Brechts Gedichtfassung des Kommunistischen Manifests

in: "Ringen um Weltbürgerrechte", Das Argument 282 (4/2009), S. 607-615

in (25.09.2009)

Riesige Krisen, in zyklischer Wiederkehr, gleichend enormen / Unsichtbar tappenden Händen, ergreifen den Handel und drosseln / Schüttelnd in schweigender Wut Produktionsstätten, Märkte und Heime. / [...] Wenn das Erzeugnis jedoch nur gebraucht und nicht auch gekauft wird / Weil das Verdienst des Erzeugers zu klein ist – und macht man ihn größer / Lohnt es sich nicht mehr, das Zeug zu erzeugen – wozu dann noch Hände / Mieten? [...] nur: wo dann hin mit der Ware? Und also / [...] Alles ins Feuer geopfert, den Gott des Profits zu erweichen! / [...] Aber ihr Gott des Profits ist mit Blindheit geschlagen. Die Opfer / Kann er nicht sehn. Er ist unwissend. Ratend den Gläubigen, murmelt / Unverständliches er. Die Gesetze der Wirtschaft enthüllen sich / Wie der Schwerkraft Gesetze, wenn über den Köpfen das Haus uns / Krachend zusammenfällt. (GA 5, Das Manifest, 126-28)

Sehr früh im Jahr 1945 begann Brecht an einer Gedichtfassung des Kommunistischen Manifests zu arbeiten, die er zeitweilig auch als Teil eines größeren Projektes plante, als Lehrgedicht analog zu Lukrez’ Versepos De rerum natura. Sein Titel stand noch nicht fest, könnte aber Von der Natur des Menschen gelautet haben, oder, etwas genauer, Von der Unnatur der bürgerlichen Verhältnisse. Brecht fand Zeit für dieses Projekt, da der Schauspieler Charles Laughton, mit dem er das Leben des Galilei übersetzte, wegen einer Filmrolle die Arbeit unterbrechen musste. Aber der eigentliche Grund war das herannahende Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem sich für Brecht die Frage nach der sozialistischen Zukunft Deutschlands stellte (vgl. Hartinger 1982, 34-38). »Zwischen dem ›Lehrgedicht‹ und den schrecklichen Zeitungsberichten aus Deutschland. Ruinen und kein Lebenszeichen von den Arbeitern «, notiert er am 10. März 1945 (GA 27, 221). Es schien ihm möglich, »heute, hundert Jahre später, und mit neuer, bewaffneter Autorität versehen«, die »propagandistische Wirkung [...] durch ein Aufheben des pamphletischen Charakters« zu erneuern (219f). »Die Kunstform des Pamphlets wird ersetzt durch jene des Lehrgedichts «, kommentiert Hans Mayer (1961, 65; vgl. Suvin/Angenot 1997). Der »Mut zur Wahrheit« genügt nicht; die »List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten«, muss hinzukommen (»Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, 1934, GA 22.1, 81). Schlussfolgernd heißt es dort:

Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. [...] wir können die Wahrheit über barbarische Zustände nicht erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden, und [...] ihnen die Wahrheit so zu reichen, dass sie eine Waffe in ihren Händen sein kann. (GA 22.1, 88f)

Es gab aber noch einen weiteren, weniger an den Moment gebundenen Grund, das klassische Modell des epischen Verses, den lateinischen Hexameter, als pädagogischen Königsweg zum Verständnis des Hörers zu verwenden. In einem nach dem Arbeiter-Aufstand im Juni 1953 geschriebenen Memorandum, als Brecht wieder darüber nachdachte, wie die marxsche Tradition für die deutschen Arbeiter erneuert werden könnte, kam er zu dem Schluss:

[Die] zwei großen Lehrgedichte der Römer [...], die ›Georgica‹ des Virgil und ›Von der Natur der Dinge‹ des Lukrez, [sind einmal die] Vorbilder dafür, wie man die Bearbeitung der Natur und eine Weltauffassung in Versen beschreiben kann, und des andern haben wir in den schönen Übersetzungen von Voss und Knebel Arbeiten vor uns, die wunderbare Aufschlüsse über unsere Sprache geben. Der Hexameter ist ein Versmaß, das die deutsche Sprache zu den fruchtbarsten Anstrengungen zwingt. Sie erscheint deutlich ›gehandhabt‹, was das Lernen sehr erleichtert. [...] der große Kunstverstand der Alten entwickelt sich an großen Inhalten. (GA 23, 269f)

Hanns Eisler, der abgeraten hatte, korrigierte später seine Haltung: »Denn hätten wir heute ein Epos ›Das Kommunistische Manifest‹ von Brecht, wäre es als ein ganz seltenes Kunstwerk in die Geschichte der Menschheit eingegangen.« (1975, 120) Entmutigt auch durch Feuchtwanger (vgl. 1957, 103-08; Bunge 1963), beschäftigt mit anderen Arbeiten, unsicher, wer die Leser des Gedichtes sein würden, brach Brecht seine Ausarbeitung ungefähr im September 1945 ab, wenn er auch bis zum Ende seines Lebens immer wieder darauf zurückkam.

Verserzählung als Erkenntnis

Man kann sich Idealtypen der Beziehung zwischen Dichtung und Lehre vorstellen, wo Dichtung sich vollständig im Dienst der Lehre befi ndet, und andersherum: Entweder Verse als fl ache rhythmische Eselsbrücke, um die Pille der Lehre zu versüßen, oder Lehre als allgemeinen, oftmals weit entfernten Anker, um die anders gearteten – kompatiblen aber reichhaltigeren – Anliegen des Dichters zu organisieren. Das beste Beispiel des zweiten Extrems ist wohl Dantes Komödie, oder zumindest deren erste beiden Teile. Aber im Fall von Brecht ist die Gefahr eher das erste Extrem, das heißt, die Verwendung der Verse für den hauptsächlichen oder sogar einzigen Zweck der Formulierung einer erkenntnishaften Theorie, eine Verwendung, für die Aristoteles bereits in seiner Poetik Empedokles von der Dichtung zur Physik verwiesen hat.

Im Gegensatz dazu stünde ein gültiges Gedicht – d.h. eines, das einen guten Grund hat zu existieren – neben einer Prosa, die dieselben doktrinären Begriffe und Argumentationen verwendet. Es wäre irgendwo in der Mitte zwischen den oben genannten Extremen anzusiedeln, in einem kreativen Raum, wo Ziele und Mittel, Sinn und Sinnlichkeit, Lehre und Dichtung in einer mehr oder weniger fruchtbaren Spannung verbleiben. Dies kann man verfolgen auf der Linken angefangen von Majakovski, Neruda oder Brechts Manifest und auf der Rechten von Eliots Four Quartets oder einigem von Pounds Pisan Cantos. Die »liberale« bürgerliche Mitte, nachdem sie im Sattel ist, hat keinen leidenschaftlichen Grund, didaktische Dichtung zu komponieren, die seit den Romantikern aus Unzufriedenheit geboren zu sein scheint.

In den 1920er Jahren äußerte Brecht, dass Petroleum nicht in die Form eines in fünf Akte gegliederten dramatischen Spannungsaufbaus hineinpasse; in der Folge hat er seine ›epische‹ oder dialektische Dramaturgie ausgearbeitet. In analoger Weise passt die Sprache des Kommunistischen Manifests nicht in die dominierenden Formen der englischen individualistischen Lyrik. Mit der lockeren Form der Ballade wäre es leichter gewesen (Brecht liebte z.B. Sir Patrick Spens oder die Moritat Das Seemannslos). Deshalb glaube ich, dass Brechts Intuition, den Hexameter zu benutzen, richtig war. Geschickt hat er ihn variiert und bereichert; doch war es schwer, der terminologischen Strenge des Manifests gerecht zu werden: Wie kriegt man etwa das Wort »Proletariat« in einem Hexameter unter?, fragte Feuchtwanger. Und man kann sehen, wie Brecht sich müht, Synonyme zu finden:

durch die Jahrhunderte, immer ihr dienend / Wuchs mit der Bourgeoisie auch das Proletariat, der modernen / Arbeiter, lebend durch Arbeit, doch Arbeit nur kriegend, solang sie / Arbeitend in seinem Dienst des Bourgeois Kapitalien vermehren. (GA 15, 128f)

Brechts Manifest wirkt an der Tendenz der besten Dichtung unseres Zeitalters mit, eine anti-idealistische Sprache mit exakten Begriffen zu verwenden: »der Stil eines Gelehrten / ein wenig korrigiert von einer Putzfrau« (Gozzano 1993, 178). Dies passt zu Brechts konstantem Versuch, plebejische Demystifikation von unten mit präziser intellektueller Kritik zu kombinieren. Der dazugehörige Horizont ist der einer Verserzählung als – nicht nur begriffliche – Erkenntnis, in Wechselwirkung mit Beobachtungen von Haltungen. Solche Dichtung kommt dem Geschwätz der kapitalistischen Medien und dem konformistischen Common Sense in die Quere. Wie Brecht in seinem Gedicht »An die dänischen Arbeiter-Schauspieler« darlegte, ist diese Dichtung mit präziser Beobachtung wiederkehrender oder typischer Vorkommnisse oder Beziehungen befasst. Derartige materialistische Poesie unterscheidet sich von der Prosa der präzisen Beobachtung und bleibt doch mit ihr durch eine Nabelschnur verbunden.

An Brechts Manifest lässt sich beobachten, wie objektiver Bericht sich mit einer geradezu zeremoniellen Ritualisierung berührt und mit ihr verschmilzt – durch Wiederholungen, syntaktische Inversion, Enjambement und einem pointierten Rhythmus. So wird charakteristischerweise die rhetorische Figur der Adnomination verwendet, die die Wurzel des Nomens in der des Verbums wiederholt und umgekehrt (z.B. »passierend ohne Passierschein« oder »Sklaven der bourgeoisen Klasse, täglich und stündlich versklavt«, oder das oben zitierte »Arbeiter, lebend durch Arbeit, doch Arbeit nur kriegend«). Erkenntnis und sinnfällige Verdeutlichung durch Alliterationen, Assonanzen und Echogebung wirken hier zusammen. Die dichterische Bewegung der Erkenntnis ist spiralförmig, da sie zugleich bestimmt wird durch die Natur der Dinge und offen ist für Leidenschaft und kämpferische Anstrengung. Die Bewegung des Verses bringt – unter Teilnahme des Lesers – eine Zeremonie des Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit zur Aufführung, in dem die Worte und Dinge allegorische Gesichter und Gestalten erhalten.

Brecht stellt sich bewusst in eine Tradition, deren Anspruch an die Gegenwart er aufnimmt. Er will für den in Deutschland 1945 vergessenen Marx das sein, was Lukrez für Epikur war. Epikurs Lehren überdauerten nur in einigen Fragmenten – und in den Versen des Lukrez, in denen er als der große und glorreiche Befreier der Menschheit von Aberglaube und Todesfurcht gepriesen wird, in dessen Fußstapfen der Dichter zu treten wünscht. Die Ahnung, dass auch Marx – praktisch, wenn nicht buchstäblich – dem Vergessen anheimfallen könnte, war Brecht stets gewärtig. Dies kann an seinen Gedichten über die großen exilierten Dichter nachvollzogen werden, unter denen sich – historisch zwar nicht korrekt – auch Lukrez befindet: »Die Auswanderung der Dichter» und »Besuch bei den verbannten Dichtern«.

Heutzutage ist eine derartige Form der erkenntnisorientierten Dichtung eine der besten Methoden, um das Gedächtnis an die großen Hoffnungen im 20. Jahrhundert lebendig zu halten. Sie entreißt Lehren dem Vergessen und macht damit ihre Kritik allererst möglich. Brecht zu verwenden, ohne ihn zu kritisieren, hieße ihn verraten, meinte bekanntlich Heiner Müller. Das gilt heute für alle erkenntnisorientierten Bestrebungen, im besonderen für Marx und die linke Tradition. Die Dichtung ist ein Wächter: »Watchman, what of the night?« Die Nacht ist tief und dunkel, aber nicht endlos: »Sie dauert 12 Stunden, dann kommt der Tag.« (Schweyk im Zweiten Weltkrieg)

Dichtung und Geschichte

Dichtung existiert nicht nur in Bezug auf die Geschichte im Allgemeinen, sondern stets auch in Bezug auf ihre eigene Geschichte. Dichter und Übersetzer wissen das. Doch ist dieses Wissen nicht immer notwendig für die Leser/innen, die sozusagen die Bratkartoffeln für heute auch heute braten müssen. Für sie ist die Beziehung der Dichtung zu dem, was Marx und Engels als die einzige Wissenschaft, die sie »kennen«, bezeichnet haben, grundlegend: die »Wissenschaft der Geschichte«, unterteilt in die »Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen« (MEW 3, 18). Hier sollte es keine besonderen Probleme für einen Dichter als Erzähler geben: Jeder von uns hat Schulden angehäuft gegenüber den Lebenden und besonders den Toten, und der Dichter bezahlt sie mit seiner Dichtung. Die Ökonomie der Person, die eine Schuld abzutragen hat, ist sich hier mit den Wissenschaften und dem marxistischen Verständnis der Geschichte einig, dieser Verpflichtung gegenüber Wahrheit und Erinnerung.

Allerdings ist die vorrangige Frage für einen marxistischen oder sozialistischen Dichter sicherlich die Beziehung seiner Produktion für die heutigen Leser, also zur aktuellen Geschichte. Was hat sich verändert seit dem Kommunistischen Manifest von 1848 und was nicht? Warum wollte Brecht im Jahr 1945 die Wirksamkeit des Manifests erneuern und stärken? Weil es durch die Praxis der Zweiten und Dritten Internationale derart automatisiert und verknöchert worden war, dass es keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockte. In dieser Situation sollte der Wechsel der literarischen Gattung – von einem Prosatext zu einem Erzählgedicht in Hexametern – als Deautomatisierung oder Verfremdung wirksam werden, um eine frische Wahrnehmung, deren es für eine freudige Erkenntnis bedurfte, zu ermöglichen.

Wenn wir uns dem marxschen Manifest und dem brechtschen Lehrgedicht wieder zuwenden, liegt das daran, dass beide in einem erkenntnisbezogenen Horizont situiert sind, dass einige ihrer wichtigsten Einsichten als Anleitungen zum Handeln noch gültig sind; andere helfen uns, unsere Irrtümer aufzuklären. Was sie voneinander unterscheidet, beruht auf der philologischen Einsicht, dass das »Was« vom »Wie« nicht getrennt werden kann. Die Sprache lässt das Gesagte nicht unberührt. Es geht bei der brechtschen Neuaneignung nicht bloß um ein begriffliches Update, sondern darum, das von Marx Gesagte durch sprachliche Umformulierung der Vorstellungswelt der Leser/innen erneut nahe zu bringen. Freilich sind Umformulierungen niemals unschuldig, da das Wie mit dem Was interferiert.

Von der klassischen marxschen Tradition wurde bei Brecht erstens die hegelsche fortwährende Veränderung beibehalten. Brechts Gedicht bezeugt, wie Marxens Erkenntnisse über die Kräfte der Geschichte als politische Ökonomie im Fleisch der arbeitenden Menschen operieren. Zweitens wurde das Manifest durch einige spätere Einsichten von Marx aktualisiert, wie z.B. die zyklische Krisentheorie und der Fetischcharakter der Ware, die als herrliche Doppelpassage über die Ungeheuer der Krise und über den blinden Moloch-Gott des Profits vorkommen (siehe das am Anfang stehende Zitat). Im marxistischen »Gott des Profits« fließen der lateinische Abscheu gegen die »Heiligste Majestät des todesbringenden Reichtums und Geldes« (Juvenal, Satire I, 112f) und der biblische Abscheu gegen falsche Götter (Mammon) ineinander. Brecht schreibt hier im Stil der wirksamsten Avantgardegedichte, die sich als ›Randbemerkungen‹ bei der Lektüre insbesondere sozialwissenschaftlicher Abhandlungen positionieren. Er hielt nichts von dem Gegensatz wissenschaftlichen und künstlerischen Verstehens und Lernens und bestand zugleich auf ihrem Unterschied. Allerdings ist sein Manifest ehrgeizig: Es aktualisiert das Manifest für das Zeitalter, in dem die Bourgeoisie als Antwort auf die ökonomischen Krisen ihres Systems nach Weltkriegen greift.

Die De-Automatisierung des Manifests bedeutet, dass es desakralisiert wird, um der Situation im Jahr 1945 gerecht zu werden. Im März 1945 schreibt Brecht an Korsch, den er, trotz Meinungsverschiedenheiten, als einen seiner wenigen Lehrer verehrte und der auch der prominenteste unter seinen Freunden war, der sein Projekt enthusiastisch unterstützte und als Meisterwerk rühmte (vgl. Korsch 1965, 54): »Einiges im ›Manifest‹ habe ich so vorsichtig wie mir möglich geändert, anstelle der Verelendungstheorie die Unsicherheit durch die konstitutionelle Arbeitslosigkeit gesetzt usw. Halten Sie das für richtig?« (GA 29, 349)

Solche Aktualisierung ist, von der anderen Seite betrachtet, Historisierung. Sogar der Titel, Das (!) Manifest, macht deutlich, dass es sich um ein Zitat handelt, eine Referenz zweiter Ordnung an einen Klassiker: »Das Manifest war ein Bericht seiner Verfasser an die von ihnen gegründete Partei. Brechts Hexameter geben den Bericht eines Berichts.« (Mayer 1961, 65) Brechts Gebrauch verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und ersetzt daher des Öfteren die Vergangenheitsformen von Marx, die er in einigen Anfangszeilen benutzt, mit der Gegenwartsform, was seinen Bericht dramatisch unmittelbarer und lebendiger, aber nicht weniger historisch weitreichend macht. Dazu ein Beispiel:

Falsches darüber von Feinden, von Freunden / Falsches habt ihr gehört. Dies ist was die Klassiker sagen. / So nun entstand, die jetzt vergeht, die Epoche des Bürgers. (GA 5, 136f; Hervorh. D.S.)

Schließlich wird die bereits lebhafte Argumentation des marxschen Manifests stärker dramatisiert. Das wird durch mannigfaltige Mittel erreicht: durch syntaktischen Parallelismus an Stelle der marxschen logischen Subordination, durch weitergehende Verwendung der Personifizierung und der dynamischen Handlung (besonders erkennbar bei der Bourgeoisie, dem Ungeheuer Krise und dem Gott des Profits, wie auch beim Gespenst des Kommunismus, das Brecht aktiver darstellt). Er baut somit die bereits bei Marx ausgeprägte phantastische Metaphorik aus (vgl. Suvin 2004). Die Hauptteile des marxschen Manifests beginnen jeweils mit einer allgemeinen These, die dann diskutiert und zu einem allgemeinen programmatischen Fazit geführt wird. Brecht verwendet viel davon, immer aber subsumiert unter die dramatische Geschichte von Arbeitern als Repräsentanten der Menschheit, die einem wachsenden Strudel der Gewalt seitens der blinden Gottheit des Profi ts unterworfen sind.

Man könnte noch vieles über Brechts Wortschatz oder seine rhetorischen Figuren hinzufügen (vgl. Schober 1988, 145-65). Nur soviel: Es gibt in dem Gedicht eine übergeordnete, ungenannte Gestalt, die Stimme des Erzählers. Er ist ein Anthropologe, der voranschreitet in den Dschungeln der Fabriken und Städte, mit einem »heißen Herzen in einer kalten Person« (GA 26, 270), und seine Strenge entsteht aus Blut, Schweiß und Tränen von Millionen über Jahrhunderte hinweg. Hier, die ersten Zeilen:

Kriege zertrümmern die Welt und umgeht zwischen den Trümmern / Sichtbar und groß ein Gespenst, und nicht erst der Krieg hat’s geboren. / Auch im Frieden schon ward es gesichtet, den Herrschenden schrecklich / Aber freundlich den Kindern der Vorstadt. In ärmlicher Küche / Lugte es oft, kopfschüttelnd, voll Zorn, in halbleere Töpfe. / Oft die Erschöpften passte es ab vor Gruben und Werften. / Freunde besucht es im Kerker, passierend ohne Passierschein / Oftmals. Selbst in Kontoren wird es gesehen, und im Hörsaal / Wird es gehört. Zu Zeiten dann stülpt es von Stahl einen Hut auf / Steigt in riesige Tanks und fliegt mit tödlichen Bombern. / Vielerlei Sprachen spricht es, alle. Und schweiget in vielen. / Ehrengast in den Hütten sitzt es, Sorge der Villen / Alles zu ändern und ewig zu bleiben gekommen; sein Name ist Kommunismus. (GA 5, 135f)

Der Diskurs hat sich seit dem 19. Jahrhundert verschoben. Wir befinden uns in der modernen Welt der globalen Kriege, der Panzer, Kampfflieger und Ruinen, der vielen Sprachen und der Repression in den meisten von ihnen; und dennoch, nach wie vor, in einer für Marx wiedererkennbaren Welt, mit Bergwerken, Werften, Büros und Hörsälen – und mit halbleeren Töpfen, erschöpften Arbeitern, Slums und Gefängnissen. Das passt zu dem heroischen Versuch, eine produktive Rückkopplung zwischen Marxens Formulierungen (das Schreckgespenst, das Grabschaufeln, etc.) und Brechts Hinwendung zum Magma der täglichen Erfahrung von Millionen zu schaffen. Philosophisch gesprochen, bewirken Brechts Verse eine Rückkopplung zwischen Deduktion und Induktion, zwischen einem Bezugssystem, das vor dem Gegenstand des Gedichtes existiert (ante rem), und einer Verifizierung plus Modifizierung innerhalb des Gegenstands selbst (in re). Die Modifizierung kann am besten am Eröffnungs-Schachzug gesehen werden, in der besten epischen Tradition des Beginns in medias res: »Kriege zertrümmern die Welt«. Der Klassenkampf wird wieder mit aller Macht im letzten Teil des Gedichts auftauchen, aber schon am Anfang ist er da, nicht nur um einer tausendjährigen sozialen Ungerechtigkeit das Handwerk zu legen, sondern auch angesichts der nunmehr möglich werdenden »Zertrümmerung« der Welt.

Kriege – die beiden Weltkriege wie die 200 »lokalen« Kriege seit 1945 – sind ein wesentliches und unverzichtbares Instrument des Kapitalismus, ohne das die Bourgeoisie nicht überleben könnte, so dass die nachhaltige Vernachlässigung der Reflexion über den Krieg auf Seiten der Linken einem Todeswunsch gleichkommt. Vielleicht fangen wir gerade erst an, uns aus dieser weitgehend selbstgeschaufelten Grube zu befreien, nach den Kriegen am Golf und in Serbien. Brecht kann auch hier als unser großer Vorfahre dienen, der auf prophetische Weise den Weg gezeigt hat.

Der Horizont der Dichtung: Haltungen lehren

Alle Dichtung lehrt Haltungen: Die Petrarcas über die Sehnsucht nach der idealen Frau, die Dantes über die politische Ethik seiner Zeit, die Baudelaires über die Schönheit, die den bösen Großstädten der Bourgeoisie eigen ist. Das ist geradezu genetisch in Dichtung eingeschrieben, die entweder als direkte Begleitung zu gemeinsamer Arbeit begann (Arbeitslieder), oder als ein Moment der Ruhe vor oder nach einer für die Reproduktion des Gemeinwesens wichtigen Unternehmung (Jagd, Ackerbau, Krieg, athletischer Wettbewerb, Gastmahl) in diese eingebunden war. Dabei war der Gesang mit Musik und Tanz ein organisierendes Instrument: Einübung in die Gründe und Modalitäten der Handlung oder Kommentar ihres Ergebnisses. Homers Epik liegt auf halbem Wege zwischen mündlich überliefertem Sagenschatz einer Stammesgesellschaft und dem von einem einzelnen Dichter geschriebenen Text, der für Auftritte einer Gruppe von Bürgern schreibt: Es handelt sich noch um Dichtung innerhalb und für ein Kollektiv, wenn auch nunmehr der aristokratischen Klasse. Alle für sie wissenswerten Gegenstände werden berührt: alle Künste, Kriegführung, Religion, Schifffahrt, Redekunst, Spiele, geographisches und kosmologisches Wissen, Erziehung, Jurisprudenz usw. Die Erzählungen liefern positive oder negative Verhaltensmodelle: Penelope ist die tugendhafte Frau, die allen Anfechtungen trotzt, Achill der Inbegriff des Muts, Thersites der des hassvollen Plebejers. In der späteren, nicht-choralen Dichtung der Klassengesellschaft kamen auch die dem Dichter eigenen Bestrebungen und Erfahrungen zum Ausdruck, ohne dass er den Anspruch auf exemplarische, kollektive Gültigkeit aufgegeben hätte. Das ist auch dann noch so, als die Dichtung beginnt Entfremdung aufzuzeichnen, etwa in dem, was Hesiod in seinem Epos Werke und Tage über unser Eisernes Zeitalter ausführt (Brecht hat ihn Homer, dem Sänger der Kriegeraristokratie, vorgezogen).

Während in der Antike oder im Mittelalter keiner auf den Gedanken gekommen wäre, Dichtung und Politik zu trennen, lehnt der Bürger, der in Deutschland Unternehmer oder Professor werden kann, von der politischen Macht aber ausgeschlossen bleibt, alle Didaktik, zumal das Lehren von Politik, als unerlaubte »Propaganda« ab: »Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!«, befand der große Philister Goethe (Faust I, Auerbachs Keller). Brechts Stimme ist die eines Lehrers, aber eines besonderen: eines sokratischen Vermittlers, der der Maxime folgte, dass der Lernende wichtiger ist als die Lehre. Die Arbeiter-Leser nehmen keine fix und fertige Lehre entgegen, sondern formen im Prozess der Aneignung um – wie Brecht selbst das Manifest sich eingreifend angeeignet hat. Sein Gedicht ist die Stimme eines »Intellektuellen-Lesers«, der bei der Marx-Lektüre einige Antworten gefunden hat und diese werkgetreu wiederholt, indem er sie für die Situation in der Mitte des 20. Jahrhunderts überarbeitet.

In seiner »Dichtkunst« stellt Horaz die Frage, ob die tragischen Dichter, die ihre Argumente von Homer übernehmen, wirklich kreativ Schreibende sind. Er empfiehlt, die epischen Begebenheiten (Themen oder Personen) von Homer zu entnehmen, doch dabei kein serviler Imitator zu sein, sondern ein wahrhafter »Übersetzer«, der die homerischen Charaktere mit neuen Worten und Handlungen ausstattet (vgl. Vico, Neue Wissenschaft, Buch 3, Kap. 4). So kann Brecht ein Dichter genannt werden, der die marxschen Themen und Charaktere wiederaufnimmt, um sie in die Gegenwart zu »übersetzen«. Das Was der Lehren, die zwischen 1848 und 1945 dazugekommen sind – besonders Marxens Krisentheorie, aktualisiert durch die lebendige Erfahrung der Zeit nach dem Crash 1929 –, und einige Lehren des Leninismus, geboren und wiedergeboren aus den Weltkriegen, ist aber formiert aus dem Wie des neuen Erkenntnisinstruments: der lukrezianischen narrativen Dichtung. Brecht betrachtete dieses Instrument mindestens als äquivalent, wenn nicht überlegen dem systematischen philosophischen Diskurs, der eine gute Waffe sein kann, aber zu doktrinärer Erstarrung neigt (Brecht verglich ihn mit einem kondensierten Schneeball, der nicht zu lange in jemandes Tasche verbleiben sollte). Die Grundvoraussetzung ist immer, den zentralen und bestimmenden Horizont der Klassenbefreiung wie auch die Sehnsucht in diese Richtung unverändert zu halten. Brechts Gedicht war nicht vollendet, doch es mündet in ein m.E. hinreichendes Ende. Es antwortet auf die Gewalt der bürgerlichen, die Welt zertrümmernden Weltkriege mit der Perspektive der klassenlosen Gesellschaft:

das Proletariat muss / Unterste Schicht der Gesellschaft, um sich zu erheben, den ganzen / Bau der Gesellschaft zertrümmern mit all seinen oberen Schichten. / Abschütteln kann sie die eigene Knechtschaft nur abschüttelnd alle / Knechtschaft von allen.

Heute müssen wir zwar neu definieren, was wir mit Proletariat meinen, aber ich denke, dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts, inmitten noch schlimmerer Kriege und Katastrophen, immer noch dieses Ende uns auf unsere Weise aneignen müssen.

Aus dem Englischen von Sonja Regler

Literatur

Brecht, Bertolt, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt/MBerlin 1988-98 (zit. GA)

Bunge, Hans-Joachim, »Das Manifest von Bertolt Brecht«, in: Sinn und Form, 15. Jg., 1963, 184-203

Eisler, Hanns, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, Leipzig 1975

Feuchtwanger, Lion, »Bertolt Brecht«, in: Sinn und Form, Zweites Sonderheft Bertolt Brecht, 1957, 103-08

ders., »Die Zusammenarbeit der Dichter«, in: Berliner Zeitung Nr. 301, 25.12.1958

Gozzano, Guido, Tutte le poesie, Rom 1993

Hartinger, Christel, Bertolt Brecht – das Gedicht nach Krieg und Wiederkehr. Studien zum lyrischen Werk 1945-1956, Brecht-Zentrum der DDR, Berlin 1982

Korsch, Karl, »Antwort an bb«, in: Alternative 41, 1965, 54-57

Mayer, Hans, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961

Schober, Rita, »Brechts Umschrift des Kommunistischen Manifests«, in: dies., Vom Sinn oderUnsinn der Literaturwissenschaft, Leipzig 1988, 126-80

Suvin, Darko, »Living Labour and the Labour of Living«, in: Critical Quarterly 46, 2004, 1-35

ders. u. Marc Angenot, »L’aggirarsi degli spettri. Metafore e demistifi cazioni, ovvero l’implicitodel manifesto«, in: M.Galletti (Hg.), Le soglie del fantastico, Rom 1997, 129-66

 

Gekürzte und veränderte Fassung von »On Brecht’s The Manifesto«, in: Socialism and Democracy 16, 2002, 1-31, die auch eine längere Literaturliste enthält. – Ich bedanke mich herzlich für die freundliche Hilfe des Direktors des Brechtarchivs, Erdmut Wizisla, und seiner Mitarbeiter; ebenso für die Ermutigung durch Fredric Jameson, Rick Wolff, Tom Kuhn und Victor Wallis, sowie für die hilfreichen Hinweise von Sonja Regler und der Argument-Redaktion.