Die Ruhe vor dem Sturm

Thesen des marx21-Netzwerks zu Krise und Protest

in (05.05.2009)

Thesen des marx21-Netzwerks zu Krise und Protest

1. Die Krise gewinnt schnell an Tiefe.
Prognosen sagen für 2009 einen Einbruch der deutschen Wirtschaft um 6 Prozent voraus. Damit wäre der bisher stärkste Einbruch nach dem Krieg von 0,9 Prozent im Jahre 1975 weit übertroffen. Die Folgen werden auf allen Ebenen verheerend sein: Die Zahl der Arbeitslosen wird diesen Herbst vermutlich auf 4 Millionen steigen, 2010 werden 5 Millionen Arbeitslose erwartet. Hartz IV stellt sicher, dass Millionen Menschen innerhalb von 18 Monaten auf 351 Euro Stütze + Miete für „angemessenen Wohnraum" durchgereicht werden.

Die Staatsfinanzen klappen zusammen - bis 2013 werden Steuereinbrüche von 200 Milliarden Euro erwartet. Dazu droht wegen durch die Krise fallenden Brutto-Lohn- und Gehaltssummen eine Rentenkürzung von 2 Prozent. Kurzum: Das Land rutscht mit rasenden Geschwindigkeit in die tiefste wirtschaftliche und soziale Krise seit dem Krieg. DGB-Chefs Michael Sommers Warnung vor „sozialen Unruhen" hat eine reale Grundlage.

2. Nach der Bundestagswahl droht die Agenda 2020.
In der allgemeinen Wahrnehmung gibt die Regierung, statt zu nehmen: Abwrackprämie, Rentenerhöhung, Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergelds. Das in noch viel größeren Maße den Banken gegeben wird, finden viele zwar ungerecht, aber als großer Umverteiler wird die Regierung nicht gesehen. Auch ideologisch stellen sich die Parteien im Superwahljahr nicht auf einer neoliberalen Linie auf - die CDU führt die „soziale Marktwirtschaft" gegen „den Kapitalismus" ins Feld, die SPD positioniert sich mit Reichensteuer etc. ebenfalls links. Das ist ein großer Unterschied zu insolventen Ländern wie Ungarn und Estland, wo die Regierungen die Auflagen für die IWF-Kredite direkt über 30 Prozent-Kürzungen an die Bevölkerung weitergeben wollten und durch spontane Bewegungen aus dem Amt gefegt wurden. Das ist ein auch ein wesentlicher Unterschied zur Situation 2003 nach der Verkündung der Agenda 2010. Die Agenda 2010 war ein Angriff der Regierung auf die breite Bevölkerung.

Die nächste Regierung wird versuchen, dass in den Banken versenkte Geld wiederzuholen und die Steuerausfälle zu kompensieren - die Schuldenbremse weist in diese Richtung. Die SPD macht sich sogar für eine Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz stark. Das heißt jede denkbare Regierungskonstellation setzt auf einen Sparkurs. Das zweite Halbjahr 2009 und 2010 werden absehbar Jahre großer Auseinandersetzungen.

3. Deutschland ist nicht Frankreich aber: Das Potential für Massenproteste ist da.
Obwohl Deutschland von der Krise wesentlich härter getroffen wird als zum Beispiel Frankreich, ist die Lage auf der Straße offensichtlich ruhiger - der SPIEGEL nennt Deutschland „schwer entflammbar". Das hat jedoch nichts damit zu tun, das die Stimmung in Deutschland fundamental anders ist, als in anderen Lländern. Laut einer emnid-Umfrage haben 72 Prozent der Deutschen Angst vor der Krise, 79% haben Verständnis für Protest, 32 Prozent sagen, sie würden sich angesichts der Krise selbst an Protesten beteiligen. Das ist ein Protestpotential von 15 -20 Millionen Menschen.

Gleichzeitig sagen laut einer neuen Umfrage 68 Prozent der Deutschen, dass sie von der Krise noch nichts spüren. Jetzt schon direkt betroffen sind die massenhaft entlassenen Leiharbeiter, die Belegschaften auf Kurzarbeit, die Belegschaften in der Metallindustrie, deren fällige Lohnerhöhung jetzt ausgesetzt wird, und natürlich die Belegschaften der in Insolvenz befindlichen Betriebe. Insgesamt laufen die Angriffe im Wesentlichen auf betrieblicher Ebene und nicht auf politischer Ebene durch die Regierung.

3. Der Kampf gegen Arbeitsplatzabbau wird zur zentralen politischen Auseinandersetzung in diesem Jahr.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwartet, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland bis Ende 2010 auf „nahezu 12 Prozent" ansteigt. Woolworth Deutschland hat Insolvenz beantragt. Den 11.000 Mitarbeitern in 323 Filialen droht das gleiche wie ihren britischen Kollegen zu Beginn des Jahres. Dort entließ das Management 27.000 Menschen. Auch andere Betriebe sind betroffen. Opel und Schaeffler stehen vor der Insolvenz. Die Traditionsmarken Hertie und Märklin haben ebenfalls bereits Insolvenz angemeldet. Hertie kündigte an, 19 von noch 73 deutschen Filialen zu schließen und 650 von derzeit 3400 Mitarbeitern zu entlassen. Der Softwarekonzern SAP plant, 3000 von insgesamt 51.500 Stellen zu streichen. Auch in einer der erfolgreichsten Sektionen des Maschinenbaus, bei den Druckmaschinenherstellern, sind die fetten Jahre vorbei. Der Marktführer Heidelberger Druckmaschinen hat Ende November die Streichung von zusammen 2500 Arbeitsplätzen in den Produktionsstätten Wiesloch und Heidelberg, der Gießerei in Amstetten und den kleineren Montagewerken in Brandenburg, Kiel und Leipzig angekündigt.

In fast allen dieser Betriebe sind die Belegschaften in den vergangenen Wochen auf die Straße gegangen. Ein erfolgreicher Kampf gegen eine Betriebsschließung hätte einen ermutigenden Symbolcharakter - deshalb ist die Solidarität mit den kämpfenden Belegschaften das Gebot der Stunde.

5. Um die Arbeitsplätze zu retten ist ein Bruch mit der Marktlogik mittels Verstaatlichungen notwendig - und eine Radikalisierung der Kampfmittel bis hin zu Betriebsbesetzungen.
Die Rückkehr des Staates ist die zentrale politische Entwicklung in der Krise - und eine Herausforderung für die LINKE. Die Staatsdebatte hat einen widersprüchlichen Charakter: Die Staatsintervention der Bundesregierung ist darauf angelegt, die Verluste der Banken zu sozialisieren und ist deshalb abzulehnen. Auch richtig ist, das staatlich geführten Unternehmen genauso ausbeuterisch geführt werden können, wie Privatunternehmen auch, wenn sie auf dieselben Renditeerwartungen festgelegt werden. Dennoch ist die Verstaatlichung von von Schließung bedrohten Firmen die richtige Forderung. Nur der Staat verfügt in der gegenwärtigen Krise über die Mittel, um den Zusammenbruch moderner Produktionsanlagen und damit Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Diese Anlagen und das Know-how der Arbeiter sind keineswegs überflüssig - man könnte mit ihnen moderne, gesellschaftlich nutzbringende Produkte herstellen. Das erfordert eine gesellschaftliche Debatte um Ziele von Produktion und entsprechende Planung, kurz - eine demokratisch kontrollierte, statt eine nur von den Interessen weniger organisierte Wirtschaft. Der Kampf um Verstaatlichung ist eine Brücke - notwendig in den Auseinandersetzungen von heute zeichnet dieser Kampf auch die Konturen der Gesellschaft von morgen.

Die Lösung der Verstaatlichung ist den jetzt oft anvisierten marktfähigen Lösungen überlegen, wie zum Beispiel bei Opel angestrebt werden. Hier sucht die Geschäftsleitung unterstützt vom Gesamtbetriebsrat einen Investor - und bietet Lohnverzicht der Belegschaft als Gegenleistung an. Das ist eine Spirale nach unten - die Überkapazitäten im Automobilmarkt betragen rund 40 Prozent, ein Umstand der bedeutet das auch größter Verzicht die Profitkrise der Autofirmen nicht löst. Ohne eine grundlegende Neukonzipierung der Produktion im Transportsektor wird es hier keine Lösung geben - und die erfordert den öffentlichen Zugriff auf die Branche. Natürlich wird das Kapital nicht ohne Druck seiner Enteignung zuschauen, sondern alles versuchen, um die Belegschaften zu vereinzeln und im Insolvenzfall die Filetstückchen vom Produktivkapital zu verhökern. Um dies zu verhindern haben Arbeiter in Ländern wie Frankreich die Aktionsform der Betriebsbesetzung wiederentdeckt - als Mittel, die Belegschaften zusammenzuhalten, als Arena der Diskussion der Kollegen untereinander, als Verteidigungsmaßnahme gegen Demontage. Solche Kampfmittel gehören auch in Deutschland in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Taktik.

6. Die LINKE muss zum Katalysator des Widerstands gegen die Krise werden, um stärker zu werden.
„Rot stellt sich tot" - so und ähnlich haben Kommentatoren den scheinbar widersprüchlichen Umstand kommentiert, dass die LINKE immer vor dem Marktradikalismus gewarnt hat, jetzt aber durch dessen Krise nicht stärker wird. Darauf sagen führende Köpfe der LINKEN wie Dietmar Bartsch: Die LINKE wird stärker, wenn die Krise bei den Menschen angekommen ist. Doch dieser Automatismus besteht nicht. Verelendung macht niemanden plötzlich zum aufgeklärten und linken Menschen - Verzweiflung und Wut muss nicht in eine progressive Richtung gehen. Die Menschen können genau so gut frustriert zuhause bleiben oder, schlimmer noch, den antikapitalistisch auftretenden Nazis Gehör schenken.

Passives Abwarten auf den kommenden eigenen politischen Aufschwung wird die LINKE nicht stärken. Damit eine Radikalisierung nach links geht muss ein weiteres Element dazu kommen - der erfolgreiche solidarische Kampfes gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Die WASG und später die LINKE sind nicht einfach aus der Agenda 2010 entstanden, sondern aus dem massenhaften Widerstand dagegen, der Menschen politisch zusammengeführt hat. Die in diesen Kämpfen entstehende Solidarität kann die LINKE stärken. Die LINKE kann und muss diese Kämpfe nicht aus dem Nichts erschaffen - sie laufen schon, in zahllosen Betrieben und auf der Straße, wie zum Beispiel bei der vom DGB organisierten Großdemo am 16. Mai. Doch die LINKE hat eine Verantwortung, alles in ihren Kräften stehende zu tun, den Kämpfenden zu helfen - auf der Ebene der praktischen Solidarität, auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung um den erfolgversprechendsten Weg vorwärts im Kampf, auf der Ebene der politischen Artikulierung in und außerhalb des Parlaments von dem, was Millionen Menschen denken - nämlich das die Profiteure zur Kasse gebeten werden müssen und die Krise nicht von der Bevölkerung bezahlt werden soll. Der Bundestagswahlkampf 2009 bietet eine gute Voraussetzung dafür, mit dieser Botschaft wahrgenommen zu werden.

Jetzt das neue Heft bestellen!

marx21 Heft 10 hat den Schwerpunkt "Kampf um jeden Arbeitsplatz. Gegenwehr, Mitarbeiterbeteiligung, Verstaatlichung - Strategien gegen die Jobkrise." In dieser Ausgabe unter anderem:

  • Interview mit dem ehemaligen Opel-Betriebsrat Wolfgang Schaumberg zur Frage: "Ist Opel noch zu retten?"
  • Elmar Altvater mit Teil 7 seiner Serie "Marx neu entdecken"
  • Neue Serie: 20 Jahre Mauerfall 1989. In diesem Heft mit Statements von Julia Bonk, Gabriele Engelhardt, Barbara Fuchs, Nicole Gohlke, Gregor Gysi, Victor Neuss, Alexis J. Passadakis,  Sybille Stamm, Klaus Steinitz, Hans-Jochen Tschiche und Klaus Wolfram
  • Edeltraut Felfe meint, das Modell des schwedischen "Sozialstaates" taugt nicht als Vorbild
  • Klaus-Dieter Heiser über 60 Jahre Grundgesetz
  • Der Archäologe Neil Faulkner über die Varusschlacht