Zur Politischen Ökonomie der Sowjetunion
Was war die Sowjetunion? Veronika Duma und Stefan Probst argumentieren im fünften Teil unserer Serie zum politischen Erbe der russischen Revolution, dass der „real existierende Sozialismus“ am treffendsten als bürokratischer Staatskapitalismus analysiert werden kann.
Wieso heute noch einen Artikel über den Charakter der Sowjetunion
schreiben? Die Antwort auf diese Frage besteht in erster Linie aus zwei
politischen Argumenten. Erstens wird Russland nach wie vor häufig als
Beweis dafür herangezogen, dass Sozialismus keine Alternative zu einer
kapitalistischen Gesellschaftsordnung darstellt. Aussagen wie:
„Sozialismus? – Schau doch nach Russland, das hat nicht funktioniert“
sind immer wieder und in den verschiedensten Diskussionszusammenhängen
anzutreffen. Die UdSSR und die Ostblockstaaten werden als Verkörperung
„linker Ideen“ jeglicher Art dargestellt und diese damit für alle
Ewigkeit als diskreditiert erklärt. Zweitens: wenn die Sowjetunion
sowie die osteuropäischen „Volksdemokratien“ tatsächlich als
sozialistische Gesellschaften verstanden werden, wird automatisch
impliziert, dass Sozialismus ohne einer Revolution – also ohne einer
grundlegenden Umwälzung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen – und
ohne einer Form der Selbstemanzipation und aktiven Beteiligung eines
Großteils der Bevölkerung, einfach von oben herab implementiert werden
könnte. Wird behauptet, die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten
waren sozialistisch, dann hätte Stalin die proletarische Revolution
verwirklicht, und das auch noch in enormem Tempo.
Auch zahlreiche MarxistInnen interpretierten den Kalten Krieg als eine
globale Version des Klassenkampfs zwischen Kapital und Arbeit, als
einen „Kampf zwischen zwei entgegengesetzten gesellschaftlichen
Systemen“. Nach 1989 gelangten sie deshalb zu einer Einschätzung, die
jener von Fukuyamas1
„Ende der Geschichte“ bemerkenswert ähnlich war: wie dieser gingen sie
davon aus, dass der Kapitalismus als Sieger aus dem globalen
Konkurrenzkampf hervorgegangen war, nur dass sie – anders als Fukuyama
– dieses Ergebnis bedauerten.2
Im Gegensatz dazu wollen wir – zwanzig Jahre nach der Wende von 1989 –
argumentieren, dass es in Russland nicht zur Entfaltung einer
sozialistischen Gesellschaft, sondern zur Herausbildung jener Formation
kam, die am treffendsten mit dem Konzept des bürokratischen Staatskapitalismus gefasst werden kann.
Der Begriff Staatskapitalismus selbst blickt dabei auf eine längere Vorgeschichte zurück.3
Sämtliche theoretische Ansätze in diese Richtung stoßen jedoch auf –
zum Teil sehr ähnliche – begriffliche Probleme und werfen darüber
hinaus große Fragen auf: Was kennzeichnet eine kapitalistische
Produktionsweise? Wie können an Hand abstrakter theoretischer
Kategorien Charakteristika einer historisch konkreten
Gesellschaftsformation untersucht und diskutiert werden? Was ist unter
einem bürokratischen Staatskapitalismus zu verstehen?
Kapitalismus abstrakt und konkret
Die kapitalistische Produktionsweise kann allgemein durch zwei
zentrale Widerspruchs- und Konfliktachsen charakterisiert werden. Zum
einen haben wir es mit einem System verallgemeinerter Warenproduktion
zu tun, in dem die Wirtschaft in konkurrierende Produktionseinheiten
gespalten ist. Arbeitsprodukte werden im Tausch aufeinander bezogen und
nehmen so Warenform an. Im Tausch vollzieht sich die Reduktion
konkreter Privatarbeiten auf abstrakte Arbeit (Wertform): als
gesellschaftlich gilt nicht die individuell verausgabte
Arbeit, sondern nur die gemäß der durchschnittlichen gesellschaftlichen
Produktivität notwendige Arbeit. Aus den Tauschverhältnissen
konkurrierender WarenproduzentInnen ergibt sich schließlich die Dynamik
zur Akkumulation und die Tendenz zur ständigen Angleichung der
durchschnittlichen Produktionsbedingungen.
Zum zweiten ist der Kapitalismus eine Klassengesellschaft, in der die
unmittelbaren ProduzentInnen den Produktionsprozess nicht kontrollieren
und ihre eigene Subsistenz nicht sichern können. Sie sind somit
gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Als Wert der Arbeitskraft
gilt die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.
Aus diesen Widerspruchsachsen folgt die grundlegende Dynamik der
kapitalistischen Produktionsweise. Dennoch können kapitalistische
Gesellschaftsformationen auf dieser Ebene der Abstraktion nicht
vollständig beschrieben werden. Oftmals krankte die marxistische
Debatte einer adäquaten Theoretisierung der Sowjetunion genau daran,
die Diskussion in den Bahnen einer sehr allgemeinen Bestimmung des
Kapitalismus engzuführen.
Dem liegt zunächst ein Missverständnis hinsichtlich der Marxschen Methode zugrunde. Marx hat im Kapital
Schritt für Schritt die zentralen Bestimmungen, konstitutiven
Strukturen und inhärenten Tendenzen der kapitalistischen
Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt entwickelt – ein
theoretisches Objekt, das im strengen Sinn nicht existiert, wie es der
französische Marxist Louis Althusser formulierte. Diesen Prozess hat
Marx als „Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten“ beschrieben. Von den
Begriff en Ware, Wert, Geld nähert sich die Darstellung „schrittweis
der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft … auftreten.“4
Die Methode ist dabei keine deduktive: die jeweiligen Schritte der
Darstellung sind nicht bereits in den abstrakten Begriff en enthalten
und „entwickeln“ sich nicht zu einem abgeschlossenen System, das im
Sinne einer „expressiven Totalität“ die kapitalistische
Produktionsweise vollständig beschreibt. Das Kapital ist als
„mehrstufige theoretische Struktur konzipiert, in der die
aufeinanderfolgenden Stufen steigende Komplexitätsgrade darstellen.“
Die „im Verlauf des Kapitals entwickelten Komplexitäten
[sind] nicht irgendwie bereits in den zu Beginn des Buches dargelegten
Konzepten von Ware, Gebrauchswert, abstrakter und konkreter Arbeit usw.
‚enthalten‘. Vielmehr werden neue und komplexere Bestimmungen nach und
nach eingeführt, um entstehende Probleme in früheren Phasen der Analyse
zu überwinden. Diese Bestimmungen werden durch ihren Platz in der
allgemeinen Argumentation begründet, jede besitzt aber ihre
spezifischen Eigenschaften, die auf die zuvor vorausgesetzten
Bestimmungen nicht reduzierbar sind.“5
Begriffe und Determinationsebenen werden eingeführt, sobald es
notwendig wird, einen Aspekt der kapitalistischen Produktionsweise zu
analysieren, der bislang nicht berücksichtigt wurde. Jede konzeptuelle
Ebene zieht Problemstellungen nach sich, welche die Artikulation neuer
Ebenen in einem kreativen Prozess erfordern.6 Der Kapitalismus wird so – in Marxens Worten – rekonstruiert als „reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.”7
In diesem Konkretisierungsprozess, einer Methode „fortschreitender
Verkomplizierung“, werden früher eingeführte allgemeine Bestimmungen im
Laufe des Argumentationsgangs modifiziert.8
So lässt Marx etwa im dritten Band die Behauptung fallen, dass Waren zu
ihren Werten getauscht werden, wenn er das Konzept der Angleichung der
Profitraten zu einer Durchschnittsprofitrate einführt.
Wichtig ist nun, dass dieser Prozess der Konkretisierung nicht bei den Themen, die Marx im Kapital unfertig
abgehandelt hat, stehen bleiben kann. Schon Marx selbst hatte in seinem
ursprünglichen Entwurf weitere Bände u.a. zu Staat und Weltmarkt
geplant.
Umso entscheidender ist, wenn wir den Kapitalismus als sich historisch
entwickelndes und veränderndes System verstehen, und unterschiedliche
Phasen und Formen kapitalistischer Gesellschaftsformationen
unterscheiden wollen, die Marxsche Analyse zu erweitern, „sowohl im
Hinblick auf das allgemeine theoretische Verständnis der
kapitalistischen Produktionsweise als auch die konkretere Analyse des
sich historisch verändernden Kapitalismus.“9
Das Kapital ist unabgeschlossen und kein fertiges „System“ und ein
Marxismus, der theoretisch und politisch relevant sein will, muss die
enormen Transformationen der Kapitalismen des letzten Jahrhunderts
erklären können. Die Erweiterung der Analyse im Kapital erfordert dabei
notwendigerweise auch die Modifikation Marxscher Kategorien.
Politik und Ökonomie, Staat und Markt
Für unser Thema sind hierbei zwei Begriffe zentral: Staat(ensystem) und Weltmarkt.
Erstens: Die Marxschen „ökonomischen“ Begriffe beschreiben
gesellschaftliche Verhältnisse, die nie nur ökonomische sind, sondern
immer zugleich politisch-juridische Aspekte enthalten. Wer in den
Warentausch involviert ist, muss Eigentum und Freiheit und Gleichheit
im Tausch anerkennen (Vertragsverhältnis); wenn die Teilung des
Eigentums (sowohl zwischen den BesitzerInnen der Produktionsmittel als
auch zwischen diesen und den Nicht-BesitzerInnen) stabil reproduziert
werden soll, wird eine außerökonomische Gewalt notwendig. „Kapitalien …
stützen sich für ihre Reproduktion auf stabile physische, ökonomische,
politische und kulturelle Infrastrukturen, sind aber … nicht in der
Lage, solche Strukturen selbst zu etablieren. Tatsächlich erzeugt der
Akkumulationsprozess Instabilitäten und unterminiert die Grundlagen
seiner eigenen Existenz. Kurz gesagt sind Warenverhältnisse als
verallgemeinerte Form, und die Kapitalakkumulation im Besonderen, von
Zwangsgewalt abhängig. Zwang und Gewalt sind in diesem analytischen
Zugriff ganz grundlegend mit der kapitalistischen Ökonomie verknüpft.”10
Auf Grundlage solcher Argumente hat die marxistische Staatstheorie im
Wesentlichen die spezifisch kapitalistische Form des Staates in seiner
„relativen Autonomie“ und gleichzeitigen Präsenz in der Ökonomie
entwickelt. Ein Problem, dem sich diese Entwürfe jedoch stellen müssen,
ist, dass der moderne Staat dem Prozess der Extraktion von Mehrwert
nicht als rein äußerlich gedacht werden kann. Abgesehen von der Frage
direkten Staatseigentums greift der Staat schließlich als Steuerstaat
auch direkt in die Prozesse der Surplus-Extraktion und -Redistribution
ein.
Colin Barker hat darauf hingewiesen, dass sich hieraus die ökonomischen
Aspekte staatlicher Macht erhellen. Der Staat stellt nicht nur mittels
Gewaltmonopol kapitalistische Rechtssicherheit her; er steht nicht
einfach über den Vertragsparteien, sondern beherrscht sie auch, und
muss sie besteuern. „Um die Funktionen der Bevölkerungskontrolle, der
Verteidigung des Privateigentums und der Rechtsprechung zu erfüllen,
müssen kapitalistische Staaten Surplus aus der ‚ökonomischen Sphäre‘
abschöpfen, durch Besteuerung. Sie entwickeln ein starkes Interesse am
Wert, der aus dem Eigentum seiner Subjekte (sowie seinem eigenen)
erwächst; sie
entwickeln zwingende eigene Interessen an der Verwaltung der
Gesellschaft im Allgemeinen und an der ökonomischen Organisation im
Besonderen.”11
Die Problematik der Ausbeutung (und Redistribution von Mehrwert) nimmt
daher in kapitalistischen Gesellschaftsformationen eine komplexere Form
als die einfache Gegenüberstellung Kapital-Arbeit an. „Wenn wir den
Begriff des Staates aus den rechtlich-politischen Anforderungen der
Warenproduktion entwickeln, wird es notwendig, eine sekundäre,
‚konkurrierende Logik‘ einzuführen: jene staatlicher Abgaben und
Steuern. Im Kapitalismus sind die zwei Formen der Surplus-Extraktion,
durch Unternehmen und durch Regierungen, ‚nicht einfach getrennt und
entgegengesetzt sondern sich jeweils gegenseitig bedingende und
komplementäre Eigenschaften der anderen‘.“12
Deshalb ist die säkulare Tendenz zur institutionellen Differenzierung
von ökonomischer und politischer Macht begleitet, und teilweise
durchkreuzt, von Tendenzen substantieller Involvierung des Staates in
die Ökonomie. Staaten stellen nicht nur einen legalen und politischen
Rahmen für die Funktionsweise des Marktes her, geben nicht nur Währung
aus usw., sondern errichten die physische Infrastruktur zur Steigerung
der Kapitalmobilität und Umschlagszeit, sie regulieren die Konkurrenz,
beeinflussen die Re-Produktion und Zirkulation der Arbeitskraft, und
greifen in politische und ökonomische Kämpfe ein; sie setzen die
Kombination oder Restrukturierung von Kapitalien durch, errichten
Handelsbarrieren und unterstützen Exporte, organisieren Forschung und
Entwicklung; und sie können selbst als Kapitalisten auftreten. Die
Tendenz zur Trennung von Politik und Ökonomie ist deshalb zwar real,
aber „beständig durch die Tatsache durchkreuzt, dass Staaten – ob als
Ergebnis ihrer ‚formbestimmten‘ Rolle in der Aufrechterhaltung der
Rahmenbedingungen kapitalistischer Akkumulation, oder den Erforderungen
des state-building und den Anforderungen geopolitischer Konkurrenz – beharrlich auf direkte und energische Art in ‚die Ökonomie‘ intervenieren.”13
Es scheint deshalb sinnvoll, von einer strukturellen Interdependenz
(wenn auch nicht Interessensidentität) von Staat und Kapital
auszugehen: Kapitalien brauchen aus einer Vielzahl von Gründen
staatliche Unterstützung, während die relative Macht eines jeden
Staates von den Ressourcen abhängt, die der Prozess der
Kapitalakkumulation generiert.14
Zweitens: Konkurrenz entwickelt sich im Weltmaßstab und nimmt nicht nur
die Form ökonomischer Konkurrenz zwischen Unternehmen, sondern auch die
Form militärischer und diplomatischer Konflikte zwischen Staaten an.
Die geopolitische Konkurrenz geht dem Kapitalismus zwar historisch
voraus; die Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse verlieh
aber jenen Staaten, in denen sie vorherrschten, einen Vorteil in der
zwischenstaatlichen Konkurrenz. Spätestens mit der „Industrialisierung
des Krieges“ im 19. Jahrhundert hatten alle Staaten ein unmittelbares
Interesse an der Förderung kapitalistischer Produktionsverhältnisse
(hochtechnologische Waffen- und Transportsysteme). Zusätzlich
beförderten die Prozesse der Kapitalkonzentration im nationalen Rahmen
sowie die Internationalisierung von Handel und Investitionen die
Verschränkung von Staat und Kapital.15
Anhand dieser Prozesse zeigt sich die wachsende gegenseitige
Abhängigkeit von Staat und Kapital: die geopolitische Konkurrenz wurde
unter die ökonomische Konkurrenz zwischen Kapitalien subsumiert. Beide
Konkurrenzformen sind, wie auch die jüngere imperialismustheoretische
Diskussion gezeigt hat, zwar nicht aufeinander reduzierbar, aber
unauflösbar ineinander verschränkt.16
Damit sind jedoch Staaten genauso wie Privatunternehmen immer auch auf
die Produktivitätsniveaus im Weltmaßstab verwiesen. „[M]it der
Verschränkung von zwischenstaatlicher und ökonomischer Konkurrenz …
sind Staaten gezwungen, sich immer enger an den vorherrschenden
weltweiten Bedingungen zu orientieren und ihre Strategien
dementsprechend auszurichten.“17 Der Staat ist ebenso wie Unternehmen den Imperativen kompetitiver Kapitalakkumulation untergeordnet.18
Duale Revolution
Erster Ausgangspunkt jeder Untersuchung der Dynamik und Funktionsweise
kapitalistischer Gesellschaftsformationen – auch der Sowjetunion – ist
deshalb die Annahme, dass diese nicht allein im Hinblick auf die
inneren Kräfteverhältnisse, sondern nur im Kontext des kapitalistischen
Weltstaatensystems und der kapitalistischen Weltwirtschaft angemessen
analysiert werden kann.19
Für die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Russland bedeutet
das zuallererst, die räumlichen wie zeitlichen Ungleichmäßigkeiten
kapitalistischer Entwicklung, sowie die spezifischen Möglichkeiten und
Zwänge, denen sich „spätindustrialisierende“ Länder zu stellen hatten,
in den Blick zu nehmen.
Gerade die „passiven Revolutionen“20
in Ländern wie Deutschland und Italien zeigen sowohl, dass es keinen
„normalen“ Entwicklungspfad hin zum Kapitalismus gibt, als auch, dass
der Staat in der Durchsetzung und Restrukturierung der ökonomischen
Verhältnisse gerade bei kapitalistischen „Spätentwicklern“ eine
entscheidende Rolle einnehmen musste. Die Grundzüge dieses Arguments
haben wir bezogen auf Russland in früheren Artikeln dieser Serie (in Perspektiven
Nr. 2) bereits behandelt und dabei gezeigt, wie die spezifischen
Verwerfungen, die die zaristische Variante autoritärer nachholender
Modernisierung nach sich zog, den Nährboden der sozialen
Auseinandersetzungen in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts
bereiteten. Neben den Folgewirkungen von Krieg und Bürgerkrieg waren es
dann gerade auch die Ungleichmäßigkeiten der Entwicklung des
Kapitalismus in Russland, die die postrevolutionäre Situation
überdeterminierten. In diesem Sinn haben wir die Revolution, in
Anschluss an Tony Cliff , als „duale Revolution“ beschrieben, als
Kombination bürgerlicher und proletarischer Dimensionen.
Dass die vorrevolutionären Verhältnisse mit der Revolution nicht
einfach „abgeschafft“ werden konnten, erklärt sich schon aus der
Tatsache, dass eine proletarische Revolution zuallererst eine
politische Transformation (die Zerschlagung des existierenden Staates
und die Etablierung der politischen Herrschaft der ArbeiterInnenräte)
bezeichnet, die die sukzessive Transformation der ökonomischen
Verhältnisse erst ermöglicht. „Sozialismus im Sinne eines
Übergangszeitraums zwischen Kapitalismus und Kommunismus darf deshalb
weniger im Hinblick auf irgendwelche besonderen wirtschaftlichen
Maßnahmen – wie beispielsweise die Verstaatlichung der
Produktionsmittel – verstanden werden, sondern als der politische Rahmen, basierend auf der Rätedemokratie, in der die kapitalistischen Produktionsbeziehungen nach und nach beseitigt werden.“21
Kapitalistische Formen werden demnach auch nach einer erfolgreichen
proletarischen Machtübernahme weiterexistieren. Entscheidend für die
Charakterisierung einer solchen Gesellschaftsformation (als
„Übergangsgesellschaft“) ist die Tendenz des Transformationsprozesses,
in der Marktmechanismen zunehmend von demokratischer Planung abgelöst
werden.22
Die widersprüchlichen Dynamiken der 1920er, die wir in Perspektiven Nr.
6 beschrieben haben, müssen hier nicht noch einmal vertieft werden.
Festzuhalten bleibt, dass nach einem Prozess der sukzessiven Aushöhlung
proletarischer Macht Ende der 1920er Jahre die letzten Überreste des
ohnehin bereits „bürokratisch deformierten“ ArbeiterInnenstaats
beseitigt wurden. Der politischen Macht des Proletariats, auf die sich
eine sozialistische Transformation ökonomischer Verhältnisse stützen
muss, wurde der endgültige Sargnagel verpasst. Mit den
Zwangskollektivierungsmaßnahmen (lies: Enteignungen) wurden zigtausende
Menschen in Lohnarbeitsverhältnisse gedrängt und somit unter
kapitalistische Verhältnisse subsumiert.23
In den Investitionsprioritäten des ersten Fünf-Jahres-Plans wurde die
Konsumtion der Akkumulation und insbesondere dem rapiden Aufbau der
Schwerindustrie untergeordnet.24
In den Zielsetzungen glich das stalinistische Projekt hierbei durchaus
jenem Programm autoritärer Modernisierung, das der zaristische Staat
vier Jahrzehnte zuvor eingeleitet hatte. Anders als in den „passiven
Revolutionen“ jedoch, welche die Hindernisse zur Entfaltung
kapitalistischer Verhältnisse in anderen sich spätentwickelnden
Kapitalismen aus dem Weg geräumt hatten, wurde die staatlich forcierte
Durchsetzung der Imperative der kapitalistischen Akkumulation in
Russland nicht von der zaristischen Autokratie vollendet, sondern
vollzog sich als aktive Konterrevolution von oben. Durch die Zuspitzung
geopolitischer Konfliktlinien Ende der 1920er unter Zugzwang gesetzt,
mutierte die sowjetische Bürokratie zur „Personifikation des Kapitals“.25
Anders als von Trotzki und Co. erwartet, kristallisierte sich die
Restauration des Kapitalismus nicht um die kleinbürgerlichen Profi
teure der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), sondern um die politische Macht
der Staats- und Parteibürokratie, die sich auf Grundlage
verstaatlichten Eigentums als neue herrschende Klasse konsolidieren
konnte.27
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich schemenhaft drei
verschiedene Phasen ausmachen: Eine erste Phase zwischen 1870 und 1929
war von einer Ausdehnung staatlicher Interventionen in die Ökonomie
geprägt. Die starke Verschränkung von Staat und Ökonomie, im 20.
Jahrhunderts besonders durch die weltweiten Monopolbildungen
verdeutlicht, spielten schon in den Imperialismusdebatten dieser Zeit –
etwa bei Nikolai Bucharin, Rosa Luxemburg oder Rudolf Hilfering – eine
wesentliche Rolle. Staatseigentum – so der allgemeine Konsens –
bedeutet, insofern es sich nicht unter demokratischer Kontrolle
befindet, höchstens andere rechtliche Rahmenbedingungen für die
Produktion, nicht aber das Ende der kapitalistischen Wirtschaft. Eine
zweite Phase ist ab den 1930er Jahren zu erkennen, „in der als Folge
von Weltwirtschaftskrise und Rüstungsproduktion die Hochphase
‚staatskapitalistischer‘ Regulierung eingeleitet wurde, die jedoch in
den 1970ern an ihre Grenzen stieß“.28
Folgt man der Argumentation von Tobias ten Brink, ist diese zweite
Phase als eine Reaktion der kapitalistischen Staatenauf die durch die
Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Instabilitäten dieser Zeit zu
verstehen.29
Seit Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, im Zuge der Krise des
Fordismus und der darauf folgenden neoliberalen Wende, erfuhr das
Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie erneut eine Veränderung, so
dass von einer dritten Phase gesprochen werden kann. Aus dieser groben
Unterscheidung dreier Stadien lässt sich entnehmen, dass die Tendenz zu
staatskapitalistischen Wirtschaftsformen nicht allein spezifisch für
die Sowjetunion war, sondern ein wesentliches Phasenmerkmal des
kapitalistischen Staatensystems ab den 1930er Jahren darstellte.30
Die Sowjetunion sowie die Ostblockstaaten repräsentierten in diesem
Rahmen wohl die ausgeprägteste Form des Staatsinterventionismus. Nach
der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre war ein allgemeiner
Trend der bedeutsamen Volkswirtschaften in Richtung Abschottung vom
Weltmarkt festzustellen, welcher wiederum – vor dem Hintergrund der
Krise – Sicherheit bedeuten konnte. Nicht nur in der UdSSR erlaubten
staatliche Interventionen und die Zentralisierung von
Investitionsentscheidungen einen massiven Anstieg der Produktion.31
Die im Falle der Sowjetunion mehr oder weniger unfreiwillige – weil als
Ergebnis der internationalen Isolation zu begreifende – „Politik der
Autarkie“ traf also paradoxerweise zu Beginn der 1930er Jahre auf
weltwirtschaftlich günstige Bedingungen. Das oberste politische Ziel
der sowjetischen Wirtschaftspolitik bestand darin, die ökonomische
Entwicklung des Westens zuerst aufzu- und anschließend zu überholen.
Und tatsächlich entwickelte sich die Sowjetunion, werden die
BIP-Wachstumsraten betrachtet, ziemlich rasch.32
Ein Grund hierfür lag in der kombinierten und ungleichmäßigen
Entwicklung des Kapitalismus: für ökonomisch sich spät entwickelnde
Staaten war es zum Teil möglich, Technologien und andere Mittel von
stärker industrialisierten Staaten zu übernehmen, um die eigene
Entwicklung anzukurbeln. Zudem verhalf dieser spezielle Umstand der
Sowjetunion auch noch zu dem ideologischen Argument, Russland hätte
sich als resistent gegen die große Wirtschaftsdepression Ende der 20er
Jahre erwiesen.33
So kann festgehalten werden, dass das Bestehen bzw. die Entwicklung der
Sowjetunion sowie der osteuropäischen Blockstaaten im Rahmen der sich
wandelnden Weltwirtschaft erklärt werden kann: Die Weltwirtschaftskrise
Ende der 1920er erlaubte einen Aufholprozess, der jedoch – nachdem eine
Erholung des Weltmarktes nach 1945 stattgefunden hatte – mit etwas
Verzögerung an sein Ende gelangte. War die Politik der Autarkie eine
Zeit lang relativ erfolgversprechend, bedeutete die Nichtteilnahme an
der zunehmenden Internationalisierung und der damit einhergehenden
internationalen Arbeitsteilung eine immer ineffizientere
Kapitalakkumulation. Dies galt jedoch, wenn auch in unterschiedlichen
Graden, nicht bloß für die UdSSR, sondern für die verschiedenen
Spielarten des Plan- und Entwicklungsstaates, der nach einer Phase des
Wiederaufbaus und Nachkriegsaufschwungs in die Krise geriet.34
Parallel zur allgemeinen Tendenz der Abschottung verlief der Aufbau
einer riesigen Kriegsindustrie. Der Rüstungswettbewerb stellte von
Anfang an ein wesentliches Kennzeichen der geopolitischen Konkurrenz im
weltweiten kapitalistischen Staatensystem dar, doch ist etwa ab Mitte
der 1930er Jahre eine Intensivierung bzw. der Beginn einer mehr oder
weniger weltweiten „permanenten Rüstungswirtschaft“ feststellbar, die
im Kalten Krieg ihren vorläufigen Höhepunkt fand.35
Diese geopolitisch-militärische Konkurrenz spielte keine unwesentliche
Rolle für das Bestreben der Sowjetunion, die ökonomische
Marktkonkurrenz zu umgehen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel des
internationalen Wettrüstens am deutlichsten, dass die Sowjetunion nicht
bloß durch endogene, sondern auch durch exogene Bewegungsgesetze
angetrieben wurde.36
„Tatsächlich hängt die stalinistische Planung … von Faktoren ab, die
außerhalb ihrer Kontrolle liegen, nämlich von der Weltwirtschaft, der
internationalen Konkurrenz“.37
Die Planung war demnach keineswegs willkürlich, sondern
Investitionsentscheidungen waren wesentlich von weltpolitischen
Rivalitäten geprägt. Folglich drückten sich „die kapitalistischen
Akkumulationszwänge … in einer ‚verschobenen‘ Form aus, in einem
erbitterten Drang nach ‚Gebrauchswerten‘, genauer gesagt [in] der
Schaffung von Destruktionsmitteln.38
Kriegsmaterialien, an denen der Staat als Verbraucher interessiert war,
wurden zum Ziel der Produktion erhoben. Sie sollten dem eigentlichen
Bestreben, nämlich dem Sieg im militärischen und geopolitischen
Konkurrenzkampf, dienen. „Gebrauchswerte werden also zum Ziel der
Produktion, bleiben aber nach wie vor [bloße] Mittel im
Konkurrenzkampf.“39
Wertgesetz?
Hier soll nun ausführlicher gezeigt werden, wie zum einen die Zwänge
des Wertgesetzes, vermittelt durch die geopolitische Konkurrenz, die
Allokationsentscheide und Investitionsprioritäten der sowjetischen
Planungsbürokratie anleiteten, und wie zugleich die im Unterschied zu
den westlichen Kapitalismen extrem ausgeprägte bürokratische
Deformation des Wertgesetzes ganz spezifische Entwicklungsmuster der
sowjetischen Kommandowirtschaft verständlich machen.40
Mit dem oft überstrapazierten Begriff „Wertgesetz“ wird ganz einfach
der aus der Konkurrenz entstehende Druck auf die einzelnen
Produktionseinheiten bezeichnet, sich auf die Produktivitätsniveaus
jeder anderen Produktionseinheit zu beziehen. Weil als
gesellschaftliche und somit wertbildende Arbeit nicht die konkret
verausgabte Privatarbeit, sondern abstrakte gesellschaftlich notwendige
Arbeit gemäß durchschnittlicher Produktivität gilt, zwingt der externe
Druck der Konkurrenz die einzelnen Produktionseinheiten zur
Reinvestition von Mehrwert – sich also „als Kapital zu verhalten“41
– und die Produktivitätsniveaus an den gesellschaftlichen Durchschnitt
anzugleichen. Das Wertgesetz manifestiert sich somit als Mechanismus
der Allokation gesellschaftlicher Arbeit auf die unterschiedlichen
Branchen und Einheiten der Produktion.
In welchem Sinn wirkten diese Mechanismen in der sowjetischen Ökonomie?
Solange wir die Sowjetunion in Isolation von Weltmarkt und
Staatensystem betrachten, scheint es, als hätten wir es tatsächlich mit
einer nicht-kapitalistischen Ökonomie zu tun.42
Die Allokation von Ressourcen geschieht bürokratisch geplant und
unabhängig von Produktivität und Profitabilität. Die Arbeitsprodukte
einzelner Produktionseinheiten werden nicht durch Marktmechanismen im
Tausch aufeinander bezogen, sondern zentral koordiniert, individuelle
Privatarbeit gilt unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit. Weil
zugleich die ökonomischen Beziehungen der sowjetischen Wirtschaft zum
Weltmarkt nur schwach ausgeprägt waren, kann demnach die
Marktkonkurrenz nicht als externer Druck wirken, der die
Produktionseinheiten zwingt, sich als Kapital zu verhalten.
Sobald jedoch der Staat und die zwischenstaatliche Konkurrenz nicht als
bloßer „Überbau“ verhandelt werden, verändert sich das Bild.
Prinzipiell gibt es weder theoretisch noch historisch ein stichhaltiges
Argument, warum nicht auch andere als Marktmechanismen den ständigen
Vergleich und die Gleichsetzung individueller Privatarbeiten vermitteln
können. Wie wir gesehen haben, hat in bestimmten Entwicklungsphasen des
Kapitalismus die unmittelbare Funktion des Marktes, verschiedene
Produktionsprozesse zueinander in Beziehung zu setzen, stark an
Bedeutung verloren. Am deutlichsten ausgeprägt in den
„Kriegswirtschaften“ der 1930er und 1940er Jahre war es letztlich die
geopolitische Konkurrenz, die die staatlich vermittelte
Durchsetzung der Wertgesetzmäßigkeiten organisierte. Zwar konnte der
Staat hier Preise fixieren, so dass Produktivität und Profitabilität
unmittelbar keine allokative Funktion erfüllten; dennoch mussten sich
staatlich koordinierte Planungsentscheide auch hier notwendig an den
durchschnittlichen Bedingungen im Weltmaßstab orientieren.
Der Staat zwang also die Produktionseinheiten, sich so zu verhalten,
als ob sie sich am Markt behaupten müssten – er zwingt ihnen das
Wertgesetz auf. Wie Chris Harman ausführt: „Kein moderner Staat kann
zulassen, dass die Mechanismen des Marktes – des Wertgesetzes – ihre
Fähigkeit zur Kriegsführung zerstören … Das Wertgesetz, das aus der
inneren Funktionsweise des Großkonzerns oder der militärischen Planung
des Staats verbannt ist, übt nichtsdestotrotz einen entscheidenden
bestimmenden Druck von außen aus. Die Richtung der ‚Planung‘ ist nicht
beliebig. Sie muss Unternehmen und Staaten ermöglichen, langfristig mit
anderen militärisch oder ökonomisch zu konkurrieren.”43 Insofern kann die sowjetische Wirtschaft als Extremfall einer „mobilisierten Kriegswirtschaft“44
charakterisiert werden. Seit 1929 war die russische Wirtschaft Zwängen
unterworfen, die in erster Linie aus den geopolitischen
Konkurrenzverhältnissen mit dem westlichen Kapitalismus entsprangen.
Der Vergleich individueller Privatarbeiten und die Reduktion auf
abstrakte gesellschaftliche Arbeit vollzog sich vermittelt durch und
transponiert auf die geopolitischen Konkurrenzverhältnisse der Staaten.
Somit wird deutlich, dass die (reaktiven) Planungsentscheide der
sowjetischen Bürokratie nicht im luftleeren Raum ausgeheckt wurden –
der Fokus auf die Entwicklung der Schwerindustrie kann z.B. eben nicht
psychologisch aus irgendwelchen metallischen Vorlieben der Stalinisten
erklärt werden. Die politischen Entscheidungen der Bürokratie waren
durch die Konkurrenz bestimmt, auch wenn diese nicht die Form im
strengen Sinn ökonomischer Markt-Konkurrenz annahm.45 Aber die Konkurrenzverhältnisse waren kapitalistische Konkurrenzverhältnisse,
weil sie den ständigen Vergleich der Produktivitätsniveaus im
Weltmaßstab und die konstante Transformation des Produktionsprozesses
erforderten.
Der Plan repräsentierte nicht die Substitution der
Konkurrenz, sondern gerade den Mechanismus, durch den sich die globalen
Konkurrenzverhältnisse in den Planungsentscheiden durchsetzen. Wie es
der Ghostwriter von Brezhnevs Memoiren ausdrückte: „es gab die
allgemeine Erkenntnis, dass wir in unserer Planung daran gebunden
waren, nicht davon auszugehen was ‚möglich‘ war, sondern davon, was
nötig war.“46
Gareth Dale betont: „das Ausmaß der Ressourcen, die jedem
Investitionsprojekt zugeteilt wurden, [wurde] weniger dadurch bestimmt,
was die Ökonomie tragen konnte, sondern durch die Standards, die die
Konkurrenten setzten.“47
Zur Charakterisierung bestimmter Gesellschaften als kapitalistisch
hilft daher ein formalistischer Ansatz nicht weiter, der in Form einer
Checkliste die Kategorien des Kapital den
konkreten Gesellschaftsformationen entgegenhält. Wer die Frage nach der
Wirksamkeit des Wertgesetzes in der UdSSR in der Form „Gibt es
Warenproduktion in der UdSSR?“ stellt, stellt sie auf künstliche und
statische Weise. Tatsächlich: wenn wir die Produktion in der UdSSR in Isolation
betrachten, dann handelt es sich nicht um die Produktion von
Tauschwerten, sondern die Produktion von Gebrauchswerten als Ergebnis
zentral koordinierter konkreter Arbeiten. Aber sobald wir die
Analyse auf die Ebene der internationalen Konkurrenz heben, sehen wir,
dass Güter in der UdSSR die gesellschaftliche Rolle von Waren annehmen
– als Verkörperung abstrakter Arbeit. Die russische Bürokratie vergleicht die
Kosten zur Produktion von Gütern in der UdSSR mit den Produktionskosten
anderswo, und dieser Vergleich bezieht die konkreten Arbeiten auf
abstrakte Arbeit im Weltmaßstab. Daher wird jede Veränderung im
Produktionsprozess im Westen auch Veränderungen im Produktionsprozess
in Russland erzwingen – und vice versa. Sicherlich gestaltete
sich die bürokratische Durchsetzung der Wertgesetzmäßigkeiten als
schwierig, und die durchstaatlichte Organisation der Wirtschaft
bedingte spezifische Modifikationen in deren Wirkungsweise in der internen Funktionsweise
der Sowjetökonomie. Da die zentralstaatliche Administration der
Wirtschaft – zumindest in der Investitionsgüterindustrie (bei Marx
„Abteilung I“ genannt) – den Zusammenhang von Produktion und Verkauf
garantierte, konkrete Arbeit somit unmittelbar als gesellschaftliche
Arbeit validierte, konnte auch Geld keine unabhängige Funktion als
allgemeines Äquivalent annehmen. Es blieb somit auf die Funktionen als
Wertmaß und Zirkulationsmittel beschränkt48, und auch Profite hatten angesichts fehlender genuiner Preise den Charakter künstlicher Konstruktionen.
Begleitet war diese bürokratische Deformation des Werts durch die
bürokratische Deformation des Gebrauchswerts. Wenn Produktion und
Verkauf nicht auseinanderfallen konnten, so repräsentierten die
produzierten Güter immer schon Gebrauchswerte für jemanden.
Während sich im Tausch am Markt erst herausstellen muss, ob ein Produkt
ein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt, sprang hier der Staat ein.
Nicht zuletzt aus diesen bürokratischen Deformationen – die höchstens
quantitativ spezifisch für die Sowjetökonomie sind – erklärt sich dann
auch zu einem Gutteil das enorme Ausmaß ineffektiver und defektiver
Produktion, das die sowjetische Wirtschaft kennzeichnete.49
Dennoch haben gerade jüngere Forschungen auf die Existenz informeller
horizontaler Beziehungen zwischen den einzelnen Produktionseinheiten
der Sowjet-Ökonomie hingewiesen, die halfen, jene durch die
bürokratisch integrierte Organisation der Wirtschaft bedingten
Ineffizienzen auszugleichen. Robert Whitesell etwa hat einen
Quasi-Markt beschrieben, der nicht durch Preissignale operierte,
sondern durch Gütertausch als Antwort auf Engpässe der Wirtschaft.
„Dieser Handelsverkehr … funktioniert auf Grundlage impliziter
Tauschpreise [barter prices], die reale relative Produktivitäten reflektieren, und dadurch die Input-Allokation gegenüber den Planvorgaben verbessern.”50
Durch diese Mechanismen habe die Sowjetunion ein Niveau allokativer
Effizienz erreicht, das sich nicht signifikant vom Westen unterschieden
habe.51
Auf Grundlage ähnlicher Argumente haben bestimmte marxistische Theorien
über die Sowjetunion deren kapitalistischen Charakter im Wesentlichen
in den internen „Konkurrenzverhältnissen“ autonomer
Produktionseinheiten (die als Konkurrenz „vieler Kapitalien“
konzeptualisiert wird) zu verorten versucht. (z.B. Paresh Chattopadhyay
oder Neil Fernandez).52
Bei allen Einsichten im Detail halten wir den theoretischen
Einstiegspunkt und methodischen Nationalismus dieser Ansätze dennoch
für grundfalsch. Zwar ist wichtig herauszustellen, dass der
„Planungsprozess auch ein kompetitiver Prozess [war], der sich in den
Auseinandersetzungen zwischen zentralem Plan und den Interessen der
lokalen Manager, zwischen Managern, zwischen Managern und Arbeitern
sowie zwischen Arbeitern und dem Arbeitsmarkt manifestierte.“ Der
spezifisch kapitalistische Charakter der sowjetischen Wirtschaft
entschlüsselt sich aber nicht aus den internen Tauschverhältnissen der
einzelnen Produktionseinheiten, sondern aus den geopolitisch
vermittelten und staatlich durchgesetzten Zwängen, die staatliche
Investitionsprioritäten diktierten und erforderten, die einzelnen
Produktionseinheiten unter einer „überspannenden
Akkumulationsstrategie“ 53 zu organisieren.54
Lohnarbeit und Arbeitsmarkt
Die bloße Inklusion eines Landes in eine kapitalistische Weltordnung
reicht dennoch noch nicht aus, um eine soziale Formation als
kapitalistisch zu bezeichnen. Zur Illustration sei hier ein Beispiel
genannt: In Osteuropa, und zwar in der Ära der zweiten Leibeigenschaft
(1500-1800), führte das Aufkommen eines gesamteuropäischen Marktes für
Getreide zwischen kapitalistischen bzw. sich modernisierenden Staaten
und die Integration in diesen Markt nicht zu kapitalistischen
Dynamiken. Im Gegenteil blieben in Osteuropa feudale
Produktionsverhältnisse trotz massiver Getreideexporte, also trotz
einer Einbindung in den Weltmarkt, bestehen.55
In Russland sahen die Verhältnisse anders aus. In der Sowjetunion sowie
in den Ostblockstaaten wurde der Mehrwert – ebenso wie in den anderen
kapitalistischen Ländern auch – durch die Lohnform von den direkten
ProduzentInnen abgepresst. Der offiziellen sowjetischen Theorie zufolge
durfte Arbeitskraft keine Ware sein.56
Wird jedoch ein Blick auf empirische Untersuchungen zur konkreten Form
der Arbeitsverhältnisse geworfen, besteht kaum Zweifel daran, dass die
Arbeitskraft in der UdSSR durchaus Warenform annahm. Dieser Ansatz ist
allerdings nicht unumstritten. Häufig wurde argumentiert, dass die
Tyrannei des stalinistischen Regimes die ArbeiterInnen eher als
SklavInnen erscheinen lasse denn als ArbeiterInnen.57
Es ist richtig, dass die sowjetische ArbeiterInnenschaft nicht das
Recht hatte, sich zu organisieren, und auch sonst kaum bis gar keine
demokratischen Freiheiten genoss. Doch sind diese – auch wenn es
bezüglich demokratischer Mitbestimmung verschiedene Abstufungen gibt –
nun gerade kein Charakteristikum, das den weltweiten Kapitalismus
auszeichnen würde. Es sind andere Kriterien, die in der Debatte um
Lohnarbeit in der UdSSR ausschlaggebend sind und folglich einer
Untersuchung bedürfen. Damit Arbeitskraft zur Ware wird, müssen zwei
Bedingungen gegeben sein: Erstens muss es Menschen geben, die als
EigentümerInnen über ihre Arbeitskraft verfügen, ihre Arbeitskraft also
verkaufen können. Für SklavInnen oder leibeigene BäuerInnen wäre dies
nicht möglich, da sie keine rechtlich freien Personen sind. Zweitens
muss es Menschen geben, die „frei“ von Produktionsmitteln und daher
gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Diese „doppelte
Freiheit“ äußert sich darin, dass die eigene Arbeitskraft – im
Unterschied zu der eines/r SklavIn oder Leibeigenen – stets nur für
bestimmte Zeit verkauft wird. Das Problem, das sich nun für
Sowjetrussland stellt, ist folgendes: Wenn es tatsächlich nur einen
Unternehmer – den Staat – gab, wäre ein „Wechsel des Lohnherrn“ sowie
der periodische Verkauf der Arbeitskraft bloße Formalität.58
Die Situation in der UdSSR stellte sich jedoch weitaus komplexer dar,
als dass der Staat schlicht mit einer großen Fabrik gleichgesetzt
werden könnte. Die Sowjetunion war eine Nationalökonomie, und als
solche stand sie Problemen der effektiven Verteilung von Arbeitskräften
auf die verschiedenen Produktionszweige gegenüber. Hätte diese
Verteilung systematisch und ausschließlich auf Zwang basiert, könnte
tatsächlich nicht von LohnarbeiterInnen, sondern müsste viel eher von
einer Art Staats-SklavInnen gesprochen werden.59
Dies war jedoch nicht der Fall. Es lässt sich zeigen, dass jene oben
erwähnten Voraussetzungen für das Bestehen von Arbeitskraft als einer
Ware durchaus gegeben waren. Erstens ist davon auszugehen, dass die
Mobilität der Arbeitskraft in keinem hoch entwickelten,
kapitalistischen Land uneingeschränkt ist – ganz zu schweigen von den
Bewegungsmöglichkeiten der ArbeiterInnen zwischen den verschiedenen
Ländern. Deutlich wird dies vor allem in Kriegszeiten, wenn – in
kapitalistischen Staaten – die Mobilität der Arbeitskräfte besonders
streng reguliert wird.60
Zweitens besteht kein Zweifel daran, dass in der Sowjetunion
Zwangsarbeit in zahlreichen Formen und Abstufungen – und in besonders
hohem Ausmaß während der Stalin-Ära – existierte. Zwangsarbeit wurde
jedoch nie zur dominierenden Form der Ausbeutung in der UdSSR.61
Wenn Lohnarbeit existiert hat, dann muss es auch einen Arbeitsmarkt
gegeben haben. Mit dem ersten Fünfjahresplan nahm die
zentralwirtschaftliche Planung zweifelsohne ein neues Ausmaß an. Doch
wusste „das Zentrum nicht immer genau …, was in der mikro-ökonomischen
Sphäre getan werden muss[te], und [deshalb sollte man] einer Art
Marktbeziehungen der Unternehmen untereinander und zwischen Unternehmen
und Konsumenten Raum geben“.62
Tatsächlich kann der Staat nicht als ein monolithischer Arbeitgeber
verstanden werden. In der Praxis konkurrierten Ministerien und
Unternehmen – die den Ministerien in der Regel unterstanden63
– um Arbeitskräfte. In dieser Situation wirkten Marktkräfte, also
Angebot und Nachfrage bezüglich unterschiedlicher konkreter
Arbeitsleistungen, die sich auf die Löhne auswirkten. Damit sich die
Arbeitskräfte so verteilten, wie es den auszuführenden Planvorgaben
entsprach, wurden verschiedene Anreize geschaffen. Einerseits gab es
offizielle, von Seiten der Regierung vorgegebene, Abänderungen der
Lohnskalen, um das Angebot zu stimulieren. So waren z.B. angesichts des
schlechten Versorgungsniveaus und anderen Unannehmlichkeiten wenige
Menschen bereit, in Sibirien zu arbeiten. „Es wurde [also] notwendig,
den regionalen Aufschlag und damit den Lohnfonds für Unternehmen mit
Standort in Sibirien zu erhöhen“.64
Auf der anderen Seite – da offizielle Änderungen doch verhältnismäßig
selten vorkamen oder vielleicht schlicht und einfach und nicht dem
örtlichen Bedarf entsprachen – bemühten sich einzelne Unternehmen bzw.
Betriebsleiter, die offiziellen Lohnskalen zu umgehen.65
Auch wenn derartigen Unternehmungen Grenzen gesetzt waren, konnten doch
zusätzliche Anreizmechanismen geschaffen werden: mit Hilfe von
Neueinstufungen in höhere Qualifikations- und also Gehaltsklassen, mit
leicht erreichbaren Akkordsätzen, Prämiensystemen, Extrazahlungen,
privilegiertem Zugang zu Gütern und Dienstleistungen usw. wurde
versucht, die Distribution der Arbeitskräfte zu beeinflussen.66
Folglich ist es nicht weiter verwunderlich, dass etliche
Unregelmäßigkeiten in den Lohnverhältnissen auftraten, so dass z.B.
gleiche Arbeiten unterschiedlich bezahlt wurden, je nach dem
Ministerium, dem der betreff ende Betrieb unterstellt war.67
Die Voraussetzung für all dies besteht allerdings darin, dass nicht mit
einer geplanten Arbeitsmobilität zu rechnen war. Arbeitskräfte konnten
in der Regel kündigen und eine neue Beschäftigung suchen.68
„Heute entspricht es einem historiographischen Allgemeinplatz
anzuerkennen, dass sowjetische ArbeiterInnen immer zwischen Betrieben
umhergezogen sind und dass sogar in der Periode der schlimmsten
drakonischen Arbeitsgesetzgebungen unter Stalin eine relativ hohe
Fluktuation am Arbeitsplatz geherrscht hat“.69
Es gab durchaus verschiedene Ausweissysteme und Zuzugsgenehmigungen in
der Sowjetunion. Sie waren dazu gedacht, unkontrollierte Einwanderung
in Großstädte sowie Landflucht zu verhindern bzw. zumindest zu
regulieren. Ausführliche Statistiken dokumentieren jedoch, dass
Millionen Menschen jährlich ihren Arbeitsplatz wechselten.70
Auch wenn es nicht unbedingt im Einklang mit dem Plan stand, gab es
demzufolge ArbeiterInnen, die von Region zu Region zogen, sowie einen
steten Drift von vor allem jungen Menschen von ländlichen Gegenden in
die Stadt.71
All diese Anhaltspunkte weisen darauf hin, dass in der UdSSR ein hoch
entwickelter Arbeitsmarkt und mit diesem eben auch Lohnarbeit existiert
hat.
Den Lohn erhielten die ArbeiterInnen in Form von Geld. Dieses fungierte
tatsächlich auch als solches – d.h. es handelte sich nicht etwa um
Warengutscheine, die nur gegen bestimmte, vorgegebene Güter
eingetauscht werden konnten. So war es möglich, Löhne in Staatsläden
auszugeben, in denen frei zwischen verschiedenen Produkten – auch wenn
Verknappungen keine Seltenheit waren – gewählt werden konnte. Die
Preise spielten hier eine aktive Rolle und beeinflussten die
Kaufentscheidungen der KonsumentInnen. Diese wirkten sich dann wiederum
indirekt auf die Produktionspläne aus.72
Selbst wenn also, wie es in diesem Abschnitt versucht wurde, die UdSSR
in Isolation – sprich unter Abstraktion von der kapitalistischen
Weltökonomie – betrachtet wird, kommt man zu dem Ergebnis, dass es
Lohnarbeit und einen entwickelten Markt für Arbeitskraft und
Konsumgüter gab.
Krisendynamiken
Die beiden letzten Abschnitte haben gezeigt, dass die Sowjetunion eine
Klassengesellschaft war, die von der kompetitiven Logik
kapitalistischer Akkumulation bestimmt wurde. Als solche wies sie auch
typisch kapitalistische Krisentendenzen und -dynamiken auf. Hierbei
scheint es sinnvoll, zwischen kurzfristigen Zyklen („Planzyklen“) und
langfristigen Trends zu unterscheiden, sowie die spezifischen
Entwicklungsmuster aus der Interaktion interner Strukturen und sich
verändernden externen Bedingungen zu erklären.73
Der Versuch, mit den entwickelten Kapitalismen zu konkurrieren, zog in
den stalinistischen Kommandoökonomien einen permanenten Trend zur
Überinvestition nach sich, wobei das exzessive Investitionsniveau
unweigerlich wachsende Engpässe an Rohstoffen, Halbfertigprodukten und
Arbeitskräften bedeutete. Der Nachfrageüberschuss führte zu
inflationärem Druck, der sich direkt in steigende Preise übersetzte,
oder „versteckt“ als akute Güterknappheit artikulierte. Ohne staatliche
Intervention hätte diese Tendenz zur Überinvestition schließlich in die
Stilllegung ganzer Betriebe und Sektoren umschlagen müssen. Aber wie im
Westen während des langen Booms versuchte der Staat auch hier, die
Ökonomie „abzukühlen“. Er ordnete an, bestimmte Investitionen
„einzufrieren“ und Ressourcen umzulenken. Das bedeutete, dass Fabriken
plötzlich von einer Art Output auf eine andere umgestellt wurden (oder
dass manche Projekte einfach auf Jahre unfertig blieben). Der Mythos
der vorausschauenden Planung wurde durch die Realität der reaktiven
Allokation a posteriori konterkariert, die wiederholte
Verlagerungen von Inputs und Outputs – mit der Begleiterscheinung hoher
Verschwendungsproduktion – beinhaltete. In Reaktion auf die
unberechenbaren Entscheidungen der Planungsbürokratie begannen
Fabriksleitungen Ressourcen zu horten und verschärften damit die
Ineffizienz der Wirtschaft noch weiter. Die kurzfristige Lösung bestand
ganz einfach in drastischen Angriff en auf den Lebensstandard der
ArbeiterInnen oder Versuchen der Effizienzsteigerung durch
Technologie-Importe von westlichen Unternehmen, die im Gegenzug
freilich Handlungsräume jenseits der bürokratisch zentralisierten
Verwaltung einforderten.
Langfristig unterminierte diese Überinvestitionstendenz den Prozess
kapitalistischer Akkumulation selbst. In der steigenden
Wertzusammensetzung des Kapitals – und zunehmendem fixen Kapital – ist,
so hat Marx im dritten Band des Kapital ausgeführt, der tendenzielle
Fall der Durchschnittsprofitrate angelegt.74
In „klassischen freien Marktwirtschaften“ würden im Zuge dessen
Investitionsraten fallen. Abgesehen von der Tatsache, dass in der
Sowjetunion auf der Ebene einzelner Betriebe „Mehrwert“ und „Profit“
durch Verzerrungen der Preisstruktur modifiziert waren und die
bürokratische Verwaltung die von Profitabilitätsüberlegungen motivierte
Mobilität von Kapital zwischen Produktionssektoren (und somit die
Herausbildung einer durchschnittlichen Profitrate) unterband, ist für
unsere Diskussion entscheidend, dass die sowjetische Planungsbürokratie
das gesamte Surplus unabhängig von Profitabilitätsüberlegungen
weiterhin investierte und somit zwar bis in die 1970er hohe
Wachstumsraten garantieren konnte, langfristig jedoch die grundlegenden
Probleme sowie die Durchschlagskraft zyklischer Fluktuationen
verschärfte.
Die Mechanismen, durch die diese Widersprüche in „freien
Marktwirtschaften“ temporär gelöst werden, sind in erster Linie jene
durch die Krise selbst bedingten Rationalisierungen des Systems:
Bankrotte ineffizienter Unternehmen, Kapitalabwertung,
Restrukturierung. Gerade diese Mechanismen können jedoch in
staatskapitalistischen Ökonomien nicht greifen. Tendenziell gilt das
freilich für alle modernen Kapitalismen, wie auch die Debatten im Zuge
der jüngsten Wirtschaftskrise zeigen: soll der Staat bankrotte
Unternehmen auffangen, oder riskieren, dass der Kollaps von
Riesenkonzernen andere mit in den Abgrund reißt?
Chris Harman schreibt: „Der Staat … interveniert, um diejenigen
Unternehmen über Wasser zu halten, die durch die Marktkräfte untergehen
würden. Aber der Staat kann das nur tun, wenn er die Kosten der
Rettungsaktionen beinahe bankrotter Firmen mit einem Teil des Mehrwerts
bezahlt, der ansonsten unter den anderen Unternehmen verteilt würde.
Die Rationalisierung des Systems wird nicht länger durch die
Destruktion einiger Kapitalien zugunsten der anderen bezahlt, sondern
durch Einschnitte in die Profitraten aller Kapitalien. Die zyklische
Krise verschärft die langfristige Tendenz fallender Profitraten, statt
sie abzumildern.”75
Für die bürokratischen Ökonomien des Ostblocks ist die Situation noch
schwieriger. Der Staat ist das einzige Kapital; die staatliche
Industrie muss also die Kosten der Elimination ihrer eigenen
ineffizienten Sektoren tragen und das zieht die Wachstumsraten noch
weiter nach unten.
Gleichzeitig bedeutete die enorme weltweite Produktivkraftentwicklung,
dass die sowjetische Ökonomie die Effizienz der westlichen Großkonzerne
nur durch massive Investitionsprojekte erreichen konnte. Der Druck zur
Überinvestition steigt, und die Investitionen sind in wenigen riesigen
Projekten konzentriert, die einen immer größeren Teil des nationalen
Outputs binden. Jedes Mal wenn solche Projekte „eingefroren“ werden
müssen, damit andere fertiggestellt werden können, resultiert das in
enormer Verschwendung. So gut wie alle Ostblockstaaten (wenn auch nicht
Russland selbst) haben daher seit den späten 1960ern und frühen 1970ern
versucht, ihre Probleme durch eine Erhöhung des Außenhandels mit dem
„Westen“ und „Dritte-Welt-Ländern“, sowie durch westliche Investitionen
im eigenen Land zu umgehen. „Sie hofften, dass sie die Ressourcen der
Weltwirtschaft nutzen könnten, um die Verzerrungen zu überwinden, die
der weltweite kompetitive Druck auf die Nationalökonomie erzeugte.“76
Die westlichen Ökonomien hatten diesen Weg der Internationalisierung
des Handels, der Produktion und der Investitionen bereits zwei
Jahrzehnte früher beschritten, und “[s]obald diese
Internationalisierungsprozesse in Gang waren, war der Druck, daran
teilzunehmen, immens. Dies zu unterlassen bedeutete, von den weltweiten
technologischen Fortschritten und den enormen Ressourcen des
internationalen Kreditwesens abgeschnitten zu sein. Es bedeutete, dem
weltweiten Wachstum der Produktivität hinterher zu hinken.”77
Die Internationalisierung der Investitionsströme bedeutete, dass die
Organisationsformen, die die Sowjetunion in eine Supermacht
transformiert hatten, nicht länger mit den globalen Entwicklungsmustern
korrespondierten. Aufgrund der fehlenden Integration in den Weltmarkt
war die sowjetische Wirtschaft abgeschnitten von jenen
Produktivitätsfortschritten, die mit der internationalen Arbeitsteilung
einhergingen. Die Abhängigkeit von Technologieimporten konnte zwar in
den 1970ern durch die hohen Ölpreise am Weltmarkt noch finanziert
werden; aber gerade die Notwendigkeit von Rohstoffexporten machte die
sowjetische Wirtschaft extrem verwundbar für Fluktuationen am Weltmarkt.
Ende der 1980er stieß das Modell autoritärer Modernisierung schließlich
an seine Grenzen. Die institutionellen Strukturen, die die schnelle
Industrialisierung nach 1928 ermöglicht hatten, behinderten nun die
weitere Entwicklung. Die Veränderungen der globalen geopolitischen und
ökonomischen Bedingungen, gekoppelt mit den bürokratischen Hürden
interner Restrukturierung, mussten schlussendlich im „regime change“
münden; Gorbachovs Projekt autoritärer Reform wurde in den Räumen, die glasnost eröffnet hatte, durch Mobilisierungen von unten über sich hinaus getrieben.
Schluss
Die Krisendynamik der stalinistischen Kommandowirtschaften verweist
nicht allein auf die Tatsache, dass die Stabilität des
bürokratisch-staatskapitalistischen Akkumulationsregimes durch die
Veränderungen der globalen geopolitischen und ökonomischen Bedingungen
unterlaufen wurde, sondern zugleich auf grundlegende Widersprüche der
kapitalistischen Produktionsweise selbst. Die Entwicklung der
Sowjetunion blieb an dieselbe Logik, dieselbe Dynamik, dieselben
Imperative geknüpft wie die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft.
Wenn eine „andere Welt möglich“ werden soll, dann können
antikapitalistische Alternativen nicht an den vermeintlich progressiven
Elementen verstaatlichter Planung anknüpfen, sondern an den Potentialen
der Selbstemanzipation, die in den Revolutionen 1917 deutlich wurden.78
Anmerkung
1 Francis Fukuyama ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler, der 1989 das Ende der Geschichte ausrief. Nicht nur der Kalte Krieg, sondern die Geschichte als solche hätte ihr Ende gefunden, wobei er den Siegeszug der „westlichen, liberalen Demokratie“ vor Augen hatte.
2 Callinicos, Alex: Marxist History and the Twentieth Century; in: Wickham, Chris (Hg.): Marxist History-writing for the Twenty-first Century. Oxford 2007, S. 158-179, hier S. 167.
3 Fundierte theoretische Überlegungen wurden vor allem innerhalb der revolutionären Linken entwickelt, als Teil einer internen Kritik an der weiteren Entwicklung bzw. der Degeneration der Revolution von 1917 (vgl. Haynes, Mike: Marxism and the Russian Question in the Wake of the Soviet Collapse, in: Historical Materialism 10:4 (2002), S. 324).
4 MEW 25, S. 33.
5 Callinicos, Alex: Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem?; in: Kaindl, Christina et al. (Hg.): Kapitalismus reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie. Hamburg 2007, S. 11-32, hier S. 22. Vgl. Althusser: Das Marxsche Denken vollzieht sich, „ganz fern von jeder Selbst-Herstellung der Begriff e, durch die Setzung eines Begriff s und die anschließende Erforschung (Analyse) des durch diese Setzung zugleich erschlossenen und geschlossenen (begrenzten) Raumes, usf.: Bis hin zur Konstitution theoretischer Felder eines äußersten Komplexitätsgrades“. (Althusser, Louis: Marx‘ Denken im Kapital; in: Prokla 50 (1983), S. 130-147, hier S. 130, ähnl. auch S. 139)
6 Vgl. Bidet, Jacques: Exploring Marx’s Capital. Philosophical, Economic and Political Dimensions. Leiden 2007.
7 MEW 13, S. 631.
8 „Modifikation des jeweiligen theoretischen Feldes durch das Hinzutreten eines neuen Begriff s, durch das dessen Bedeutung und Grenzen verschoben werden“. (Althusser, a.a.O., S. 141)
9 Callinicos, Alex: Periodizing Capitalism and Analyzing Imperialism. Classical Marxism and Capitalist Evolution; in: Albritton, Robert et al. (Hg.): Phases of Capitalist Development. Booms, Crises and Globalizations. Houndmills 2001, S. 230-245, hier, S. 231. Marx selbst hat einmal nebenbei bemerkt, dass die „Staatseinmischung … das naturgemäße ökonomische Verhältnis verfälscht.“ (MEW 23, S. 587)
10 Dale, Gareth: Between state capitalism and globalization. Oxford 2004, S. 35.
11 Ebd., S. 36.
12 Ebd., S. 36f, Zitate nach Barker, Colin: Th e Force of Value (1998, unveröffentlicht), S. 31.
13 Dale, a.a.O., S. 31, vgl. auch S. 51.
14 Auf der Ebene einzelner Staaten kann diese strukturelle Interdependenz (temporär) auch zur beinahen Auflösung der Ausdifferenzierung von Staat und Kapital führen.
15 Vgl. schon Hilferding, sowie Bucharins „zwei Tendenzen“ der nationalstaatlichen Integration und der Internationalisierung des Kapitals.
16 Vgl. z.B. Harvey, David: Der neue Imperialismus. Hamburg 2005.
17 Dale, a.a.O., S. 37f.
18 Ausführlicher zu Weltmarkt, Staatensystem und dadurch bedingten Modifikationen des Wertgesetzes: von Braunmühl, Claudia: Weltmarktbewegung des Kapitals, Imperialismus und Staat; in: Probleme einer materialistischen Staatstheorie. Frankfurt 1973, S. 11-91.
19 Vgl. Haynes, Mike: Marxism and the Russian Question in the Wake of the Soviet Collapse; in: Historical Materialism 10:4, S. 335f.
20 Zu Gramscis Konzept der „passiven Revolution“ vgl. Morton, Adam David: Unravelling Gramsci. Hegemony and Passive Revolution in the Global Political Economy, London 2007, S. 39-75, sowie Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Hamburg 1991ff ., S. 966 und 1043f.
21 Callinicos, Alex: The Revenge of History. Marxism and the East European Revolutions. London 1991, S. 120.
22 Dessen waren sich auch die meisten Bolschewiki in den frühen 1920er Jahren bewusst. An einen „Sprung in den Kommunismus“ glaubte hier niemand – im Gegensatz zu den voluntaristischen Phantasien im Hochstalinismus.
23 ArbeiterInnen 1928: 3.124.000; 1940: 8.290.000
24 Vgl. Haynes, Russia, a.a.O., S. 85: Verhältnis Abteilung I (Investitionsgüter) vs. II (Konsumgüter): 1928: 39,5 vs. 60, 5%; 1940: 61,0 vs. 39%; 1960: 72,5 vs. 27,5%. Und die Reallöhne wurden drastisch gekürzt: bis in die 1950er erreichten sie nicht mehr das Niveau von 1928.
25
Vgl. Stalin, Josef: Über die Aufgaben der Wirtschaftler,
http://www.mlwerke.de/st/wirtscha.htm (1931): „Wir sind hinter den
fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir
müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir
das zustande, oder wir werden zermalmt.“
Vgl. auch die Resolution am 15. Parteikongress 1927: „Angesichts eines
möglichen Militärschlags kapitalistischer Staaten gegen den
proletarischen Staat [sic] sollte der Fünf-Jahres-Plan die größte
Aufmerksamkeit auf die schnellstmögliche Entwicklung jener Sektoren der
Wirtschaft im Allgemeinen, und der Industrie im Besonderen, legen, die
die wichtigste Rolle in der Sicherung der Landesverteidigung und
ökonomischer Stabilität in Kriegszeiten spielen.” (zit. n. Ellman,
Michael: Soviet Industrialization: a remarkable success?; in: Slavic
Review 63:4 (2004), S. 841-849, hier S. 842)
26 Entscheidend sind schließlich nicht juristische Eigentumsverhältnisse sondern die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Arbeitsprozess. Zur NEP vgl. Duma, Veronika/ Probst, Stefan: Sowjetmacht vs. Parteidiktatur, in: Perspektiven Nr. 6, S. 48-57
27 Vgl. ten Brink, Tobias: Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Münster 2008, S. 184
28 Ebd., S. 184
29 Ebd.
30 Ebd., S. 205
31 Ebd., S. 205f.
32 Ebd., S. 206