Mehr Deutsche via In-vitro-Fertilisation

Die assistierte Reproduktion ist zum neuen Interventionsfeld demografischer Strategien geworden. Nachdem die Krankenkassen bei IVF sparen, besetzt nun die Bevölkerungspolitik das Feld neu. Ein Überblick über Rechenspiele sowie politische InitatorInnen und MitläuferInnen.

Demografische Berechnungen haben einen Sog; mit ihnen lassen sich vielerlei staatliche Maßnahmen begründen. Die Zeiten, in denen es deutsche PolitikerInnen unterließen, menschenökonomische Berechnungen zur Grundlage ihres Handelns zu erklären, um nicht an das Wirken der Bevölkerungswissenschaft im Nationalsozialismus zu erinnern, sind vorbei - spätestens seit der Rentendiskussion und der utilitaristischen Wende im Migrationsdiskurs. Nach der Jahrtausendwende wurden demografische Ziele gar zur Essenz einer nun ausgerufenen „nachhaltigen“ oder auch „bevölkerungsorientierten“ Familienpolitik.(1) Ziel ist es, die Geburtenzahlen zu erhöhen - und dies im übrigen nicht allgemein, sondern insbesondere innerhalb der sozialen Schichten, deren Nachwuchs als besonders wertvolles „Humankapital“ eingeschätzt wird. Die Einführung des Elterngeldes 2007 als Plus im Geldbeutel für die Verdienenden war eine der bekannten Folgen - einhergehend mit einem Minus für die weniger Privilegierten, die die minimalen 300 Euro monatlich nun nur noch ein Jahr und nicht mehr wie vorher zwei Jahre lang erhalten.

Neues Steckenpferd der Bevölkerungpolitik
Seit einem Jahr hat der Kampf gegen die „Vergreisungsfalle“ (2) ein neues Steckenpferd hinzubekommen, nämlich die In-vitro-Fertilisation (IVF). Diskutiert wird, inwiefern Bevölkerungspolitik an der Finanzierung dieser Maßnahme moderner Reproduktionsmedizin ansetzen könne. Im Juli 2008 preschten die drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und Saarland vor und überzeugten den Bundesrat, sich für eine Aufhebung der neuen restriktiveren Finanzierungsmodi für IVF seit 2004 auszusprechen.(3) Begründung; „Deutschland ist (...) in einer demographischen Falle, die es erfordert, alle Maßnahmen zu fördern, um der zunehmenden Vergreisung und dem damit einhergehenden Druck auf die Steuer- und Sozialabgabensysteme entgegenzuwirken.“
Hintergrund der Debatte ist das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz, GMG) vom November 2003. Das gesundheitspolitische Sparprojekt der rot-grünen Koalitionsregierung hob die bisherige Vollfinanzierung von vier IVF-Zyklen für verheiratete Paare durch die gesetzlichen Krankenkassen auf. Als neue Regelung gilt ab dem 1. Januar 2004: Finanziert werden nur noch 50 Prozent der Kosten. Derzeit heißt das: Etwa 1.600 Euro pro Zyklus müssen zugezahlt werden. Weiterhin gibt es auch die 50 Prozent Kassenfinanzierung nur für verheiratete Paare; zudem ist der Zuschuss jetzt eingeschränkt auf Frauen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren, die eine „homologe“ IVF mit den Spermien ihres ebenfalls in Deutschland krankenversicherten, zwischen 25 und 50 Jahre alten Gatten durchführen wollen.

Rechenübungen zu „ausgefallenen Geburten“
Das Deutsche IVF-Register (DIR), eine freiwillig erhobene Statistik der deutschen Reproduktionskliniken, verzeichnete nach der Einführung der Selbstbeteiligung zunächst einen drastischen Einbruch der IVF-Behandlungen. 2003 wurden noch 62.306 Behandlungszyklen gezählt; in den Jahren 2004 und 2005 waren es nur noch 37.633 beziehungsweise 37.130.(4) Allerdings war das Jahr 2003 auch ein Spitzenjahr für die deutsche Reproduktionsmedizin; und 2007 war wieder ein Anstieg der Behandlungen (auf 42.958 Zyklen) zu verzeichnen, womit etwa der Stand von 1999 wieder erreicht wurde. Die in den Medien verbreiteten demografischen Erwägungen beruhen aber auf der drastischen Differenz zwischen den Jahren 2003 und 2004, die sich laut DIR in einem Rückgang um etwa 10.000 Geburten von mit IVF gezeugten Kindern niederschlug.
Wichtigste Quellen in der bevölkerungspolitischen Aneignung dieser Zahlen sind zum einen eine Studie des „Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ und zum anderen die Ausführungen des „Fritz Beske Instituts für Gesundheit-System-Forschung“ in Kiel. (5) Beide Institute griffen die Zahl von 10.000 in einem Jahr „ausgefallenen“ Geburten auf und positionierten sich klar bevölkerungspolitisch. Das Beske Institut erklärte, „die demografische Situation in Deutschland“ mache es „erforderlich, jede Möglichkeit zu nutzen, um die Kinderzahl zu erhöhen“.(6)
Es war allerdings gerade das Beske Institut, das sich als beratender Think Tank für die Aufhebung der Vollfinanzierung von IVF im GMG ausgesprochen hatte.(7) Beskes Arbeiten plädierten allerdings nicht für das Modell einer 50prozentigen Selbstbeteiligung bei IVF, sondern für eine Drittellösung: Die Kosten sollten zwischen Selbstbeteiligung, Kassenzahlung und einem steuerfinanzierten Beitrag des Staates aufgeteilt werden. Entscheidendes Argument, das das Institut in die Debatte brachte und das von der Politik aufgegriffen wurde: Es handele sich bei IVF um eine „versicherungsfremde“, also nicht rein medizinische Maßnahme. Das zweite, damals noch weniger beachtete Teil des Arguments: IVF sei zumindest anteilig auch eine bevölkerungspolitische Aufgabe des Staates.

Bevölkerungspolitisch gleich steuerfinanziert
Die Idee, IVF steuerfinanziert anzubieten, gewinnt neben der Forderung nach einem Zurück zur Kassenvollfinanzierung in den letzten Monaten nun als zweite Option der bevölkerungspolitischen Lobby an Bedeutung. Die Landesregierung Sachsen setzt diese Idee bereits seit dem März 2009 in die Tat um. Seitdem zahlt das Bundesland allen verheirateten Paaren, die mindestens ein Jahr in Sachsen gelebt haben, für die zweite und dritte Behandlung jeweils eine Pauschale von bis zu 900 Euro und für die vierte 1.600 bis 1.800 Euro. (8) Auch der hessische Sozialminister Jürgen Banzer (CDU) sprang jüngst auf diesen Zug auf und schlug den Aufbau einer bundesweiten Stiftung für IVF-Zuschüsse vor.(9) Seit Februar 2009 ist auch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit von der Partie und spricht sich für eine steuerfinanzierte Zuzahlung zu IVF-Behandlungen aus, die zu gleichen Teilen von Bund und Ländern zu zahlen sei. (10) Mit dieser Ankündigung flankierte sie im Februar die Veröffentlichung ihres wieder eindeutig bevölkerungspolitisch orientierten „Familienreport 2009“. Von der Leyen scheint mit ihrer IVF-Position darauf zu reagieren, dass die pronatalistischen Erfolge ihres bisherigen Bevölkerungsprogramms, insbesondere des Elterngeldes, bisher weitgehend ausgeblieben sind. Gerade einmal 3.400 Geburten mehr zählte das Statistische Bundesamt in den ersten neun Monaten von 2008 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2007. Eine simple Rechnung machte daraufhin die Runde: Das Elterngeld hat den Bund circa eine Milliarde Euro jährlich mehr als das Erziehungsgeld gekostet. Demgegenüber erscheint IVF als demografisch effizienteres Investitionsfeld. Denn die Einsparungen der Krankenkassen seit 2004 werden gerade einmal auf höchstens 150 Millionen Euro jährlich geschätzt (11) - und wie gezeigt mit einer Differenz von 10.000 Geburten in Verbindung gebracht.

Jenseits medikalisierter Kinderlosigkeit
Von der Leyen erklärte ihren Schritt in Richtung einer offen bevölkerungspolitisch begründeten Finanzierung von IVF damit, sie wolle sich nicht länger auf „politisches Zuständigkeitsgerangel“ einlassen.(12) Damit verweist sie darauf, dass Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Ansinnen, eine Vollfinanzierung von IVF durch die Krankenkassen wieder einzuführen, bisher stets zurückgewiesen hat - sich auch der neuen Erkenntnis bediendend, IVF sei keine rein medizinische sondern auch eine familienpolitische Aufgabe. Auch jüngste Urteile des Bundessozialgerichts (BSH) und des Bundesverfassungsgerichts (BVG) bestätigten diese Tendenz: Das BSH wies die Klage einer über 40jährigen gegen die Altersgrenze für Zuzahlungen zu IVF mit dem Argument zurück, IVF sei kein Kernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung.(13) Und das BVG lies die Klage eines Paares auf Vollfinanzierung von IVF mangels Erfolgsaussicht erst gar nicht zu. Der Begriff Krankheit könne nicht auf den Wunsch nach Familienplanung erweitert werden. Der Anwalt der Klagenden kündigte daraufhin an, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Schließlich widerspreche Karlsruhe damit dem Verständnis der Weltgesundheitsorganisation, die Unfruchtbarkeit sehr wohl als Krankheit fasst.(14)
Selbst die Ärzteschaft rückt gerne von der rein medizinischen Sicht auf IVF ab, wenn neue Geldquellen winken. Zwar plädieren die Reproduktionsmediziner mit ihrer Lobby in der Bundesärztekammer weiterhin für eine Vollfinanzierung von IVF für alle Altersgruppen. Wenn es passt, sind sie aber auch für bevölkerungspolitische Begründungen zu haben, wie etwa eine Fortpflanzungsmedizin-Konferenz in Saarbrücken deutlich machte. Eine dort anwesende Kommentatorin für die „Ärzte Zeitung” beobachtete empört, dass sich hier die Ärzte für die Sicherung ihrer Finanzierung ohne weiteres auch „Argumentationshilfe aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik holen.“(15) Auch Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe begrüßte eine Beteiligung des Staates an der IVF-Finanzierung bereitwillig.(16) Der Vorsitzende des Verbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands, Ulrich Hilland, betonte gar, die Fortpflanzungsmedizin sei „eine von vielen Möglichkeiten, der Überalterung der Bevölkerung entgegenzuwirken“.(17)

Wankelmütige linke Gerechtigkeit
Eine offensive Kritik an der pronatalistischen Programmatik war im Kontext der IVF-Diskussion weder von den Bündnisgrünen noch der Linken zu hören. Die Grünen hielten sich - auch als für das GMG verantwortliche Partei - zur IVF-Finanzierungs-Diskussion weitgehend zurück und verwiesen auf eine noch ausstehende Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung. Dagegen stellte die Bundestagsfraktion der Linken in den letzten Jahren gleich zwei, allerdings recht widersprüchliche Anträge zum Thema IVF.(18) Beide zielten auf die Frage eines gerechten Zugangs zu IVF ab, jedoch unter unterschiedlichen Vorzeichen. Der erste Antrag vom März 2007 - also bevor die bevölkerungspolitische Lobby zu IVF laut wurde - bezog sich auf die Ausgrenzung von unverheirateten Paaren aus der Zuzahlung der Krankenkassen zu IVF und forderte Gleichstellung. Über den heteronormativen Rahmen ging die Linke jedoch nicht hinaus und problematisierte nicht den Ausschluss von Lesben und alleinstehenden Frauen aus IVF-Behandlungen. Im Januar 2009 plädierte die Linke nun wie der Bundesrat für ein einfaches Zurück zum Modus der Kassenfinanzierung vor 2004 und verzichtete somit auf die Forderung, Unverheiratete in die IVF-Finanzierung einzubeziehen. Zwar hob die Linke in ihrem Antrag nicht auf Demografie sondern auf soziale Gerechtigkeit (für die Verheirateten) ab. „Die Größe des Geldbeutels sollte (…) nicht über die Durchführung einer künstlichen Befruchtung entscheiden.“ Dennoch, ein solcher Schulterschluss mit der Bundesratsinitiative bestätigt nicht nur das heteronormative Format der deutschen Reproduktionsmedizin, sondern muss sich auch vorwerfen lassen, sich bei den politischen Kräfte anzubiedern, die das Aussterben der Deutschen via IVF angehen wollen - sei es nun gesundheitspolitisch oder familienpolitisch finanziert und eingerahmt.


Susanne Schultz ist Medizin-Redakteurin des GeN. Veröffentlichung: „Hegemonie-Gouvernementalität-Biomacht. Reproduktive Risiken und die Transformation internationaler Bevölkerungspolitik“, Westfälisches Dampfboot, Münster 2006.



Fußnoten:
(1)    Vgl. Heike Kahlert 2007: Demographische Frage, „Qualität“ der Bevölkerung und pronatalistische Politik - ungleichheitssoziologisch betrachtet, in: Prokla, H. 146 37. Jg, Nr. 1, S. 61-76; Constanze Schwärzer 2007: Familienpolitik als Bevölkerungspolitik. Eine Diskursanalyse aktueller familienpolitischer Konzepte im Lichte bevölkerungspolitischer Theorien und Debatten, FU Berlin, Hausarbeit FB Politik- und Sozialwissenschaften
(2)    Britta Hesener: Neue Studie. Raus aus der Demografie-Falle - aber wie?, Stern.de, 27.06.07
(3)     Bundesratsdrucksache 434/08; noch einmal bekräftigt im April 2009 (171/09)
(4)    Gezählt wurden IVF und ICSI-Behandlungen, Jahresbericht des DIR von 2007, www.deutsches-ivf-register.de
(5)    Sabine Sütterlin/Iris Hoßmann 2007: Ungewollt kinderlos. Was kann moderne Reproduktionsmedizin gegen den Kindermangel in Deutschland tun?, www.berlin-institut.org; Fritz Beske 2006: Neubestimmung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung - Ein Handlungskonzept, Schriftenreihe Nr. 107, www.igsf.de
(6)    Zitiert nach Sütterlin/Hoßmann, a. a. O., S. 40. Noch hypothetischer wird die Diskussion, wenn es um langfristige Prognosen geht. Das Berliner Institut warf die Zahl in die Debatte, dass bis 2050 750.000 Kinder in Deutschland via IVF geboren werden könnten, wenn nicht wie in Deutschland (2000 bis 2005) durchschnittlich 1,65 Prozent aller Kinder durch assistierte Reproduktion gezeugt würden, sondern - wie im selben Zeitraum in Dänemark - 3,96 Prozent (PM des Berliner Instituts auf www.berlin-institut.org).
(7)    Fritz Beske u. a. 1996: Belastungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch Fremdleistungen. Analyse und Lösungsvorschläge, Schrifenreihe 57, www.igsf.de
(8)    Ärzte Zeitung, 12.02.09
(9)    Ärzte Zeitung, 23.03.09
(10)    Welt online, 15.02.09, Ärzte Zeitung, 03.04.09
(11)    Ärzte Zeitung, 03.04.09
(12)    Welt, 15.02.09
(13)    Taz, 04.03.09
(14)    Ärzte Zeitung, 19.03.09
(15)    Ärzte Zeitung, 19.02.09
(16)    Ärzte Zeitung, 16.02.09
(17)    Focus, 09.02.09
(18)    Bundestagsdrucksache 16/4808 und 16/11663