Thesen des marx21-Netzwerks zu Krise und Protest
Thesen des marx21-Netzwerks zu Krise und Protest
1. Die Krise gewinnt schnell an
Tiefe.
Prognosen sagen für 2009 einen
Einbruch der deutschen Wirtschaft um 6 Prozent voraus. Damit wäre
der bisher stärkste Einbruch nach dem Krieg von 0,9 Prozent im
Jahre 1975 weit übertroffen. Die Folgen werden auf allen Ebenen
verheerend sein: Die Zahl der Arbeitslosen wird diesen Herbst
vermutlich auf 4 Millionen steigen, 2010 werden 5 Millionen
Arbeitslose erwartet. Hartz IV stellt sicher, dass Millionen Menschen
innerhalb von 18 Monaten auf 351 Euro Stütze + Miete für
„angemessenen Wohnraum" durchgereicht werden.
Die Staatsfinanzen klappen zusammen -
bis 2013 werden Steuereinbrüche von 200 Milliarden Euro
erwartet. Dazu droht wegen durch die Krise fallenden Brutto-Lohn- und
Gehaltssummen eine Rentenkürzung von 2 Prozent. Kurzum: Das Land
rutscht mit rasenden Geschwindigkeit in die tiefste wirtschaftliche
und soziale Krise seit dem Krieg. DGB-Chefs Michael Sommers Warnung
vor „sozialen Unruhen" hat eine reale Grundlage.
2. Nach der Bundestagswahl droht die
Agenda 2020.
In der allgemeinen
Wahrnehmung gibt die Regierung, statt zu nehmen: Abwrackprämie,
Rentenerhöhung, Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergelds. Das in noch viel größeren Maße
den Banken gegeben wird, finden viele zwar ungerecht, aber als großer
Umverteiler wird die Regierung nicht gesehen. Auch ideologisch
stellen sich die Parteien im Superwahljahr nicht auf einer
neoliberalen Linie auf - die CDU führt die „soziale
Marktwirtschaft" gegen „den Kapitalismus" ins Feld, die SPD
positioniert sich mit Reichensteuer etc. ebenfalls links. Das ist ein großer Unterschied zu
insolventen Ländern wie Ungarn und Estland, wo die Regierungen
die Auflagen für die IWF-Kredite direkt über 30
Prozent-Kürzungen an die Bevölkerung weitergeben wollten
und durch spontane Bewegungen aus dem Amt gefegt wurden. Das ist ein
auch ein wesentlicher Unterschied zur Situation 2003 nach der
Verkündung der Agenda 2010. Die Agenda 2010 war ein Angriff der
Regierung auf die breite Bevölkerung.
Die nächste Regierung wird versuchen, dass in
den Banken versenkte Geld wiederzuholen und die Steuerausfälle
zu kompensieren - die Schuldenbremse weist in diese Richtung. Die
SPD macht sich sogar für eine Verankerung der Schuldenbremse im
Grundgesetz stark. Das heißt jede denkbare
Regierungskonstellation setzt auf einen Sparkurs. Das zweite Halbjahr
2009 und 2010 werden absehbar Jahre großer
Auseinandersetzungen.
3. Deutschland ist nicht Frankreich
aber: Das Potential für Massenproteste ist da.
Obwohl Deutschland von der Krise
wesentlich härter getroffen wird als zum Beispiel Frankreich,
ist die Lage auf der Straße offensichtlich ruhiger - der
SPIEGEL nennt Deutschland „schwer entflammbar". Das hat jedoch
nichts damit zu tun, das die Stimmung in Deutschland fundamental
anders ist, als in anderen Lländern. Laut einer emnid-Umfrage
haben 72 Prozent der Deutschen Angst vor der Krise, 79% haben
Verständnis für Protest, 32 Prozent sagen, sie würden
sich angesichts der Krise selbst an Protesten beteiligen. Das ist ein
Protestpotential von 15 -20 Millionen Menschen.
Gleichzeitig sagen laut einer neuen Umfrage 68
Prozent der Deutschen, dass sie von der Krise noch nichts spüren.
Jetzt schon direkt betroffen sind die massenhaft entlassenen
Leiharbeiter, die Belegschaften auf Kurzarbeit, die Belegschaften in
der Metallindustrie, deren fällige Lohnerhöhung jetzt
ausgesetzt wird, und natürlich die Belegschaften der in
Insolvenz befindlichen Betriebe. Insgesamt laufen die Angriffe im
Wesentlichen auf betrieblicher Ebene und nicht auf politischer Ebene
durch die Regierung.
3. Der Kampf gegen Arbeitsplatzabbau
wird zur zentralen politischen Auseinandersetzung in diesem Jahr.
Die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwartet, dass
die Arbeitslosenquote in Deutschland bis Ende 2010 auf „nahezu 12
Prozent" ansteigt. Woolworth Deutschland hat Insolvenz beantragt.
Den 11.000 Mitarbeitern in 323 Filialen droht das gleiche wie ihren
britischen Kollegen zu Beginn des Jahres. Dort entließ das
Management 27.000 Menschen. Auch andere Betriebe sind betroffen. Opel
und Schaeffler stehen vor der Insolvenz. Die Traditionsmarken Hertie
und Märklin haben ebenfalls bereits Insolvenz angemeldet. Hertie
kündigte an, 19 von noch 73 deutschen Filialen zu schließen
und 650 von derzeit 3400 Mitarbeitern zu entlassen. Der
Softwarekonzern SAP plant, 3000 von insgesamt 51.500 Stellen zu
streichen. Auch in einer der erfolgreichsten Sektionen des
Maschinenbaus, bei den Druckmaschinenherstellern, sind die fetten
Jahre vorbei. Der Marktführer Heidelberger Druckmaschinen hat
Ende November die Streichung von zusammen 2500 Arbeitsplätzen in
den Produktionsstätten Wiesloch und Heidelberg, der Gießerei
in Amstetten und den kleineren Montagewerken in Brandenburg, Kiel und
Leipzig angekündigt.
In fast allen dieser Betriebe sind die
Belegschaften in den vergangenen Wochen auf die Straße
gegangen. Ein erfolgreicher Kampf gegen eine Betriebsschließung
hätte einen ermutigenden Symbolcharakter - deshalb ist die
Solidarität mit den kämpfenden Belegschaften das Gebot der
Stunde.
5. Um die Arbeitsplätze zu retten ist ein
Bruch mit der Marktlogik mittels Verstaatlichungen notwendig - und
eine Radikalisierung der Kampfmittel bis hin zu Betriebsbesetzungen.
Die Rückkehr des
Staates ist die zentrale politische Entwicklung in der Krise - und
eine Herausforderung für die LINKE. Die Staatsdebatte hat einen
widersprüchlichen Charakter: Die Staatsintervention der
Bundesregierung ist darauf angelegt, die Verluste der Banken zu
sozialisieren und ist deshalb abzulehnen. Auch richtig ist, das
staatlich geführten Unternehmen genauso ausbeuterisch geführt
werden können, wie Privatunternehmen auch, wenn sie auf
dieselben Renditeerwartungen festgelegt werden.
Dennoch ist die
Verstaatlichung von von Schließung bedrohten Firmen die
richtige Forderung. Nur der Staat verfügt in der gegenwärtigen
Krise über die Mittel, um den Zusammenbruch moderner
Produktionsanlagen und damit Massenarbeitslosigkeit zu verhindern.
Diese Anlagen und das Know-how der Arbeiter sind keineswegs
überflüssig - man könnte mit ihnen moderne,
gesellschaftlich nutzbringende Produkte herstellen. Das erfordert
eine gesellschaftliche Debatte um Ziele von Produktion und
entsprechende Planung, kurz - eine demokratisch kontrollierte,
statt eine nur von den Interessen weniger organisierte Wirtschaft.
Der Kampf um Verstaatlichung ist eine Brücke - notwendig in
den Auseinandersetzungen von heute zeichnet dieser Kampf auch die
Konturen der Gesellschaft von morgen.
Die Lösung der
Verstaatlichung ist den jetzt oft anvisierten marktfähigen
Lösungen überlegen, wie zum Beispiel bei Opel angestrebt
werden. Hier sucht die Geschäftsleitung unterstützt vom
Gesamtbetriebsrat einen Investor - und bietet Lohnverzicht der
Belegschaft als Gegenleistung an. Das ist eine Spirale nach unten -
die Überkapazitäten im Automobilmarkt betragen rund 40
Prozent, ein Umstand der bedeutet das auch größter
Verzicht die Profitkrise der Autofirmen nicht löst. Ohne eine
grundlegende Neukonzipierung der Produktion im Transportsektor wird
es hier keine Lösung geben - und die erfordert den
öffentlichen Zugriff auf die Branche. Natürlich wird das
Kapital nicht ohne Druck seiner Enteignung zuschauen, sondern alles
versuchen, um die Belegschaften zu vereinzeln und im Insolvenzfall
die Filetstückchen vom Produktivkapital zu verhökern. Um
dies zu verhindern haben Arbeiter in Ländern wie Frankreich die
Aktionsform der Betriebsbesetzung wiederentdeckt - als Mittel, die
Belegschaften zusammenzuhalten, als Arena der Diskussion der Kollegen
untereinander, als Verteidigungsmaßnahme gegen Demontage.
Solche Kampfmittel gehören auch in Deutschland in den
Mittelpunkt gewerkschaftlicher Taktik.
6. Die LINKE muss zum Katalysator des Widerstands
gegen die Krise werden, um stärker zu werden.
„Rot stellt sich tot" - so und
ähnlich haben Kommentatoren den scheinbar widersprüchlichen
Umstand kommentiert, dass die LINKE immer vor dem Marktradikalismus
gewarnt hat, jetzt aber durch dessen Krise nicht stärker wird.
Darauf sagen führende Köpfe
der LINKEN wie Dietmar Bartsch: Die LINKE wird stärker, wenn die
Krise bei den Menschen angekommen ist. Doch dieser Automatismus
besteht nicht. Verelendung macht niemanden plötzlich zum
aufgeklärten und linken Menschen - Verzweiflung und Wut muss
nicht in eine progressive Richtung gehen. Die Menschen können
genau so gut frustriert zuhause bleiben oder, schlimmer noch, den
antikapitalistisch auftretenden Nazis Gehör schenken.
Passives Abwarten auf den kommenden
eigenen politischen Aufschwung wird die LINKE nicht stärken.
Damit eine Radikalisierung nach links geht muss ein weiteres Element
dazu kommen - der erfolgreiche solidarische Kampfes gegen
Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Die WASG und später die LINKE
sind nicht einfach aus der Agenda 2010 entstanden, sondern aus dem
massenhaften Widerstand dagegen, der Menschen politisch
zusammengeführt hat. Die in diesen Kämpfen entstehende
Solidarität kann die LINKE stärken. Die LINKE kann und muss diese Kämpfe
nicht aus dem Nichts erschaffen - sie laufen schon, in zahllosen
Betrieben und auf der Straße, wie zum Beispiel bei der vom DGB
organisierten Großdemo am 16. Mai. Doch die LINKE hat eine
Verantwortung, alles in ihren Kräften stehende zu tun, den
Kämpfenden zu helfen - auf der Ebene der praktischen
Solidarität, auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung um
den erfolgversprechendsten Weg vorwärts im Kampf, auf der Ebene
der politischen Artikulierung in und außerhalb des Parlaments
von dem, was Millionen Menschen denken - nämlich das die
Profiteure zur Kasse gebeten werden müssen und die Krise nicht
von der Bevölkerung bezahlt werden soll. Der Bundestagswahlkampf
2009 bietet eine gute Voraussetzung dafür, mit dieser Botschaft
wahrgenommen zu werden.
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