Anarchy in East-Germany

"Umweltblätter" und "telegraph" spielten für den gesellschaftlichen Wandel in der DDR eine große Rolle

Vor 20 Jahren gab es in der DDR einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Umbruch.

Die Massendemos und der Fall der Mauer 1989 leiteten das am 3. Oktober 1990 mit dem Anschluss an die BRD endgültig besiegelte Ende des SED-Staates ein.

Heute feiern die deutschen Eliten „20 Jahre friedliche Revolution 1989". Dabei wird die Geschichte des gewaltfreien Widerstands gegen die ostdeutsche Diktatur in den Medien oft verfälscht dargestellt. So waren sich die Ma­cherInnen einer im April 2009 ausgestrahlten ARD-Dokumentation über die Rolle der Kirchen in der DDR nicht zu schade, die Ost-Berliner Umweltbibliothek und die dort produzierten Umweltblätter als Teile des „kirchlichen Widerstands" darzustellen, oh­ne zu er­wähnen, dass sich diese Graswurzelprojekte als „anarchistisch verfasst" verstanden.

Der Geschichtsklitterung im Sinne der Herrschenden möchte ich hier ein Stück Geschichte von unten entgegensetzen. Zwar gab es in der DDR keine große anarchistische Bewegung. Basisdemokratische und libertäre Medien spielten aller­dings eine große Rolle beim Entstehen der gewaltfreien Massenbewegung, die schließ­lich das militaristisch-autoritäre SED-Regime auf den Misthaufen der Geschichte geschickt hat.

Anarchismus und libertäre Presse in der SBZ und in der DDR

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die wenigen Anar­chistInnen, die zwölf Jahre Nazi-Diktatur überlebt hatten, die anarchistische Bewegung, die in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zeitweise mehr als 150.000 Aktive zählte, zu reorganisieren. In der Sowjetisch Besetzten Zo­ne (SBZ, 1945-1949) hatten sie es aufgrund ihrer antiautoritären und anti-stalinistischen Positionen besonders schwer. Die Machthaber in der SBZ und späteren DDR (1949-1990) standen den freiheitlichen SozialistInnen feindselig gegenüber. Ganz im Sinne Lenins war Anarchismus für sie eine „kleinbürgerliche pseudo­revolutionä­re politische und ideologische Strömung, die jede staat­liche und politische Organisation prinzipiell ablehnt und objektiv der Spaltung der antiimpe­rialis­ti­schen Bewe­gung und den Interessen des Mono­polkapitals dient" (Kleines Politisches Wörterbuch, Ost-Berlin 1988). Aufgrund von Papiermangel und der Repression von SMAD (Sowjetische Militärad­ministration) und SED war es in der SBZ und späteren DDR nur möglich, Flugblätter und Rund­briefe in geringer Auflage zu produzieren und in Umlauf zu bringen. Der Zwickauer Agitator Willi Jelinek baute zusammen mit seinen FreundInnen ab 1945 eine „Informations-Stelle" für freiheitliche SozialistInnen in der SBZ auf und gab einige Rundschreiben heraus. Um die Reorganisation der libertären Bewegung voran zu treiben, veranstalteten die AnarchistIn­nen im November 1948 in Leip­zig eine Konferenz für alle libertären Gruppen in der SBZ. Alle TeilnehmerInnen, einschließlich Jelinek und eines zuvor eingeschleusten Spitzels, der die Konferenz mitplante, wurden verhaftet. Jelinek starb im März 1952 als Gefangener in Bautzen unter noch ungeklärten Umständen. "Vermutlich, wie die meisten verstorbenen Gefangenen in SBZ/DDR-Zuchthäusern, an Entkräftung", so der ehemalige Bautzener Häftling Hermann Furnes in einem Brief an den Anarchismusforscher Hans Jürgen Degen. Tatsächlich war es den etatis­tischen MarxistInnen gelungen, libert­ä­re Tenden­zen in der DDR weitgehend zurückzudrängen. Der publizistische Einfluss anar­chistischer Gruppen war bis Mitte der 1980er Jahre kaum wahrnehmbar. Ille­gale Flugblätter hatte es aber schon in den 1950er und 1960er Jahren gege­ben. Vor allem da, wo sich das Bildungsbürgertum Nischen schaffen konnte, gab es Ansätze einer ostdeutschen Subkultur. Auch die Mitte der 1960er Jahre in der Bundesre­publik entstandene außerparlamentarische Oppositionsbe­we­gung und die daraus entstandenen neo-anarchistischen Gruppen hatten Einfluss auf die Oppositionsbewegung in der DDR.

Seit den 1970er Jahren bekannten sich große Teile der DDR-Op­position zum Sozialismus, „freilich im Unterschied zum herrschen­den Regime, zu einem ‘wirklichen', nämlich demokratischen, räte­demokra­tischen oder anarchisti­schen", so der Umweltblätter-Redakteur Wolfgang Rüddenklau. Als klei­ner Teil der wenig strukturierten Opposition hatten die expli­zit radikaleren AnarchistIn­nen in den 1970er Jahren so gut wie keine Möglich­keiten, sich anders als konspirativ zu betätigen. Die Medien im „Realsozialismus" präsentierten den Menschen aus­schließlich die regierungsoffiziellen Ansichten und Verlautbarungen. Andere Infor­mationsquellen standen legal kaum zur Verfügung. Kopierer wurden in Be­hörden und Firmen streng bewacht und wa­ren nur einer parteitreuen Elite zu­gänglich. Die Voraussetzungen zur Schaffung von basisdemokratisch und anarchi­stisch be­ein­flussten Medien verbesserten sich erst Ende der 1970er Jahre. Um sich gegenüber der zunehmenden Krise von Wirtschafts- und Sozialpolitik innenpo­liti­sche Ruhe zu erkaufen, hatte Erich Ho­necker in Verhandlungen mit dem Bi­schof der Evan­geli­schen Kir­chen Ost-Berlins, Albrecht Schönherr, 1978 unter anderem eine in­ner­kirchliche Drucker­laubnis zugestanden, die aber auf in­ner­kirch­liche Veranstal­tungs­hinweise, Bekanntmachungen und ähnliches begrenzt war. Dieses Fenster in der repressiven Genehmi­gungspraxis für je­de Art be­druckten Papiers wurde von den oppositionellen Gruppen im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre wuchs im Schatten der evangelischen Kirche eine „von der SED völlig abgenabelte ernstzu­neh­mende Bürgerrechtsbewegung" heran. Ein Teil dieser Be­wegung radikalisierte sich und vertrat zu­nehmend offen anarchistische Positionen. So entstand z.B. in Dresden 1982 innerhalb der Kirche eine über zehn Jahre hinweg politisch ak­tive Gruppe, die bald unter dem Na­men Anarchistischer Ar­beits­kreis Wolfspelz in der gesamten DDR be­kannt wurde und durch die Beteiligung einer Druckerin der Sächsischen Zeitung heimlich - z.T. mit Auflagen über 20.000 - Flugblätter in Umlauf brachte und zu Aktionen mobilisierte. Andere AnarchistInnen verbreiteten in den 1980er Jahren auf Schreibma­schine (ab-)geschriebene und anschließend bis zur Unlesbarkeit auf Matrizen vervielfältigte Texte von Michail Bakunin, Emma Gold­man, Pjotr Kropotkin, Erich Mühsam, Gustav Landauer und anderen anarchistischen KlassikerIn­nen. 1986 entstanden die ersten libertär ausgerichteten DDR-Un­ter­grundblätter. Sie wurden, wie fast alle oppositionellen Pu­bli­kationen, un­ter dem relativen Schutz der evangelischen Kirche gedruckt und verbreitet.

Kopfsprung

Eine plakativ anarchistische Untergrundzeitschrift in der DDR war der bis 1991 erschienene Kopfsprung. Seine Entstehungsgeschichte begann auf dem DDR-Kirchen­tag 1986. Hier formierte sich als „Opposition zur (herrschenden) Kir­chenbürokratie" die Kirche von Unten(KVU), die sich weder als christliche Basis gegen „privi­legienüberladene Oberhirten", noch als „religiöse Re­formgrup­pe" ver­stand. Die eher atheistisch eingestellte Gruppe, die mehrheitlich aus Anar­chistIn­nen und Punks bestand, engagierte sich gegen die herrschenden Verhältnisse. Mit der Zeit entwickelte sich die KVU zu einer Gruppe mit eigenen Inhal­ten und begriff sich nicht mehr nur als reine Gegenbewegung. Es kam zur Aufspaltung in di­verse Gruppen, die sich mit un­terschiedlichen Themen beschäftig­ten. Die KVU brachte 1986 mindestens drei Aus­gaben des libertär aus­ge­richte­ten mOAning-STAR he­raus. Die erste Nummer des von einer anonymen Redaktion herausgebrachten Kopf­sprung erschien im Frühjahr 1987 in Ost-Berlin ohne Hinweise auf Er­schei­nungsjahr und -ort. Die einspaltig auf einer Schreib­ma­schine geschriebenen politi­schen Texte wurden eingebettet in ein spärliches, mit selbst­gemachten Zeichnun­gen und lyrischen Texten angereichertes Layout. 1986 gründete die linksliberale Initiative Frieden und Menschenrechte in Ost-Berlin den Grenz­fall, der als weitgehend un­zensiertes DDR-weites Op­positionsblatt fungierte. Im Ge­gen­satz zu den bald darauf gegründeten Umweltblättern ver­standen die HerausgeberIn­nen des Grenzfall ihr Projekt nicht als anarchistisch. Die anarchistisch verfassten Gruppen wie z. B. KVU, Anar­chisti­scher Arbeitskreis Wolfspelz und Um­welt-Bibliothek Ost-Berlin verfolgten andere Ziele. Sie glaubten, über die Er­wei­terung der Freiräume nach einer Re­form der DDR oder über die Zerset­zung der staatlichen Struktur den von ihnen gewünschten Prozess des Wachstums einer „neuen Ge­sell­schaft von unten" in Gang brin­gen zu können.

Umweltblätter/telegraph

In Ost-Berlin erschien im Herbst 1986 die erste Ausgabe der Um­weltblät­ter. Sie wurden zu­nächst monatlich von der eben­falls 1986 gegründeten, laut Redakteur Wolfgang Rüddenklau „anarchistisch ver­faßten" Umweltbibliothek (UB) unter dem Dach der Ost-Berliner Zionsgemeinde herausge­gebenen. Umweltbibliothek und Umweltblätter waren Teile der basisdemokratischen Friedens-, Umwelt- und 3.-Welt-Bewegung der DDR. Wie die meisten Oppositionsblätter in der DDR wurde das „Info-Blatt des Frie­dens- und Umweltkreises" (Untertitel) hektographiert, auf Wachsma­trizen ver­viel­fältigt. Es erschien im Format DIN A4 und mit dem aufgestempelten Zusatz „Nur zur inner­kirchli­chen Information". Auf­grund der schlechten Druckqualität der einspaltig mit Schreibma­schine verfassten und wenig bis nicht layouteten Texte war das Peri­odikum oft nur schwer lesbar. Die Umweltblätter wurden auch als Sprachrohr der klei­nen libertären Bewegung in der DDR ge­nutzt. Sie versuchten, eine „un­aufdringliche anar­chis­tische Haltung zu vermitteln", so Rüd­denklau. Primär wurden Ar­tikel publiziert, die sich mit unterdrückten In­formationen über den Alltag in der DDR beschäftigten. Im Winter 1986/87 deckten die Umwelt­blätter auf, dass die Smoggrenzwerte in der Hauptstadt um das Neunfa­che über­schritten wurden. Dies missfiel den Behörden in der DDR eben­so, wie die Tatsache, dass die Zeitschrift sich zu einem überregionalen Diskus­sionsor­gan verschie­dener un­abhängiger Umwelt-, Friedens-, BürgerIn­nen- und Men­schen­rechts­gruppen entwic­kelte. So stellte das von Hand zu Hand weitergereichte Periodikum trotz einer verhältnismäßig geringen Auflage von 600 Exemplaren ein Stück Gegenöffent­lichkeit dar. Im November 1987 erreichten die Auseinandersetzungen staatlicher Organe in der DDR mit kritischen Gruppen eine neue Qualität: In der Nacht zum 25. No­vember durchsuchte die Staatssicherheit (Stasi) erst­mals Räume der evangeli­schen Kirche und nahm dabei fünf Personen fest. Die Aktion richtete sich gegen die bis zu diesem Zeitpunkt zwölfmal herausgekommenen Umweltblät­ter und den in der UB gedruckten Grenzfall. Etwa 20 Vertreter der Stasi und der Staatsanwalt­schaft beschlagnahmten u.a. Vervielfältigungsgeräte, Manu­skripte und im Westen erschienene Bücher. In vielen Städten der DDR kam es zu Protestaktionen und Mahnwachen. Die in den ver­gangenen Jahren in die Bun­desrepublik abge­schobe­nen Opposi­tionellen organisierten einen regelmäßigen Informa­tions­zufluss aus der DDR und ein internationales Me­dien­echo. Schließlich wurden alle Festgenommenen aus der Haft entlassen und die Er­mittlungs­verfahren eingestellt.

Die Umweltblätter erschienen weiter. Unterstützung bekamen sie auch von Libertären aus der Bundesrepublik. Die gewaltfrei-anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution, die anarcho-syndikalistische direkte akti­on, die autonome Westberli­ner Infosammlung Interim, so­wie die tageszeitung druckten Ar­tikel aus den Umwelt­blättern nach. So fanden Inhalte aus der Publikation auch au­ßerhalb der DDR Verbreitung und förderten zudem den Infor mationsaus­tausch und die Ver­net­zung von Libertären aus bei­den deut­schen Staaten. Der 1986 entstandene „Freundeskreis Umwelt-Bibliothek", die Köl­ner Graswurzel­werkstatt und das Umweltzen­trum Münster kümmerten sich - mit mäßigem Erfolg - um den Auf­bau ei­ner Vertriebsstruktur der Um­weltblätter in der Bun­desrepu­blik. In der Graswurzelrevolution Nr. 138 (Nov. 1989) wurden die Le­serInnen zur Solidarität ermuntert: „Umweltblätter bestellen!"

Da die Informationen aus den Umweltblättern von immer mehr Leuten in der DDR zur Argumentation benutzt wurden, waren die Behörden gezwungen, in­tern Ablichtungen wich­ti­ger Artikel aus dem „feindlich-negativen Pamphlet" an „bestimmte Ämter zu ge­ben".

„Und noch ärger: Überall in den Städten der DDR, zuweilen so­gar in Dörfern, schossen oppositionelle Blätter unterschiedlichster Richtungen wie Pilze aus dem Boden. Das staatliche Wahrheitsmo­nopol war nicht mehr nur exemplarisch durch­brochen, es zerfiel. Das Regime verlor das Gesicht, konnte aber nur noch wenig dage­gen tun", so blickte der Verein Umwelt-Bibliothek Berlin im telegraph Nr. 10/95 zurück. Mittlerweile erschienen die Umweltblätter zweimonatlich mit einer Auflage von bis zu 3.000 Stück. Als vielgelesenes Organ der zur Massen­bewe­gung her­ange­wachsenen Opposition in der DDR hatten sie eine herausragende Funktion. 1994 analysierte Rüddenklau die „Zionsaffäre" vom Herbst 1987: „Das war der Anfang vom Ende der DDR. Von hier beginnend zeigte sich in immer neuen innenpolitischen Krisen, daß das Regime den Terror nicht mehr anwenden konnte, der allein die Bevölkerung in Furcht gehalten und die Existenz der DDR gesi­chert hatte. Die Leute begriffen, daß ‘der Kaiser nackt ist' und gingen in immer grö­ßerer Anzahl auf die Straße, bis das Regime Ende 1989 zusam­men­brach."

 

Für die oppositionellen Publikationen bedeutete der erfolg­rei­che Ausgang der „Zionsaffäre" einen enormen Aufschwung. Zwar gelang es der Stasi, durch zahlreiche technische Sabota­geak­tionen eines Inoffiziellen Mitarbeiters ein weiteres Er­scheinen des Grenzfall zu verhindern. Die Umweltblätter übernahmen aber die Funktion des Grenzfall als DDR-weites oppositionelles Nach­rich­tenblatt. In der gesamten DDR fanden sich Kor­respon­dentInnen, die Nach­richten, Kommentare, allgemeine Lageschilderungen, Analysen aus vielen Städten und Dörfern der DDR nach Ost-Berlin sandten, die dann in den Umweltblät­tern erschienen. Die Umweltblätter-Redaktion entschloss sich Anfang Oktober 1989, den im­mer ra­santer ablau­fenden Ereignissen zu ge­nügen und ein „je nach Bedarf" alle paar Tage erschei­nendes sieben- bis zehn­seitiges Infoblatt her­auszugeben. Am 9. Ok­to­ber, dem „ersten retardieren­den Moment der innenpolitischen Krise" (Rüddenklau), er­schien die Zeitschrift erstmals unter dem bis heute beibehaltenen Titel tele­graph. Gegen die Leipziger Montagsdemonstration waren Truppen zu­sammengezogen worden. Militärfahr­zeuge fuhren durch die Leipziger Innenstadt. „Wir druckten auf unseren ar­beitsmüden klapprigen Wachsmatrizenmaschinen mühselig die 4.000 Exemplare der ersten Ausgabe der Zeitschrift. Binnen 20 Minuten waren sie in der Ost-Berliner Gethse­manekirche an die Demonstranten verkauft. Weitere 2.000 Exem­plare wurden nachgedruckt, während die nächste Ausgabe vorberei­tet wurde", erinnert sich Rüdden­klau. Der telegraph wurde nun alle sie­ben bis zehn Tage von der Ost-Berliner Umwelt-Bi­blio­thek her­ausgebracht. Mit teil­weise exklusiven Re­cherchen, geprägt sowohl von antistali­nistischen wie auch antikapi­talistischen Anschauungen, gelang es der Redaktion, den Über­gang vom einen zum anderen System kritisch zu be­gleiten. Sie beschäftig­ten sich in zahlreichen Artikeln mit der Vergangenheitsbewälti­gung, mit der Stasi und der (zum Teil auch anarchistischen) Oppo­sitions­bewegung.

Im Mai 1990 wurde sag nein!, „blatt zur totalen Kriegsdienstverweigerung in der DDR", als assoziiertes Mitglied der War Resisters' International (WRI) gegründet. Im gleichen Monat entstand z.B. die BesetzerInnenzeitung, die als Sprachrohr der 1990 bis zu 130 in Ost-Berlin besetzten Häuser fungierte. Wie viele andere libertäre Blätter, die noch vor der „Wiedervereinigung" in der DDR entstanden sind, wurden sag nein! und Be­setzerInnenzei­tung nach wenigen Jahren eingestellt. Eine Ausnahme ist der tele­graph. Er hat zwar deutlich an Auflage verloren, erscheint aber bis heute unregelmäßig als „ostdeutsche Zeitschrift" (Untertitel).

Die „Wende"

Im Jahre 1989 vollzog sich ein Wandel in der DDR. Zigtausende verließen im Spätsommer und Herbst 1989 das Land, nachdem über die bundesdeutsche Botschaft in Prag eine freie Einreise in die Bundesrepublik ermöglicht worden war. Die Oppositionsszene in der DDR wuchs zur Massenbewe­gung heran, Hunderttausende demonstrierten unter der Parole „Wir sind das Volk!" gegen die Machthaber in Ost-Berlin. In Leipzig demonstrierten am 2. Oktober 1989 rund 20.000, am 9. Oktober 70.000, am 16. Oktober 150.000 und am 23. Oktober, dem Vorabend der geplanten Wahl von Egon Krenz zum neuen Staatsratsvorsitzenden, rund 250.000 Menschen. Am 4. November 1989 fand in Ost-Berlin auf dem Alexanderplatz eine Demonstration statt, an der etwa 500.000 Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen teilnahmen. Die Rede des ehemaligen Stasi-Generals Markus Wolf wurde dabei von Pfeifkonzerten unterbrochen, als er versuchte, die Stasi MitarbeiterInnen in Schutz zu nehmen. Am 8. November trat das gesamte Politbüro zurück. Unter Führung von Egon Krenz formierte es sich am gleichen Tag neu. Nach der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 begannen die libertären Gruppen in der DDR, Papier und Druckmöglichkeiten auch au­ßerhalb kirchlicher Strukturen zu organisieren. Es entwickelten sich verstärkt Kontakte zu Gruppen und Druckkollektiven im Westen. Während die Kom­munistInnen und „Anti-Imps" die libertäre Bewegung in der DDR als „antikommunistisch" ablehnten, freuten sich viele AnarchistInnen in Ost und West über den „Fall der Mauer" und den beginnenden „Niedergang des Staatskapitalismus".

 

Fazit

Die undogmatischen, freiheitlich-sozialistisch orientierten Umweltblätter und der tele­graph schafften ein Stück Gegenöf­fentlichkeit. Sie wollten keinen Anschluss an die BRD, sondern in der DDR eine gesellschaftliche Alternative verwirklichen und dem staatlichen Informationsmonopol eine eigene, kritische Berichterstattung entgegensetzen. Für den Aufbruch 1989 spielten sie eine große Rolle, denn in den Jahren 1986 bis 1990 waren sie für das wachsende Selbstbewusstsein vieler außerparlamentarischer AktivistIn­nen mitverantwortlich. Den Redaktionen von Umweltblättern und telegraph ist es geglückt, viele in der DDR tabuisierte Themen anzusprechen, unterdrückte Informationen und Nachrichten weiterzuverbreiten und den verschiedenen Oppositionsgruppen in der DDR eine Diskussionsplattform zu bieten. Bis zum Ende des Umbruchs in der DDR war der telegraph der wichtigste unabhängige Berichterstatter in der DDR. Zusammen mit den anderen kleinen, undogmatischen Bewegungsorga­nen hat er mehr zum Wachsen der DDR-Oppo­sition und zur gewaltfreien Revolution 1989 beigetragen, als das heute der Allgemeinheit bekannt ist.

 

Bernd Drücke

 

Literatur: Hans Jürgen Degen: Anarchismus in Deutschland 1945-1960: Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 2002 Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998 Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006 Wolfgang Rüddenklau: Störenfried, Verlag Ba­sisDruck, Berlin 1992

 

Kontakt: telegraph, c/o Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin. Tel.: 030/44456-22, Fax: -23, E-Mail: telegraph@ostbuero.de, http://www.telegraph.ostbuero.de/ ="mailto:telegraph@ostbuero.de">

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 340, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Sommer 2009, www.graswurzel.net