Die Grenzen dieser Demokratie

in (02.07.2009)

Bis zu einer wirklich gesellschaftlichen Teilhabe ist es noch ein weiter Weg, meint Michael Ferschke.

Franz Müntefering ist erzürnt. Er ärgert sich über das Verhalten der Banker in der Krise, über »Pyromanen und Halbstarke« in ihren Reihen. Der SPD-Vorsitzende ist »in Sorge, dass die Demokratie Schaden nimmt, wenn die Menschen befürchten, dass die Politik unverantwortliches Verhalten in der Wirtschaft nicht mehr verhindern kann.« Dieselben Bedenken hätte Müntefering allerdings auch schon vor der Krise äußern können. Denn um die Demokratie ist es im Kapitalismus grundsätzlich nicht gut bestellt.

Weite Bereiche des öffentlichen Lebens sind überhaupt keiner demokratischen Kontrolle unterworfen. Weder Richter, Generäle noch Diplomaten oder Polizeipräsidenten werden gewählt. Viele dieser Personen kontrollieren jedoch mehr Machtmittel als die Parlamentsabgeordneten.

Auch ein anderer wichtiger Teil unser Gesellschaft, ist komplett undemokratisch organisiert: Die Wirtschaft. Wir können weder unseren Chef, noch unseren Vorarbeiter wählen. Aber sie treffen täglich Entscheidungen, die unser Leben bestimmen - angefangen bei den Investitionen über Einstellungen und Entlassungen bis hin zur Kontrolle der Arbeitsleistungen.

1887 hieß es in einer Denkschrift des Centralverbands deutscher Industrieller: »Der Arbeiter ist nicht der gleichberechtigte Teilhaber des Arbeitgebers (...). Er ist dessen Untergebener, dem er Gehorsam schuldig ist (...). Die Zwischenschiebung einer regelmäßigen Instanz zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ist unzulässig.« Zwar wurden seitdem von den Belegschaften Mitspracherechte durchgesetzt - momentan geregelt durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976, das für alle Kapitalgesellschaften mit mindestens 2000 Beschäftigten gilt. Doch von betrieblicher Demokratie kann trotzdem keine Rede sein. Auf der Arbeitnehmerseite muss mindestens ein Vertreter der leitenden Angestellten sitzen, bei Stimmengleichheit entscheidet zudem der Vorsitzende, bei dem durch das Wahlverfahren sichergestellt ist, dass er aus dem Kreis der Kapitalvertreter stammt. Dies ist auch der Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte. Die Begründung: Die Entscheidungsgewalt der Kapitaleigner über »ihr« Eigentum werde dadurch nicht angetastet.

Andersherum klappt die Einflussnahme allerdings sehr gut: Die deutsche Wirtschaft hat privilegierten Zugang zum Parlament. Jeder Vorstandsvorsitzende strebt nach einem persönlichen Kontakt mit den Abgeordneten. Auf der offiziellen Lobbyliste des Bundestages stehen 1870 Unternehmen und Verbände. Nach Schätzungen der Bundestagsverwaltung kommen - je nach Bedeutung des Ressorts - bis zu 25 Interessenvertreter auf einen der 612 Bundestagsabgeordneten. Sie sind in Ausschuss-Anhörungen dabei, sie veranstalten »parlamentarische Abende« und laden zu diskreten Gesprächsrunden in Top-Hotels und Sterne-Restaurants. Das Wirtschaftsmagazin Capital spitzte es auf die Formel zu: »Ein Abgeordneter ist nicht an Weisungen gebunden, sondern an Überweisungen«.

Ein Beispiel aus der Praxis des Lobbyismus: 2003 legte die rot-grüne Bundesregierung ein »Gesetz zur Modernisierung des Investmentwesens und zur Besteuerung von Investvermögen« vor. Inhalt der »Modernisierung« war die Befreiung von Hedgefonds und ihren hochspekulativen Geschäften von bis dato geltenden Regulationen - ein Meilenstein auf dem Weg in die jetzige Finanzkrise. Die »Besteuerung von Investmentvermögen« im Gesetzestitel ist »Eikettenschwindel« - denn tatsächlich ging es um die Aufhebung der Besteuerung vieler Fonds.

Der »Bundesverband Deutscher Investment-Gesellschaften« (BVI) zeigte sich zufrieden mit dem Gesetz - kein Wunder: Die Lobbyvereinigung hatte auch kräftig mitgearbeitet. Eine BVI-Juristin bekam vom Januar bis August 2003, in der heißen Phase der Gesetzesformulierung, sogar einen eigenen Schreibtisch im Ministerium. Die »Leihbeamtin« wurde weiterhin vom BVI bezahlt.

Die Beziehung zwischen Wirtschaft und Staatsapparat hat System. Der Staat nimmt für die  Unternehmen eine Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben wahr. Dazu gehören zum Beispiel der rechtliche Schutz des Privatbesitzes an Produktionsmitteln und die Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen der Unternehmer untereinander durch einen stabilen gesetzlichen Rahmen und eine einheitliche Währung. Dazu gehört auch die Stützung der Exportindustrie durch so genannte »Hermes«-Bürgschaften - Steuermittel, mit denen sich die Firmen gegen Ausfälle rückversichern.

Staatliche Politik für Unternehmen umfasst zudem eine militärische Komponente. Im Aufgabenspektrum der Bundeswehr ist festgelegt, »den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern.«

Macht und Mittel, die eine Regierung für ihre Politik zur Verfügung hat, hängen vor allem vom Steuerertrag ab, den der Staat auf seinem Territorium erzielen kann. Will der Staatsapparat seine Handlungsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen, so darf er seine ökonomische Basis nicht gefährden. Die Staatsbürokratie ist also vom erfolgreichen Fortgang der Wirtschaft abhängig. Das zwingt die Politik, für Bedingungen zu sorgen, die die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Staatsgrenzen fördern. Sie muss ihre Interessen als national-kapitalistische Interessen verstehen. Sie muss für »ihre« Unternehmen die bestmöglichen Bedingungen zur internationalen Konkurrenzfähigkeit durchsetzen. Die Begründung für die Politik der Agenda 2010 ist ein Beispiel dafür. Die sozialdemokratische Abgeordnete Monika Griefahn erklärte: »Wir wollen mit der Agenda 2010 dafür sorgen, dass Deutschland stark ist, leistungsfähige, international wettbewerbsfähige und innovative Unternehmen hat.«

Trotz alledem kommt es in Zeiten größerer gesellschaftlicher Bewegung und politischer Linksentwicklung vor, dass Regierungen an die Macht kommen, die sich dem Diktat der Wirtschaftsinteressen entgegenstemmen wollen. Wie die Bosse die Regierung in einem solchen Fall auf ihre Linie zwingen, zeigt die Erfahrung der Mitterrand-Regierung in Frankreich.

1981 wurde der Sozialdemokrat François Mitterrand zum neuen Präsidenten gewählt, und auch bei den Parlamentswahlen erreichte seine Sozialistische Partei die absolute Mehrheit. Danach schuf die Regierung über 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst. Um die Kaufkraft zu erhöhen, wurde der Mindestlohn bis 1983 real um 38 Prozent erhöht. Die Renten hob die Regierung um 20 Prozent an, Kinder- und Wohngeld um 25 beziehungsweise 50 Prozent. Die Wochenarbeitszeit wurde als erster Schritt zur 35‑Stundenwoche auf 39 Stunden gesenkt. Außerdem wurde der Urlaub auf fünf Wochen verlängert und das Rentenalter auf 60 Jahre herabgesetzt. 1982 verstaatlichte die Regierung 39 Banken, zwei Finanzholdings und fünf Industriekonzerne.

Die Unternehmer, die Teile dieser Politik finanzieren sollten, wehrten sich. Sie hörten auf, in Frankreich zu investieren. In kurzer Zeit verloren tausende Menschen ihre Arbeit. Gleichzeitig transferierten mehrere Banken große Teile ihres Geldes ins Ausland. Die französische Währung wurde dreimal abgewertet. Die Inflation stieg bis 1982 auf fast 12 Prozent. Die Unternehmer trieben die französische Wirtschaft mit ihrem Kampf gegen Mitterands soziale Reformen in den Abgrund.
Schließlich gab die Regierung Mitterand nach und vollzog einen fundamentalen Politikwechsel. Anstatt den Sozialstaat weiter auszubauen, startete sie nun ein massives Kürzungsprogramm. Das Arbeitslosengeld wurde von 90 auf 80 Prozent des früheren Einkommens gesenkt und die Dauer der Leistungen verkürzt. Gegen die Proteste der Gewerkschaften wurden Lohn-Nullrunden im öffentlichen Dienst durchgesetzt. Als die Regierung Politik gegen die Menschen machte, hörte das Kapital auf, die Wirtschaft zu schwächen. Mitterand glaubte 1981, er sei an der Macht. In Wirklichkeit war er nur an der Regierung.

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