Sloterdijks Weg vom Zynismus-Kritiker zum Herrschaftszyniker

Der 1947 geborene Peter Sloterdijk erfreut sich einer Anerkennung, die lebende Vertreter seiner Profession nur selten erreichen. Als Gastgeber der ZDF-Talkshow Philosophisches Quartett ist der Professor für Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe derzeit Deutschlands bekanntester Fernsehphilosoph. Für sein Buch Weltinnenraum des Kapitals haben ihn die Financial Times Deutschland und der Schweizer Referatedienst getAbstract 2005 auf der Frankfurter Buchmesse mit ihrem gemeinsamen Wirtschaftsbuchpreis in der Kategorie »Zukunft des Kapitalismus« ausgezeichnet. Seine zeitdiagnostischen Beiträge werden im Feuilleton fast einhellig gefeiert. Wie kann man sich diesen Aufstieg erklären?

Sloterdijks Durchbruch als Verfasser philosophischer Bücher kann auf das friedensbewegte Jahr 1983 datiert werden. Damals bescherte der an Bloch und Adorno geschulte Autor dem Frankfurter Suhrkamp Verlag mit seinem zweibändigen Buch Kritik der zynischen Vernunft einen regelrechten Bestseller. Der brillant formulierte Text stellt ein Thema in den Mittelpunkt, das damals in aller Munde war: die Angst vor einem die Menschheit vernichtenden Atomkrieg zwischen der Nato und den Staaten des Warschauer Vertrags. Zu einer Zeit, als die Friedensbewegung gegen die atomare Nato-Nachrüstung in der BRD auf die Straße ging, wandte sich Sloterdijk gegen eine intellektuelle Haltung, die sich unter der Fahne des Realismus mit der jederzeit möglich scheinenden Menschheitsvernichtung arrangiert zu haben schien: »Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen.« (1983, 950)

Karl Heinz Götze hat die Attraktivität Sloterdijks u.a. darauf zurückgeführt, »dass er einem Phänomen, das viele kennen und wenige wahrhaben wollen, seinen Charakter öffentlich auf den Kopf zusagt« (1983, 823). Gegen den zynischen Fatalismus postulierte Sloterdijk ein »mutiges Denken«, dass sich von der drohenden nuklearen Katastrophe nicht einschüchtern lassen dürfe.

Preisgabe praktischen Eingreifens

Schon damals lassen sich jedoch Ansatzpunkte identifizieren, an denen sich der Umschlag von der Zynismuskritik zum zynischen Umgang mit Texten und Ideen andeutet. Einer davon ist ein Anti-Marxismus, der den sowjetischen Gulag nach dem Muster der ›Nouveaux Philosophes‹ auf das »marxsche Wissen« zurückzuführen versucht. Dieses sei trotz mancher emanzipierender Aspekte in seinem Streben nach »Herrschaft über die Dinge« von vornherein »Herrschaftswissen« gewesen (1983, 185). Hierzu macht Sloterdijk sich Althussers These von einem »Bruch« zwischen dem frühen (humanistischen) und dem späten (historisch-materialistischen) Marx zu eigen, re-interpretiert ihn aber als einen zwischen einer »kynisch-offensiven, humanistischen, emanzipatorischen Reflexion und einer objektivistischen herrenzynischen

Refl exion« (187), einer »staatsmännischen« und »großtheoretischen« Seite, die die »linke«, »revoltische« Seite niederdrücke (190). Diese »Selbstverdinglichung« wird als eine Art exterminatorische Gewalt geschildert – in seiner Polemik gegen Stirner und Bakunin gehe Marx z.B. »über Leichen« (189) –, so dass der Leser nicht mehr verwundert ist, wenn Sloterdijk hier bereits die Moskauer Schauprozesse mit ihren falschen Geständnissen angelegt sieht (195f). In seinem Eifer, die Grenzen zwischen Polemik und physischer Vernichtung einzureißen, schreckt er auch nicht vor der vulgären Psychologisierung zurück, den Bruch bei Marx unmittelbar mit Althussers psychotischer Persönlichkeitsspaltung zu assoziieren und für den Mord an seiner Frau Hélène verantwortlich zu machen (186f), so dass er ihn als einen »Nachtrag zur Psychopathologie des Marxismus« allgemein deuten kann (197).

Als einzige philologische Belegstelle für die »zynische Tendenz« bei Marx zitiert Sloterdijk einen Satz aus einem Brief von Marx an Ruge aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern: »›... der Kommunismus hat andere sozialistische Lehren ... nicht zufällig gegen sich entstehen sehen, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.‹ (MEW 1, S. 344)« (1983, 197). Sloterdijk schlussfolgert, dass ein Wissen, das bewusste Einseitigkeit als Wahrheit ausgebe, von einem »ungeheuren Willen zur Macht zerfressen« sei und damit sein eigenes »Pathos der Erkenntnis« dementiere (ebd.). Freilich beruht dieser Versuch, den ›wirklichen‹ Marx mit Hilfe des nietzscheschen »Willen zur Macht« zu verstehen, auf einer sinnverkehrenden Zitatmanipulation. Denn der als »einseitig« bezeichnete Kommunismus ist im Originalzitat der »Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling etc. lehren«, d.h. eine »dogmatische Abstraktion«, von der Marx sich gerade abgrenzt, weil er es ablehnt, »dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen«. Stattdessen fordert er die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« (MEW 1, 344): »Wir treten dann nicht

der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« (345) Text und Interpretation stehen also in diametralem Gegensatz: Die »Einseitigkeit«, mit deren Hilfe Sloterdijk eine philosophische Gemeinsamkeit mit dem Faschismus zu belegen versucht (1983, 197), wird von Marx selbst als »Dogmatismus« abgelehnt, und zwar im Namen einer Kritik, die Sloterdijk soeben noch als »linke, revoltische, vitale, [...] ›kritizistische‹ Seite«, ja sogar als »letztlich ›weiblichen‹ Teil seiner Intelligenz« gerühmt hat (190).

Der Umschlag vom Zynismuskritiker zum »aufgeklärten« Herrschaftszynismus ist jedoch v.a. in der Theorieanordnung selbst angelegt. Im Namen eines Glücks hier und jetzt wird vorgeschlagen, »die kritische Sucht des Besserns auf[zu]lösen dem Guten zuliebe« (1983, 27). Angesichts der Bombe helfe nur noch »Entspannung«, die »Kultur des Nachgebens, des Nichtwiderstehens« (260). Was den Beifall der FAZ hervorruft, ist schon damals, dass er durch den Vorschlag des Nicht-Widerstehens der Kritik die Möglichkeit verwehrt, praktisch zu werden. »Der Faden wird so geführt, dass er die Kräfte der Gesellschaftsveränderung fesselt«, resümiert Götze (1983, 827). Aber eine Kritik, der die Möglichkeit des praktischen Eingreifens prinzipiell abgesprochen wird, muss in zynischer Aufklärung erstarren. Sie muss, um in Sloterdijks Sprache zu sprechen, »den Mut von sich abspalten« (1983, 950). Zwar zitiert er zu diesem Zeitpunkt noch die Autoren der Kritischen Theorie herbei, doch mit dem Effekt, ihnen den widerständigen Stachel zu ziehen. Den Sozialismus des Ostblocks sieht er als »Haupthemmung [...], die einem Übergang des Kapitalismus in ihn im Wege steht«, und zugleich habe der Westen, den Staatssozialismus vor Augen, »seine Zukunftsideen defensiv formulieren« müssen: »nämlich, keinesfalls diesen Sozialismus zu wollen« (453f).

Eine solche Einschätzung war auch bei vielen Linken weit verbreitet. Aber als der Staatssozialismus zusammenbrach, war bei Sloterdijk von einem alternativen Weg zum Sozialismus keine Rede mehr. Am Beispiel seines Weltinnenraums des Kapitals (2005) können wir exemplarisch beobachten, wie er seine Philosophie der Globalisierung systematisch gegen eine Kritik des Kapitalismus abschottet und keine Mühe scheut, jede denkbare systemüberschreitende Alternative der Lächerlichkeit preiszugeben.

Kapitalistischer »Weltinnenraum« als Ende der Geschichte

Der Vorwurf klingt zunächst absurd. Wurde das Buch nicht gerade als Beitrag zur Zukunft des Kapitalismus »jenseits einer gewissenlosen Profitmaximierung« und für das »Entdecken neuer Handlungsoptionen« ausgezeichnet?2 Liegt Sloterdijks Stärke nicht auch hier in der wachen Gegenwartsbezogenheit, mit der er die Philosophie aus dem Elfenbeinturm des Idealismus herausführt und als »Theorie der Gegenwart« und interdisziplinäre »Lagebesprechung« rekonstituiert? (2005, 11) Der gegenwartskritische Leser wird Sloterdijk sicherlich zustimmen, wenn er die selbstverschuldete Harmlosigkeit der akademischen Philosophie mit der von Hegel formulierten Aufgabe konfrontiert, ihre Zeit in Gedanken zu fassen (87f, 115f). Und er wird feststellen, dass Sloterdijks Darstellung keineswegs »unkritisch« ist, jedenfalls nicht im Sinne einer harmonisierenden, den Raubbau und die sozialen Exklusionen ausklammernden Apologie. So werden z.B. die kolonialistischen Brutalitäten der »terrestrischen Globalisierung «, die Sloterdijk für den Zeitraum von 1492 bis 1945 ansetzt, keinesfalls verschwiegen, sondern mitsamt des ihnen zugrunde liegenden Profittriebs offengelegt. Man wird sich wohl auch kaum dem Vergnügen verschließen können, wenn Sloterdijk die USA als »das Land des real existierenden Eskapismus« beschreibt, das durch die strikte Unterordnung der Affekte unter das Hochgefühl den »Habitus der erzwungenen kollektiven emotionalen Bilanzfälschung« hervorgebracht hat (368). Auch die »elektronische Globalisierung«, die er spätestens mit der Installierung einer elektronischen Atmosphäre und eines Satellitenenvironments im Erd-Orbit in den 1960er und 70er Jahren beginnen lässt, erscheint keineswegs in einem rosigen Licht.

Greifen wir zur Verdeutlichung der Anziehungskraft einige Passagen zur Kennzeichnung des kapitalistischen »Weltinnenraums« heraus. Statt den harmlosen, globale Inklusivität vortäuschenden Begriff des »Weltmarkts« zu verwenden, greift Sloterdijk auf Dostojewskis Schilderungen des »Kristallpalasts« (des Großgehäuses der Londoner Weltausstellung von 1851) zurück und beschreibt ihn als »menschenverzehrende Struktur«, in der die Menschen dem Kult des Geldes huldigen und das »Menschsein zu einer Frage der Kaufkraft« wird (26). Über die sozialen Ausschließungsmechanismen dieses kapitalistischen »Weltinnenraums« braucht man ihn nicht aufzuklären. Die Exklusivität ist »dem Projekt Kristallpalast als solchem inhärent«, es ist seinem Wesen nach ein »komfort animierter artifi zieller Kontinent im Weltmeer der Armut« (306), man könne sagen, »dass das Konzept der apartheid, nach seiner Aufhebung in Südafrika, kapitalismusweit generalisiert wurde« (303), wobei die wirksamsten Ausschlüsse nicht mehr solche nationalstaatlicher Grenzen sind, sondern »Wände aus Zugriffen auf Geldvermögen, die Habende und Nichthabende trennen, Mauern, die durch die äußerst asymmetrische Verteilung von Lebenschancen und Beschäftigungsoptionen hochgezogen werden« (303). Der kapitalistische Weltinnenraum umfasse »demographisch kaum ein Drittel der aktuellen Demnächst-Sieben-Milliarden-Menschheit und geographisch kaum ein Zehntel der Festlandflächen« (305), so dass die real existierende globalisierte Welt als »dynamische Installation« zu begreifen ist, »die der Menschheitsfraktion der Kaufkraftbesitzer als ›Lebenswelt‹-Hülle dient« (306).

Vor dem Hintergrund neoliberaler Heilsversprechen für alle wird der Leser geneigt sein, solche Schilderungen als ideologiekritischen Klartext zu lesen. Sloterdijk tritt als Anti-Illusionist par excellence auf. Zu erwarten, diese treibhausartige »Komfort-Installation« solle und könnte die ganze »Menschheit« beglücken, scheitere an der »systemischen Unmöglichkeit, eine Einbeziehung aller Mitglieder der Menschengattung in ein homogenes Wohlfahrtssystem zu den heutigen technischen, energiepolitischen und ökologischen Bedingungen materialiter zu organisieren« (303f). Schon im nächsten Satz wird das Argument gegen einen humanistischen Menschenrechtsdiskurs in Anschlag gebracht: »Die semantische und kostenlose Konstruktion der Menschheit als Kollektiv der Träger von Menschenrechten ist aus unübersteigbaren strukturellen Gründen nicht überführbar in die operative und teure Konstruktion der Menschheit als Kollektiv der Inhaber von Kaufkraft und Komfortchancen.« (304) Hier stößt der Kritiker Sloterdijk auf seinen Konkurrenten, nämlich auf eine (in Anführungszeichen gesetzte) »globalisierte ›Kritik‹«, die zwar die Maßstäbe zur Verurteilung von Elend, nicht aber die Mittel zu seiner Überwindung exportiere (ebd.). Die Perspektive einer »organischen Allianz zwischen den äußeren und den inneren Oppositionellen«, die er aus Negri/Hardts Empire herausliest, bezeichnet er als »Chimäre« (301).

Der Leser, der sich in Sloterdijks rücksichtsloser Erzählung ein Stück weit wiedergefunden hatte, wird hier vielleicht stutzen. Die Wucht der Polemik ist unversehens vor den Füßen der Gegner des Neoliberalismus gelandet, deren sog. »Kritik« pauschal als wohlfeiler (»kostenlos«) Moralismus oder Illusion bloßgestellt ist. Er reibt sich die Augen. Hat Sloterdijk die globalisierte Apartheid gerade kritisiert oder vielmehr gegen Kritik immunisiert? Nur bei aufmerksamem Nachlesen wird er auf eine Reihe von Signifikanten der Unveränderlichkeit stoßen, die den Umschlag des kritischen Gestus ins apologetische Gegenteil markieren: Die Ausdrücke »systemische Unmöglichkeit« und »unübersteigbare strukturelle Gründe« sind autoritative Verbotsworte, die von vorneherein und ohne Begründung die Möglichkeit ausschließen sollen, sich das angesprochene »System« als kapitalistische Formbestimmtheit und Machtverhältnis vorzustellen. Dies wird durch eine weitere Bestimmung undenkbar gemacht, die sie mit den »heutigen technischen, energiepolitischen und ökologischen Bedingungen« verknüpft. Aber warum soll die Überwindung der globalen Apartheid aus »technischen« Gründen unmöglich sein, wo es doch mittlerweile möglich wäre, die ganze Weltbevölkerung ausreichend zu ernähren? Und ist es nicht die unheilvolle Verbindung von profitgetriebener Umweltzerstörung und globaler Slum-Bildung, die die ökologische und energiepolitische Katastrophe vorantreibt, weshalb gerade auch diese Bedingungen eine Überwindung des globalisierten Kapitalismus notwendig machen würden? Der kategorische Ausschluss solcher Fragen lässt den Verdacht aufkommen, dass Sloterdijk die kapitalistische Apartheid nicht einfach diagnostiziert, sondern im Medium der Diagnose rechtfertigt und verordnet.

Die Passagen zeigen exemplarisch, wie Sloterdijk es bewerkstelligt, den globalisierten Kapitalismus, den er im Gestus radikaler Illusionslosigkeit vorstellt, zugleich zu einer Schicksalsmacht zu erhöhen, die gegen jede theoretische und praktische Kritik abgesichert ist. Wie er selbst erklärt, ist die philosophische »Lagebesprechung«, die er zunächst als Ausstieg aus dem philosophischen Elfenbeinturm eingeführt hat, »an die Stelle der Kritik getreten« (218). Dies hängt mit seiner Entscheidung zusammen, den kapitalistischen »Kristallpalast« als Endzeit zu bestimmen. Tatsächlich hat er sich Fukuyamas triumphalistischer Ideologie eines »Endes der Geschichte« angeschlossen: Nur die »terrestrische Globalisierung« verdiene es, in einem philosophisch relevanten Sinn »Geschichte« oder »Weltgeschichte« genannt zu werden, denn nur hier vollziehe sich die Geburt des Weltsystems, das Drama der Erschließung der Erde, und zwar im Modus erfolgreicher kolonial-imperialistischer »Einseitigkeit« (28, 246ff). Mit der elektronischen Globalisierung seien wir in die »Nachspielzeit« der Posthistoire eingetreten. Die geschichtemachende Potenz der europäischen Expansionsträger sei erloschen (258), an die Stelle der einseitigen Erstschläge, Ausfahrten, Übergriffe seien die »Rückkoppelungen« und »Nebenwirkungen« getreten: jetzt gebe es nur noch Weltnahme als »Selbstzurücknahme«, ein Netzwerk wechselseitiger Hemmungen, die jede einseitige Aggression ausschließe (23f, 258, 296). Geschichte werde zum Schnee von gestern (259), weil das Weltsystem sich nun als »Komplex von rotierenden und oszillierenden Bewegungen« stabilisiere,

»die sich aus eigenem Schwung erhalten« (217). Wer von Globalisierung spreche, könne daher »ebensogut vom ›Schicksal‹ reden« (218), und diesem könnten sich die Globalisierungskritiker ebenso wenig entziehen wie die Gegner der Erdrotation sich dagegen wehren könnten, »den täglichen Umlauf des Bodens unter ihren Füßen mitzumachen« (219).

Auch wenn Sloterdijk sich zuweilen von einem »einseitigen« Neoliberalismus abzusetzen versucht (284ff): Das von ihm verkündete Prinzip »There is no alternative« gehört zum banalsten Repertoire neoliberaler Herrschaftslegitimation. Die Schlaumeierei seiner »nach-geschichtlichen« Konstruktion ist nur möglich, weil er verdrängt hat, dass die einseitige »Welteroberung« im Stadium des globalisierten High-Tech-Kapitalismus keineswegs aufhörte, sondern sich vielmehr beschleunigte und intensivierte – z.B. als transnationale Durchdringung des Produzierens und Konsumierens, In-Wert-Setzung bislang nicht-kommodifizierter Bereiche, biokapitalistische Eroberung und Patentierung von pflanzlichen, tierischen und menschlichen DNS-Strukturen. Den Begriff der Geschichte auf einen spezifisch europäischen Modus kolonialistischer Eroberung festzulegen ist eine willkürlich Entscheidung. Das »Ende der Geschichte« soll vor allem der geschichtlichen Dialektik ein Ende bereiten. Konstruiert wird ein homogener »Innenraum«, aus dem jede Widerspruchsanalyse verbannt ist. Die Einwohner des »horizontalen Babylons« werden als gelangweilte, »mehrdimensional entlastete« und verwöhnte Nur-Konsumenten geschildert4, als gäbe es in den kapitalistischen Zentren keine Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, keine Überarbeitung einerseits und Massenarbeitslosigkeit andererseits, keine Klassen- und Geschlechterkämpfe. Die Ahnungslosigkeit dieser Endzeit-Philosophie zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die ökonomische Krise des Kapitalismus nicht einmal als Möglichkeit in Betracht kommt, geschweige denn als systemisch verankerte Irrationalität profitgetriebener Überakkumulation und gesellschaftlicher Nicht-Regulierbarkeit.

Parasitäre Arme und neues Proletariat der Tiere

Aus der ideologischen Anstrengung zur Naturalisierung und Homogenisierung des kapitalistischen Raums lässt sich auch die Obsession erklären, mit der Sloterdijk jegliche theoretische oder praktische Kapitalismuskritik mit Häme übergießt. So zeuge z.B. Benjamins Interpretation der Pariser Passagen vom »rachsüchtigen Glück des Melancholikers, der ein Archiv von Belegen für die Missratenheit der Welt zusammenträgt« (274). Komplementär zur Denunziation lässt er keine Gelegenheit aus, die Denunzierten diskursiv auszuweiden und die rhetorischen Versatzstücke – zur Karikatur entstellt – seiner Kristallpalast-Konstruktion einzuverleiben. So habe im kapitalistischen Weltinnenraum das Reich der Notwendigkeit dem »Reich der Freiheit Platz gemacht«, und es seien konservative »Partisanen der Notwendigkeit«, die gegen das »nach-nezessitäre« Freiheitsreich Sturm liefen (331f). Wenn Marx das herrschende Bürgertum als verschwenderische Klasse brandmarkte, verfehlte er nicht nur die Figur des working rich, sondern v.a. das neuartige Phänomen, »dass im modernen Wohlfahrts- und Umverteilungsstaat die Unproduktivität von der Spitze der Gesellschaft an die Basis umspringt«, nämlich auf die »parasitären Armen« (358f). Wir können hier exemplarisch beobachten, wie Sloterdijk herrschaftskritische Diskurselemente parasitär aufsaugt und in nietzscheanischer Schärfe gegen die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen zurückwendet. Der »kategorische Imperativ« des jungen Marx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen ist (MEW 1, 385), wird zum Imperativ eines elitären Klassismus, die Erniedrigten und Verlassenen zu denunzieren, um die Ausbeutungs- und Ausschließungsverhältnisse aufrechterhalten zu können.

Sloterdijk plädiert für eine »postliberale« Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung und gibt sich in diesem Sinne als Befürworter von »schwarz-grün« zu erkennen (262). Auch im Bezug auf die Ökologiebewegung stellt er sich v.a. die Aufgabe, kapitalismuskritische Impulse aufzuspüren und im Ansatz un-denkbar zu machen. Zu diesem Zweck muss er das Kunststück vollbringen, die rücksichtslose Naturausbeutung des Kapitalismus auf die Kapitalismuskritik zurückzuführen. Mithilfe von Gehlens Begriff der »Entlastung« will er zeigen, dass die Befreiung der Vielen von Ausbeutung nur möglich ist durch eine »Ausbeutungsverschiebung auf ein neues Unten«, nämlich die »großtechnisch in Regie genommene Ressourcen-Erde« (349f): Die Ausbeutung sei nunmehr auf das »neue Proletariat« der Nutztiere der industrialisierten Landwirtschaft übergegangen, deren Massenschlachtung die »Holocausten der Nationalsozialisten, der Bolschewiken und der Maoisten« weit in den Schatten stelle (360f).

Die Sprache überdreht sich bis zum inflationierten Holocaust-Vergleich, als wollte sie jeden Zweifel niederschreien. Es geht darum, den Lesern den »unzertrennbaren Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Tierqualen« einzuhämmern (361). Aber warum sollen gerade die Menschenrechte – nehmen wir z.B. die weltweit unerfüllten sozialen Rechte der UN-Charta auf Arbeit, Freizeit, Wohnung, Schulausbildung – mit Natur- und Tierschutz prinzipiell im Gegensatz stehen? Muss man Sloterdijk wirklich daran erinnern, dass die berüchtigten, von Max Weber, Bertolt Brecht und Upton Sinclair geschilderten Riesenschlachthöfe Chicagos zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aus linker Ausbeutungskritik hervorgingen, sondern mit ihren Fließbändern an der Decke die assembly lines des us-amerikanischen Fordismus antizipierten? (Vgl. z.B. Rifkin 1994, 80ff; Rehmann 1998, 24ff) Der historische Nexus zwischen Kapitalisierung der Landwirtschaft, Massentierhaltung und verschärfter Bauern- und Landarbeiterausbeutung ist ebenso verschwunden wie die erfolgreichen Bemühungen des Agrobusiness und der großen Lebensmittelketten, über zahllose Werbekampagnen einen verallgemeinerten Fast-Food-Habitus ›kulturindustriell‹ herzustellen. Die Erzählung ist so organisiert, dass die verschiedenen Bereiche und sozialen Bewegungen, die im Interesse eines ökologischen Umbaus dringend zusammengeführt werden müssten, in einem heillosen Gegensatz festgehalten werden.

Rechtsnietzscheanische Aktualisierungen

Das Weltinnenraum-Buch endet mit dem Versuch, die soziale Apartheid des globalen Kapitalismus mit dem Nachweis einer anthropologischen Verankerung der Ungleichheit abzustützen. Das Verfahren ähnelt dem des späten Nietzsche, dessen »Wille zur Macht« – konzipiert als ein »Überwältigen, Herrwerden« über weniger Mächtiges, ein Unterdrücken, Vergewaltigen und Ausbeuten7 – die Funktion hat, eine aristokratisch gefasste Herrschaftsmacht ins »Wesen des Lebens« überhaupt zu verlegen. Sloterdijk artikuliert diese Naturalisierung in neuer Sprache. Der »irdischen Linken« erteilt er eine Lektion über die »Spannkraft der Asymmetrie, die das Leben ist« (408). Ist nicht schon die Fortpflanzung ein asymmetrischer Vorgang (das Einwohnen des Babys im Uterus als einseitige Invasion) und die Kindererziehung von einer »Übermittlungsasymmetrie « gekennzeichnet? (408f) Sloterdijk vermeidet es, diese »Asymmetrien« in den übergreifenden Kooperationszusammenhang eines Generationenvertrags zu stellen, in dem die erwachsenen Kinder durch die Unterstützung ihrer alten Eltern – sei es direkt oder über den Wohlfahrtsstaat – die »Einseitigkeiten« wieder ausgleichen können. Die schwierige Frage, wie man in den Beziehungen zwischen Geschlechtern und Generationen eine tragfähige Reziprozitätsethik entwickeln kann, ist nicht die seine. Zu lernen sei vielmehr, dass ein »erfolgreich geführtes Leben« nicht möglich ist, »ohne immun, selbstpräferentiell, exklusiv, selektiv, asymmetrisch [...] zu sein« (413).

Wir können hier einen wichtigen Unterschied zum »Linksnietzscheanismus« beobachten, wie er z.B. von Deleuze, Foucault oder Vattimo entwickelt wurde. Dort wurde Nietzsches radikaler Aristokratismus mithilfe einer postmodernen »Hermeneutik der Unschuld« ausgeklammert. Stattdessen konzentrierte man sich auf die metaphysik- und ideologiekritischen Aspekte seiner Philosophie, auf die (von ihm vereinnahmten) spinozischen Elemente der Lebensbejahung sowie die Dekonstruktionen von Geschichte und Subjekt. Dagegen macht Sloterdijk sich über Nietzsches elitäre Herrschaftsorientierung keine Illusionen, sondern übernimmt sie kritiklos und affirmierend, wenn auch nicht ohne Anstrengungen zur Verschleierung. Man kann deshalb von einer rechtsnietzscheanischen Rezeption und Aktualisierung sprechen.

An zwei Beispielen ist nun zu beobachten, wie Sloterdijk seinen neo-nietzscheanischen Ansatz in Zorn und Zeit ausbaut, nämlich zum einen an seinem Konzept einer »Thymotisierung des Kapitalismus« (2006, 59), zum anderen in seiner Neuauflage der nietzscheschen Ressentimentkritik. Das Kunstwort »Thymotisierung« leitet er vom griechischen Wort »thymós« ab, das das »Organ« der großen Aufwallungen und den »Regungsherd des stolzen Selbst« bezeichnet (24). Als Prototyp behandelt er den »glücklichen Bellizismus« der Ilias und hier v.a. den »Zorn des Achilles« – eine heroische Kombination aus Stolz und Gewalt, die dem entspräche, was Nietzsche als »apollinisch« bezeichnete (12). Wie dieser verortet auch Sloterdijk die authentischmännlichen Herrentugenden in der vor-klassischen Antike und verfolgt von diesem aristokratischen Ursprungsmythos aus, wie sie in der athenischen Demokratie und v.a. durch die jüdisch-christliche Tradition zurückgedrängt, domestiziert bzw. ins Ressentiment abgedrängt werden. Der stolze Zorn selbst, vor seiner Umwandlung ins Rachegefühl, wird mit allen Insignien des Vital-Gesunden ausgezeichnet: Er sei v.a. ein Energieüberschuss, der nach konzentrierter Verausgabung strebe, und habe wegen solcher »Energieübertragung« einen »gebenden«, »generösen« Zug, der dem des Spenders ähnele (90). Fasziniert von solcher Freigebigkeit ist Sloterdijk offenbar der Auffassung, dass es nicht darauf ankäme, zwischen dem Verteilen von Gaben und von Schlägen zu unterscheiden. Unter Berufung auf Nietzsche will er auch die abgeschwächte moderne Spätfrucht des antiken thymos, den »Egoismus« rehabilitieren, der »in Wahrheit oft nur das Inkognito der besten menschlichen Möglichkeiten« darstelle (31).

Es ist klar, dass wir uns mit dieser Anthropologie auf der Gewinnerseite der Gesellschaft befinden. An die Eliten ergeht denn auch Sloterdijks Aufforderung, die kapitalistische Wirtschaft »thymotisch« zu reformieren. Die Frage lautet, wie die »Einführung des Stolzes in die kapitalistische Wirtschaft zu denken [wäre]« und wie ein »postaristokratische[r] Weg zur souveränen Verwendung des Reichtums« aussehen könnte (50f). Hierzu greift er auf Georges Bataille zurück, der in Nietzsches Schriften die Umrisse einer »Ökonomie des Stolzes« entziffert habe: In ihr setzten die Investoren ihre Mittel nicht zu Profi tzwecken ein, sondern »um ihren Stolz zu befriedigen und ihr Glück zu bezeugen«, und damit brächten sie »ihr Dasein selbst dem Glanze näher« (54f). Bataille hatte die Bedeutung der »freiwilligen Gabe« aus seiner Interpretation des Potlatsch gewonnen und die moderne Bourgeoisie dafür kritisiert, dass sie sich ihrer »Verpflichtung zur funktionellen Verausgabung« verweigerte. Sloterdijk sieht die Bedeutung dieser Anregungen darin, »den Kapitalismus zu spalten, um den radikalsten Gegensatz zu ihm – und den einzig fruchtbaren – aus ihm selbst zu schaffen, ganz anders, als die klassische, vom Miserabilismus überwältigte Linke es sich träumen ließ« (55).

Warum die Spendentätigkeit der Reichen den Kapitalismus »spalten« soll, bleibt freilich ein Rätsel. Statt eine Alternative zur Profitakkumulation darzustellen, hat sie diese zur Voraussetzung: ohne Microsoft keine Bill & Melinda Gates Foundation. Indem Sloterdijk den »thymotischen Gebrauch des Reichtums« v.a. im Spendenwesen der USA verortet (61), gibt er selbst zu erkennen, dass es ihm nicht um eine »transkapitalistische Ökonomie« (52), sondern um eine Privatisierung der Wohlfahrt nach us-amerikanischem Vorbild geht. Darüber, dass der Ausbau des us-amerikanischen Stiftungs- und Spendenwesens mit einer Schwächung wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung verbunden war, schweigt er sich aus. Aber was hat dies mit der geforderten »thymotischen« Einführung des Stolzes und der Ehre zu tun? Die ideologische Wirksamkeit des Stiftungs- und Wohltätigkeitssystems der USA gibt uns einen Hinweis. Tatsächlich lässt es sich hinsichtlich der von ihm erzeugten Abhängigkeitsverhältnisse mit dem Patronatswesen des antiken Roms vergleichen, bei dem der Patron durch seine »freien Gaben« bei den abhängigen Klienten die Verpflichtung zu Huldigung und Dankbarkeit hervorbringt. Obwohl das Patronat auf der Mehrprodukt-Aneignung der herrschenden Klasse basiert, errichtet es eine imaginäre Gegenordnung des Gebens von oben nach unten. Was bei den Subalternen die ideologische Unterstellung bewirkt, versammelt sich bei den Vornehmen als »Stolz« und »Ehre«.

Sloterdijk, der Nietzsche als den »anregendsten neo-thymotischen Psychologen der Moderne« betrachtet (46), benutzt ihn nicht nur als Ratgeber für die »Kunst der psychopolitischen Steuerung von Gemeinwesen« (36), sondern lässt sich von ihm auch die Parameter für die Ressentiment-Geschichte der Subalternen vorgeben. Während der Zorn sich auf der Gewinnerseite »freigebig« verausgaben durfte, wird er auf der Verliererseite beflissen angesammelt, aufgespart, akkumuliert und in utopischen Projekten sozialer Gerechtigkeit verausgabt. Das Buch ist über weite Strecken nicht mehr als eine Nacherzählung des großen nietzscheschen Ressentimentbogens vom »Zornprophetismus des Judentums« über die christliche »Zorntheologie« zur Französischen Revolution und ihren anarchistischen und sozialistischen Radikalisierungen. Die einzige Modifikation besteht in einer gewissen Entspannung gegenüber dem neuzeitlichen Christentum, das Nietzsche als Gegner überschätzt hätte. Ansonsten besteht Sloterdijks Zutat v.a. darin, die nietzschesche Entlarvung des Ressentiments im Hinblick auf den Sozialismus und Kommunismus des 20. Jahrhunderts weiterzuschreiben und auf den islamischen Terrorismus anzuwenden.

Hinzu kommt eine polit-ökonomische Sprachmodernisierung, die mit verballhornten Versatzstücken aus marxistischer Kritik angereichert ist: Im Alten Testament und insbesondere in der jüdischen Apokalypse komme es zu einer »ursprünglichen Akkumulation« des Zorns zum »Dauerressentiment« (127f), mit der Christianisierung des Gotteszorns werde eine »transzendente Bank zur Deponierung [...] zurückgestellter Racheprojekte« errichtet (154). Während die Rache eine »Projektform« des Zorns darstelle, fungiere die Revolution als ihre »Bankform«, in der sich der Übergang von der »Schatzform« in die »Kapitalform« vollziehe: Anders als bei der anarchistischen Verschleuderung rächerischer Energien würden die akkumulierten Zornwerte in Utopien, Revolutionspläne oder »konstruktive Politik« investiert (110, 211f). Mit der Kommunistischen Internationale entstehe die erste »Weltbank des Zorns« (221ff), die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht wiederbesetzt werden konnte (315). Es bleibe ein allgemeines »misanthropisches Plasma«, ein »Ekel am Sozialen«, der sich im Vandalismus der Pariser Banlieue Unruhen ablesen ließe und auch vom islamischen Terrorismus allenfalls in »Regionalbanken« aufgefangen werden könnte (328, 351). Im globalisierten Kapitalismus sei »keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut«, weshalb es jetzt darauf ankäme, die »Allianz von Intelligenz und Ressentiment zu delegitimieren« (354). Das Buch endet mit der Perspektive, die Tradition eines frühliberalen Besitzindividualismus vor der Französischen Revolution (Lockes »Grundrechte« auf Leben, Freiheit und Eigentum) mit Nietzsches »hygienischem« Programm einer Befreiung vom Ressentiment zu verbinden (ebd.). »Intendiert ist eine Meritokratie, die [...] eine antiautoritär entspannte Moral zum Ausgleich bringt mit ausgeprägtem Normbewusstsein.« (355)

Es ist ein zynischer Blick, der hier von oben auf die Bewegungen und Organisationen der Beherrschten geworfen wird. Schon Nietzsche hatte seinen Ressentimentbegriff so angelegt, dass er sich auf die verschiedensten Haltungen widerständiger oder ausharrender Handlungsfähigkeit von unten überhaupt ausdehnte. Nach dieser Vorlage führt auch Sloterdijk jedes Aufbegehren von unten, jede Hoffnung auf Erlösung, jeden Traum vom besseren Leben auf die Sublimierung von Hass und Rache zurück. Wenn er den Zornigen, der sich vorläufig zurückhält, für den ersten hält, »der weiß was es bedeutet, etwas vorzuhaben« (97), hat er die menschliche Antizipations- und Projektfähigkeit selbst ins zurückgestaute Ressentiment aufgelöst. Ein Engagement aus Lebensbejahung und Liebe ist für ihn von vorneherein undenkbar. Sobald er bei Engels, bei Rosa Luxemburg und anderen Revolutionären auf Haltungen einer »militanten Heiterkeit« stößt, muss er sie sofort zum bloßen Zorn-Mittel degradieren: Wenn die Heiterkeit ein Bündnis mit dem Aufruhr schließt, dann »um diesem sein Geschäft zu erleichtern« (175). Marx hatte wiederum eine »von Hass und Ressentiment geprägte Persönlichkeitsstruktur« und »Zorn genug, dass es für alle, die in seine Spuren treten wollten, reichen sollte« (205f). Nachdem Sloterdijk den Gerechtigkeitsbegriff aus der »jüdischen Zornschaftsbildung « abgeleitet hat (136), kann er schließen: »Wo der Neid das Gewand der sozialen Gerechtigkeit überstreift, kommt eine Lust an der Herabsetzung zum Zuge, die schon die Hälfte der Vernichtung ist.« (257)

Vernichtungsdramaturgie und historischer Revisionismus

Wie kommt Sloterdijk darauf, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit der Vernichtung zusammenzuschließen? Die Argumentation ist zirkulär und verweist auf eine unheimliche Logik, die schon eingesetzt hat, bevor die Horrorzahlen aus Stalins Kulakenverfolgung oder Maos Kulturrevolution abgerufen werden: Es gehört zur inneren Struktur der zynischen Konstruktion, dass das Rachegift, das sie den Idealen und Begriffen der Subalternen untergeschoben hat, auf der anderen

Seite wieder herauskommen muss – als Vernichtung, die per definitionem als die eigentliche Wahrheit der Revolution zu gelten hat (103f). Sie charakterisiert z.B. den Anarchismus (»Produkt aus Vernichtungslust und Dynamit«), der über diese Gleichsetzung als »Anarchofaschismus« denunziert wird (191f). Lenins Politik nach der Oktoberrevolution kennzeichnet Sloterdijk als intendierten Massenmord, ohne auf die Idee zu kommen, den »roten Terror« in seinem Wechselverhältnis zum »weißen Terror« der Konterrevolution zu untersuchen (226ff). Die Abrechnung, die selbst alle Züge eines Zornunternehmens aufweist, steigert sich schließlich zur Drohung gegen alle, die die Gesellschaft mithilfe eines klassenanalytischen Instrumentariums begreifen und verändern wollen: Wer nach Stalin und Mao weiter von Klassen spreche, mache eine »Aussage über die Täter- und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktuellen (Klassen-) Genozid« und treffe letztlich eine Aussage darüber, »wer wen unter welchem Vorwand auszulöschen berechtigt sein soll« (256).

Damit ist das Terrain vorbereitet, um den Kommunismus nicht nur mit dem Faschismus gleichzusetzen, sondern diesen aus jenem abzuleiten: »Lenins Direktiven vom Spätherbst 1917 an lösten die ersten faschistischen Initiativen des 20. Jahrhunderts aus. Ihnen gegenüber konnten Mussolini und dessen Klone sich nur noch epigonal verhalten.« (231) Gehen wir, um das Verfahren bloßzulegen, schrittweise vor. Man könnte den ersten Satz für sich genommen noch als verkürzte Beschreibung des Umstands verstehen, dass die faschistischen Bewegungen sich nach der Oktoberrevolution als militanter »Gegen-Bolschewismus« auf bürgerlicher Grundlage herausbildeten, und zwar im Doppelsinne: als Gegensatz, um den Bolschewismus (mitsamt der Sozialdemokratie) zu vernichten, und als ideologisches »Gegenstück«, um ihm zum Zwecke seiner Vernichtung wirksame Elemente – Insignien, Massenmobilisierung, »Partei neuen Typus« usw. – zu entwenden. In Sloterdijks Ausdrücken des »Auslösens« und dann v.a. der epigonalen Nachahmung ist der Gegensatz des Verhältnisses, den die Sowjetunion mit mehr als 20 Millionen Menschenleben bezahlen musste, bereits ausgelöscht. In einer Anmerkung grenzt er sich von Romain Rolland und Negri ab, die den Leninismus nur »dialektisch« als Provokationsherd des Faschismus identifiziert hätten, statt ihn als dessen Prototyp zu erkennen (231 A53). Um hier sicher zu gehen, baut er ein Spiegelverhältnis: Den Bolschewismus definiert er von vornherein als Faschismus (»linksfaschistisches Original leninscher Prägung«) und den Faschismus als Sozialismus: »Faschismus ist Sozialismus in einem Land« und »Sozialismus ohne Proletariat« (231).

Sloterdijk hat sich der von Ernst Nolte und anderen Vertretern des historischen Revisionismus der 1980er Jahre vertretenen Auffassung angeschlossen, wonach der Genozid des NS-Staats eine »Gegenausrottung« gewesen sei, die auf die bolschewistische Politik der Klassen-»Ausrottung« reagiert hätte. Auch Nolte, der sich v.a. auf die antibolschewistische Schreckensliteratur der »Weißen« im Bürgerkrieg stützte, verwandelte die Aussage »›Braun‹ reagiert auf ›Rot‹, um es zu vernichten«, in die völlig andere »›Braun‹ geht aus ›Rot‹ hervor, weshalb dieses für jenes verantwortlich ist«. Während Nolte im »Historikerstreit« heftig angegriffen wurde, weil seine Thesen gegen den bundesrepublikanischen Konsens verstießen, dem zufolge die Vernichtung der europäischen Juden nicht durch den Vergleich mit anderen Verbrechen in irgendeiner Form relativiert werden dürfe, wurde Sloterdijks Neuauflage dieser Geschichtsrevision weder im Wissenschaftsbetrieb noch im Feuilleton des vereinigten Deutschlands zum Skandal. Innerhalb der herrschenden Ideologie haben sich die geschichtspolitischen Koordinaten nach der Niederlage der sozialistischen Staatenwelt deutlich nach rechts verschoben.

Die Beispiele, die Sloterdijk zur Veranschaulichung anführt, stützen sich maßgeblich auf das bereits von Nolte ausgewertete Material und tragen zur Erforschung der im Namen des Sozialismus begangenen Verbrechen nichts bei. Die mit der »Endlösung « befassten SS-Männer hätten geglaubt, sich in einem »Brutalitätswettbewerb mit den sowjetischen Ausrottungstätern« zu befinden (2005, 105, Anm. 69). An die Stelle von Belegen treten Behauptungen über Beziehungen der folgenden Art: So hätten sich in Himmlers Posener Rede vom Oktober 1943 »über das Anständigbleiben deutscher SS-Truppen inmitten des von ihnen verübten Massenmordes« die »Notizen des jungen Lukács über die metahumanistische Pflicht des Revolutionärs zur verbrecherischen Gewaltausübung (1922) [gespiegelt]« (ebd. 104). Auch hier ist die Zusammenstellung willkürlich und grotesk irreführend. Wenn Sloterdijk sich schon auf die methodisch fragwürdige Ebene einer kontext-enthobenen Zitatmontage begeben will, wäre es einfacher und philologisch weniger aufwändig gewesen, Himmlers Rede mit Nietzsches Herrenmoral »jenseits von Gut und Böse« und einigen passenden Zitaten zur Extermination der Schwachen und Missratenen zu kombinieren. Und hat er nicht selbst erklärt, sein »Ideentrainer« Oswald Spengler hätte den bedenkenswerten Vorschlag gemacht, man bräuchte einen »Kulturarzt«, der die Aufgabe ernstnehme, »zwischen eher ›gesunden‹ und eher ›ungesunden‹ Kulturen« zu unterscheiden? (Sloterdijk/Heinrichs 2006, 228)

Sloterdijk offenbart eine atemberaubende Fähigkeit, die geschichtlichen Zusammenhänge in ihr Gegenteil zu verkehren. Während er führende Intellektuelle der ›Konservativen Revolution‹, die sich im unmittelbarsten Sinne als ideologische Wegbereiter des Faschismus betätigt haben, als Vordenker für heutige Weltprobleme zu rehabilitieren versucht14, beschuldigt er die westliche Linke nach 1945, sie spielte das Spiel des Antifaschismus, um von ihrer Mitschuld an den Verbrechen des Stalinismus abzulenken (2006, 259). Aber während die Linken im globalisierten Kapitalismus über keine zentrale »Zornbank« mehr verfügen, hat er für die Projektion der eigenen Hasspotenziale schon die neuen Feindbilder ausgemacht: die »negative Grundsuppe«, die der Vandalismus der Pariser Banlieue Unruhen an die Oberfläche gebracht hätte (329), die »von zornigen jungen Männern überbevölkerten Staaten des Nahen und Mittleren Orients und anderswo« (71), die von dort in unseren ›Weltinnenraum‹ eindringenden »versteinerten Gaststudenten«, die sich in den Vorstädten »den Sprengstoffgürtel um[schnallen]« (75), die »Sammlungsbewegungen der kampfbereiten Unzufriedenen und der energischen Überflüssigen« (68f). Sloterdijk gibt zu verstehen, dass man angesichts dieser Bedrohungen auf militärische Lösungen wohl nicht verzichten können wird: »Selbst Kenner der Lage besitzen heute nicht die geringste Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische youth bulge, die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen in der Geschichte der Menschheit, mit friedlichen Mitteln einzudämmen wäre.« (347)

Sloterdijk hat die pseudokritisch offengelegte soziale Apartheid des »Weltinnenraums « zu seinem eigenen Anliegen gemacht. Was Nietzsche als sozialen Träger der jüdisch-christlichen Ressentimentmoral ausgemacht hatte, nämlich eine internationale Tschandala in Gestalt »einer Gesamtbewegung der Ausschuss- und Abfalls-Elemente aller Art« (KSA 6, 231), findet der Nietzscheaner des 21. Jahrhunderts in der sozialen Basis des politischen Islams wieder: »ein aufgebrachtes Subproletariat [...], schlimmer: eine desperate Bewegung aus ökonomisch Überflüssigen und sozial Unverwendbaren« (2006, 347).

Ein neuer Think Tank

Sloterdijk hat in der Zeit seines Aufstiegs einen Weg nach weit rechts zurückgelegt. Dass er dabei die Belesenheit und das Geschick hatte, sich mit einer großen Bandbreite linker und alternativer Diskurselemente auszustatten, erschwert die Entzauberung noch heute. Auch wenn der ideologiekritische Gestus schon längst herrschaftszynisch umgepolt und gegen die subalternen Klassen, ihre Intellektuellen und Organisationen in Anschlag gebracht wurde, wirkt die Faszination noch fort. Selbst viele der Denunzierten fühlen sich nicht getroffen, weil sie sich in der forschen Sprache, mit der sie denunziert werden, wiedererkennen wollen. Die Lust des Autors an Provokation, Tabubruch und Skandal scheint auch dann noch denkerischen Mut und Radikalität zu signalisieren, wenn das Denken sich in der elitären Radikalisierung herrschender Ideologien erschöpft. Sloterdijks Leistung fürs Hegemonieprojekt der herrschenden Elite besteht in der aktualisierenden Zusammenführung eines wirtschaftsliberalen Besitzindividualismus mit Nietzsches heroischem Egoismus und autoritären Ansätzen der ›Konservativen Revolution‹.

Diese Syntheseleistung ist der intellektuelle Beitrag, den Sloterdijk in den im Frühjahr 2008 gegründeten Frankfurter Zukunftsrat einbringt. Initiiert wurde der Think Tank von Manfred Pohl, der von 1972 bis 2004 das Historische Institut der Deutschen Bank leitete. Der noch von Deutsche-Bank-Chef Hermann Josef Abs persönlich geförderte Unternehmenshistoriker gehört zu den wichtigsten organischen Intellektuellen des europäischen Großkapitals, der sich v.a. durch die Gründung von kapitalnahen Vereinen und Think Tanks einen Namen gemacht hat (vgl. Wagner 2007a). Der Frankfurter Zukunftsrat fordert u.a. die »Anpassung der Politik an den globalen Wettbewerb« und agitiert gegen »Verteilungsgerechtigkeit« und das »Recht auf Arbeit« (vgl. http://www.frankfurter-zukunftsrat.de/Anspruch/). Eine der jüngsten Initiativen zielt auf neo-bonapartistische Änderungen des Wahlrechts, die darauf gerichtet sind, die Linkspartei aus den Parlamenten wieder zu entfernen.

Literatur

Bataille, Georges, Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985

Dannemann, Rüdiger, Georg Lukács zur Einführung, Hamburg 1997

Götze, Karl Heinz, »Bombenstimmung. Zu Peter Sloterdijks ›Kritik der zynischen Vernunft‹«,

in: Das Argument 142, 25. Jg., 1983, 821-29

Haug, Wolfgang Fritz, Vom hilfl osen Faschismus zur Gnade der späten Geburt, Hamburg 1987

Losurdo, Domenico, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine

Mythen, Köln 2007

ders., Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, hgg.

v. J.Rehmann, Hamburg 2009

Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe, hgg. v. G.Colli u. M.Montinari, München 1980

(zit. KSA)

PIT = Projekt Ideologietheorie, Faschismus und Ideologie, 2 Bde., Berlin/W 1980; neu hgg. v.

K.Weber, Hamburg-Berlin 2007

Rehmann, Jan, Max Weber: Modernisierung als passive Revolution. Kontextstudien zu Politik,

Philosophie und Religion im Übergang zum Fordismus, Hamburg 1998

ders., Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion,

Hamburg 2004

Rifkin, Jeremy, Das Imperium der Rinder, Frankfurt/M-New York 1994

Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M 1983

ders., Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt/M 2005

ders., Zorn und Zeit, Frankfurt/M 2006

ders., »Revolution des Geistes«, Interview in der Süddeutschen Zeitung, 3.1.2009, http://www.

sueddeutsche.de/kultur/332/453028/text/

ders., u. Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, Frankfurt/M 2006

Wagner, Thomas, »Neoliberaler Strippenzieher«, in: junge Welt, 2.7.2007[a], Nr. 172, Thema

10/11

ders., »Herrschaftliches Liedgut«, in: junge Welt, 29.10.2007[b], Nr. 251, Thema 10/11