bereits die Mitteilung der Kommission von 2005, KOM(2005) 388 endg. v. 1.9.2005
[7] s. Busch, H.: Megalomanie in Brüssel, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (1/2008), S. 18-25
[8] Ratsdok. 14069/08 v. 13.10.2008
[9] Future Group: Police Cooperation – French Contribution, 28.3.2008, www.bmi.bund.de    
[10] s. die Leitlinien für bewährte Verfahren, Ratsdok. 13815/08 v. 3.10.2008
[11] Ratsdok. 5526/08 v. 22.1.2008
[12] Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. EU) L 386 v. 29.12.2006
[13] Future Group, Portugal: Public Security, privacy and technology in Europe – moving forward, Vorlage zum 4. Treffen der Future Group am 17./18.12.2007, www.bmi.bund.de
[14] vgl. Future Group: Police cooperation a.a.O. (Fn. 9), p. 22
[15] siehe den Beitrag von Mark Holzberger in diesem Heft, S. 42-52
[16] siehe den Beitrag von Martin Beck in diesem Heft, S. 55-60

Bibliographische Angaben

Busch, Heiner; Stolle, Peer: Leuchtende Zukunft. Nächste Runde beim Aufbau des EU-Staats, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 91 (3/2008), S. 4-18