Bis zu einer wirklich gesellschaftlichen Teilhabe ist es noch ein weiter Weg, meint Michael Ferschke.
Franz Müntefering ist erzürnt. Er ärgert
sich über das Verhalten der Banker in der Krise, über »Pyromanen und
Halbstarke« in ihren Reihen. Der SPD-Vorsitzende ist »in Sorge, dass
die Demokratie Schaden nimmt, wenn die Menschen befürchten, dass die
Politik unverantwortliches Verhalten in der Wirtschaft nicht mehr
verhindern kann.« Dieselben Bedenken hätte Müntefering allerdings auch
schon vor der Krise äußern können. Denn um die Demokratie ist es im
Kapitalismus grundsätzlich nicht gut bestellt.
Weite Bereiche des öffentlichen Lebens sind überhaupt keiner
demokratischen Kontrolle unterworfen. Weder Richter, Generäle noch
Diplomaten oder Polizeipräsidenten werden gewählt. Viele dieser
Personen kontrollieren jedoch mehr Machtmittel als die
Parlamentsabgeordneten.
Auch ein anderer wichtiger Teil unser Gesellschaft, ist komplett
undemokratisch organisiert: Die Wirtschaft. Wir können weder unseren
Chef, noch unseren Vorarbeiter wählen. Aber sie treffen täglich
Entscheidungen, die unser Leben bestimmen - angefangen bei den
Investitionen über Einstellungen und Entlassungen bis hin zur Kontrolle
der Arbeitsleistungen.
1887 hieß es in einer Denkschrift des Centralverbands deutscher
Industrieller: »Der Arbeiter ist nicht der gleichberechtigte Teilhaber
des Arbeitgebers (...). Er ist dessen Untergebener, dem er Gehorsam
schuldig ist (...). Die Zwischenschiebung einer regelmäßigen Instanz
zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ist unzulässig.« Zwar wurden seitdem
von den Belegschaften Mitspracherechte durchgesetzt - momentan geregelt
durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976, das für alle
Kapitalgesellschaften mit mindestens 2000 Beschäftigten gilt. Doch von
betrieblicher Demokratie kann trotzdem keine Rede sein. Auf der
Arbeitnehmerseite muss mindestens ein Vertreter der leitenden
Angestellten sitzen, bei Stimmengleichheit entscheidet zudem der
Vorsitzende, bei dem durch das Wahlverfahren sichergestellt ist, dass
er aus dem Kreis der Kapitalvertreter stammt. Dies ist auch der Grund,
weshalb das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für mit dem Grundgesetz
vereinbar erklärte. Die Begründung: Die Entscheidungsgewalt der
Kapitaleigner über »ihr« Eigentum werde dadurch nicht angetastet.
Andersherum klappt die Einflussnahme allerdings sehr gut: Die deutsche
Wirtschaft hat privilegierten Zugang zum Parlament. Jeder
Vorstandsvorsitzende strebt nach einem persönlichen Kontakt mit den
Abgeordneten. Auf der offiziellen Lobbyliste des Bundestages stehen
1870 Unternehmen und Verbände. Nach Schätzungen der
Bundestagsverwaltung kommen - je nach Bedeutung des Ressorts - bis zu
25 Interessenvertreter auf einen der 612 Bundestagsabgeordneten. Sie
sind in Ausschuss-Anhörungen dabei, sie veranstalten »parlamentarische
Abende« und laden zu diskreten Gesprächsrunden in Top-Hotels und
Sterne-Restaurants. Das Wirtschaftsmagazin Capital spitzte es auf die
Formel zu: »Ein Abgeordneter ist nicht an Weisungen gebunden, sondern
an Überweisungen«.
Ein Beispiel aus der Praxis des Lobbyismus: 2003 legte die rot-grüne
Bundesregierung ein »Gesetz zur Modernisierung des Investmentwesens und
zur Besteuerung von Investvermögen« vor. Inhalt der »Modernisierung«
war die Befreiung von Hedgefonds und ihren hochspekulativen Geschäften
von bis dato geltenden Regulationen - ein Meilenstein auf dem Weg in
die jetzige Finanzkrise. Die »Besteuerung von Investmentvermögen« im
Gesetzestitel ist »Eikettenschwindel« - denn tatsächlich ging es um die
Aufhebung der Besteuerung vieler Fonds.
Der »Bundesverband Deutscher Investment-Gesellschaften« (BVI) zeigte
sich zufrieden mit dem Gesetz - kein Wunder: Die Lobbyvereinigung hatte
auch kräftig mitgearbeitet. Eine BVI-Juristin bekam vom Januar bis
August 2003, in der heißen Phase der Gesetzesformulierung, sogar einen
eigenen Schreibtisch im Ministerium. Die »Leihbeamtin« wurde weiterhin
vom BVI bezahlt.
Die Beziehung zwischen Wirtschaft und Staatsapparat hat System. Der
Staat nimmt für die Unternehmen eine Vielzahl unterschiedlicher
Aufgaben wahr. Dazu gehören zum Beispiel der rechtliche Schutz des
Privatbesitzes an Produktionsmitteln und die Regelung der
wirtschaftlichen Beziehungen der Unternehmer untereinander durch einen
stabilen gesetzlichen Rahmen und eine einheitliche Währung. Dazu gehört
auch die Stützung der Exportindustrie durch so genannte
»Hermes«-Bürgschaften - Steuermittel, mit denen sich die Firmen gegen
Ausfälle rückversichern.
Staatliche Politik für Unternehmen umfasst zudem eine militärische
Komponente. Im Aufgabenspektrum der Bundeswehr ist festgelegt, »den
freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu
fördern.«
Macht und Mittel, die eine Regierung für ihre Politik zur Verfügung
hat, hängen vor allem vom Steuerertrag ab, den der Staat auf seinem
Territorium erzielen kann. Will der Staatsapparat seine
Handlungsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen, so darf er seine
ökonomische Basis nicht gefährden. Die Staatsbürokratie ist also vom
erfolgreichen Fortgang der Wirtschaft abhängig. Das zwingt die Politik,
für Bedingungen zu sorgen, die die wirtschaftliche Entwicklung
innerhalb der Staatsgrenzen fördern. Sie muss ihre Interessen als
national-kapitalistische Interessen verstehen. Sie muss für »ihre«
Unternehmen die bestmöglichen Bedingungen zur internationalen
Konkurrenzfähigkeit durchsetzen. Die Begründung für die Politik der
Agenda 2010 ist ein Beispiel dafür. Die sozialdemokratische Abgeordnete
Monika Griefahn erklärte: »Wir wollen mit der Agenda 2010 dafür sorgen,
dass Deutschland stark ist, leistungsfähige, international
wettbewerbsfähige und innovative Unternehmen hat.«
Trotz alledem kommt es in Zeiten größerer gesellschaftlicher Bewegung
und politischer Linksentwicklung vor, dass Regierungen an die Macht
kommen, die sich dem Diktat der Wirtschaftsinteressen entgegenstemmen
wollen. Wie die Bosse die Regierung in einem solchen Fall auf ihre
Linie zwingen, zeigt die Erfahrung der Mitterrand-Regierung in
Frankreich.
1981 wurde der Sozialdemokrat François Mitterrand zum neuen Präsidenten
gewählt, und auch bei den Parlamentswahlen erreichte seine
Sozialistische Partei die absolute Mehrheit. Danach schuf die Regierung
über 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst. Um die Kaufkraft zu
erhöhen, wurde der Mindestlohn bis 1983 real um 38 Prozent erhöht. Die
Renten hob die Regierung um 20 Prozent an, Kinder- und Wohngeld um 25
beziehungsweise 50 Prozent. Die Wochenarbeitszeit wurde als erster
Schritt zur 35‑Stundenwoche auf 39 Stunden gesenkt. Außerdem wurde der
Urlaub auf fünf Wochen verlängert und das Rentenalter auf 60 Jahre
herabgesetzt. 1982 verstaatlichte die Regierung 39 Banken, zwei
Finanzholdings und fünf Industriekonzerne.
Die Unternehmer, die Teile dieser Politik finanzieren sollten, wehrten
sich. Sie hörten auf, in Frankreich zu investieren. In kurzer Zeit
verloren tausende Menschen ihre Arbeit. Gleichzeitig transferierten
mehrere Banken große Teile ihres Geldes ins Ausland. Die französische
Währung wurde dreimal abgewertet. Die Inflation stieg bis 1982 auf fast
12 Prozent. Die Unternehmer trieben die französische Wirtschaft mit
ihrem Kampf gegen Mitterands soziale Reformen in den Abgrund.
Schließlich gab die Regierung Mitterand nach und vollzog einen
fundamentalen Politikwechsel. Anstatt den Sozialstaat weiter
auszubauen, startete sie nun ein massives Kürzungsprogramm. Das
Arbeitslosengeld wurde von 90 auf 80 Prozent des früheren Einkommens
gesenkt und die Dauer der Leistungen verkürzt. Gegen die Proteste der
Gewerkschaften wurden Lohn-Nullrunden im öffentlichen Dienst
durchgesetzt. Als die Regierung Politik gegen die Menschen machte,
hörte das Kapital auf, die Wirtschaft zu schwächen. Mitterand glaubte
1981, er sei an der Macht. In Wirklichkeit war er nur an der Regierung.
Das neue marx21 Heft ist da. In dieser Ausgabe unter anderem:
- Debatte zum Schwerpunkt mit Beiträgen von Tobias Pflüger, Lucia Schnell und Wolfgang Zimmermann
- Jörg Jungmann im Interview: "Betriebsschließingen: Den Protest gemeinsam organisieren"
- Bildungsstreiks: Robert Blättermann und Georg Frankl über linke Hochschulpolitik
- Elmar Altvater mit Teil 8 seiner Serie "Marx neu entdecken": Wie Wissenschaft und Bildung zur Ware werden
- Winfried Jung im Interview zum Wahlkampf im Saarland
- Claudia Haydt über Ursachen der Piraterie am Horn von Afrika
- Beiträge zur Anti-Nazi-Arbeit von Florian Osuch und Christian Vasenthien
- Volkhard Mosler über die trügerische "Rettung" von Opel
- Serie 1989-2009: 20 Jahre Mauerfall. Mit Beiträgen von Tamara Hentschel und Olaf Klenke