Krisenverlauf und Krisendeutung im globalen Finanzmarktkapitalismus

1. Krisenwahrnehmung und -interpretation

 

Während Politik und Medien keine Scheu davor haben, die Turbulenzen an den Finanzmärkten und den aktuellen Konjunkturabschwung superlativisch als „Jahrhundertereignis" (Alan Greenspan), „Mega-Krise" (Börsen-Zeitung) und „größtes Desaster seit 1929/33" (Handelsblatt) zu hypertrophieren, ist von Seiten der Wissenschaft hierzu bisher wenig Verbindliches zu hören. Diese Zurückhaltung ist in bestimmtem Maße der Tatsache geschuldet, dass die Krise noch andauert, ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht hat. Die wissenschaftliche Analyse hat also gerade erst begonnen. Die Vorsicht der Wissenschaftler spricht aber auch für eine gewisse Unsicherheit der professionellen Beobachter, was die Beurteilung und Wertung der Krisenereignisse und des Krisenverlaufs anbetrifft. Allzu viel ist diesmal anders als bei früheren Finanz- und Wirtschaftskrisen. Dies betrifft vor allem die globale Dimension der Krise, das gigantische Ausmaß der Kapitalentwertung, die Verquickung monetärer und realwirtschaftlicher Prozesse, den Vertrauensschwund und kaum wieder gut zu machenden Legitimationsverlust, wovon nicht nur einzelne Investmentfonds, Finanzakteure, Banken und Finanzplätze betroffen sind, sondern zunehmend das finanzkapitalistische System als Ganzes, die marktwirtschaftliche Ordnung und die neoliberalen Ideologie.

Ungewöhnlich ist diesmal auch die Krisenintervention, indem Staat und Notenbank direkt und massiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen und dadurch die ordnungspolitischen Grundlagen infrage stellen. Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche, bringt das Entsetzten darüber zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Was haben wir doch alle Angst gehabt vor Linken, vor Sozialismus und Sozialisierung. Und jetzt? Nicht die Linke siegt, sondern Wirtschaft und Manager kapitulieren. Ausgerechnet zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik steht die soziale Marktwirtschaft, Deutschlands wirtschaftliches und ordnungspolitisches Kerninventar, vor dem Ausverkauf..." (Tichy 2009: 5).

Dies lässt ahnen, warum sich der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream so schwer tut, klare Aussagen über die Krise, deren Verlauf und ihre Folgen, zu treffen. Die gewohnten Erklärungsmuster und Interpretationsschemata greifen nicht. Eine Krise dieses Ausmaßes kommt in den Lehrbüchern der Orthodoxie nicht vor. Ja, streng genommen hätte es sie nach den Regeln der neoklassischen und neomonetaristischen Theorie gar nicht geben dürfen. Also spielt man sie herunter, sieht in ihr lediglich eine unglückliche „Mischung von Staats- und Marktversagen", das Ergebnis „schlecht organisierter Deregulierungsprozesse im Bankensektor" und den Preis für „Habgier und überbordende Spekulation" (Hüther 2009: 128). Diese Auslegung unterscheidet sich kaum noch von einer rein psychologischen Interpretation, welche die Krise als „Resultat der Habsucht", erzeugt von geldgierigen Bankern und Spekulanten, die „nicht genug" bekommen konnten (Dahlke 2009: 26), darstellt. Auch für Attac und viele Linke ist die Krise eine „direkte Folge der Gier und der Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager" sowie der „Tatenlosigkeit der Politik" (Attac 2008). Mehr nicht!

Eine derartige Argumentation erlaubt es, die Krise, statt sie ökonomisch und systemisch zu begründen, politisch und moralisch zu werten, sie als Ausdruck des „kulturellen Werteverfalls" oder als „Kulturkrise" (Richter 2009) zu deuten. Dadurch wird ihr Charakter als „Systemkrise" der deregulierten Marktwirtschaft und des Finanzkapitalismus unterschätzt.

Typisch für die politische und mediale Deutung der Krise ist auch, dass sie zunächst nur als Krise am US-Immobilienmarkt und im Hypothekenbankensektor wahrgenommen wurde. Damit wurde der Eindruck erweckt, es handele sich nur um eine Krise der USA. Dass ähnliche Probleme auch in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien, Irland und Spanien, auftraten, blieb ausgeblendet. Ebenso die weltweite Vernetzung der Finanzierungsstrukturen, welche zwangsläufig die Ausbreitung der Krise auf andere Länder nach sich zog.

Seit dem Frühjahr 2008, als die Krise bereits bedrohliche Ausmaße angenommen hatte, ist in den Medien von einer weltweiten Finanzmarktkrise die Rede, mitunter auch von einer Banken- und Finanzkrise. Obwohl viele Volkswirtschaften, darunter auch Deutschland, zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Rezession steckten, wurden die Begriffe Wirtschaftskrise und Weltwirtschaftskrise noch eine zeitlang tunlichst vermieden. Ganz als ob die Finanzsphäre außerhalb der Wirtschaft und unabhängig von der realen Ökonomie existierte und eine Finanzkrise für die Realökonomie ohne Bedeutung sei. Erst nach der Lehman-Pleite (15.9.2008), als das Bankensystem der USA zusammenbrach und das Weltfinanzsystem zu kollabieren drohte, ging man dazu über, von einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu sprechen. In Bezug auf Deutschland blieb es jedoch bei einer Konjunkturschwäche. Erst nachdem die Statistik keinen Zweifel mehr daran ließ, dass sich auch die deutsche Wirtschaft in einer Rezession befindet, wurde dies offiziell eingeräumt. Dass die Krise länger dauern könnte und möglicherweise in eine Depression münden, wird aber auch jetzt noch nur von wenigen realisiert. Entsprechend dürftig fiel das erste Konjunkturpaket der Regierung vom 5.11.2008 aus.[1] Bereits am 13.01.2009 musste nachgelegt werden. Ein zweites, wesentlich umfangreicheres Konjunkturpaket wurde zur Dämpfung der Rezession beschlossen. Dieses umfasst 50 Mrd. €, darunter 16,9 Mrd. € für öffentliche Investitionen, ferner Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung, Beitragszuschüsse zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die „Abwrackprämie", einen Kinderbonus und die Neuregelung der Kfz-Steuer. Gemessen an den Herausforderungen der Krise erweist sich aber auch dieses Paket als entschieden zu klein. Zudem kommt es zu spät, da es größtenteils erst im zweiten Halbjahr 2009 zu wirken beginnt.

In Medienberichten wird häufig unterstellt, die Krise sei allein der Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft und ihrer Einbindung in den Euro-Raum geschuldet. Wäre die deutsche Wirtschaft weniger vom Ausland abhängig, so würde sie nicht so stark von der Krise betroffen sein. Dieser Argumentation, wonach die Krise quasi importiert wurde oder durch „Ansteckung" über den Export- und Finanzkanal nach Deutschland gelangt sei, die deutsche Wirtschaft selbst aber kerngesund gewesen und keinerlei Veranlassung für eine Krise geliefert habe, kommt nicht von ungefähr. Sie findet sich auch in wissenschaftlichen Stellungnahmen. So sehen zum Beispiel der Sachverständigenrat und dessen Vorsitzender Wolfgang Franz in den „Verwerfungen an den globalen Finanz- und Immobilienmärkten" die entscheidende Ursache für die Wirtschaftskrise. Die dadurch ausgelöste Vermögenspreisdeflation sowie der Anstieg der Energiepreise seien „externe Schocks" für die Weltwirtschaft, in deren Gefolge es „zu einer abrupten und allgemeinen Wirtschaftsschwäche" gekommen sei. Deutschland sei „über außenwirtschaftliche Kanäle" davon betroffen (Franz 2008: 792). Da „externe Nachfrage- und Angebotsschocks" als die eigentliche Ursache für die Krise angesehen werden, diese jedoch von den Finanzmärkten ausgegangen sind, gilt die Krise als im Wesentlichen finanzmarktinduziert (vgl. SVR 2008).

Im Gegensatz hierzu betonen Forscher des ifo-Instituts München, dass die Banken- und Finanzkrise als Begründung für den dramatischen Abwärtstrend der Wirtschaft nicht ausreiche: „Aus zyklischer Sicht war ein Abschwung nach einem fast fünf Jahre währenden weltweiten Boom zu erwarten." Konjunkturtheoretisch erkläre sich dieser als „Folge einer Überhitzung" (Büttner/Carstensen 2008: 787). Die Krise am US-Immobilienmarkt war hierfür nur der zufällige Auslöser. Letztlich sei diese selbst nur „Symptom einer strukturellen Fehlentwicklung", sowohl im privaten Bereich, wo der Konsum schuldenfinanziert und auf Kosten der Ersparnisbildung über Gebühr ausgeweitet worden war, als auch staatlich, wofür das Doppeldefizit, das Budget- und das Leistungsbilanzdefizit der USA, stehe. Damit werden fundamentale wirtschaftliche Fehlentwicklungen und globale Ungleichgewichte als Krisen verursachend angesprochen, wobei die Export- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, Japans und Chinas lediglich das spiegelbildliche Pendant des Importüberschusses der USA sind und damit ebenso eine Fehlentwicklung wie dieser. Die Finanzkrise erscheint in dieser Analyse weniger als Ursache denn als Folge realwirtschaftlicher Prozesse, was die Erklärung vielschichtiger macht und Wechselwirkungen zwischen monetären und realökonomischen Faktoren impliziert.

Andere Erklärungsansätze thematisieren vor allem die psychologische Seite der Krise. So machen IWH-Ökonomen darauf aufmerksam, dass die gegenwärtige Krise eine „starke Stimmungskomponente" aufweise. Zunächst sei amerikanisches „Vertrauenskapital" vernichtet worden. Mit der Insolvenz von Lehman Brothers schlug die psychologische Krise aber international und „real durch". In der Folge werde „permanentes und globales Misstrauen" gesät, wodurch „die vom Finanzsektor ausgehende Vertrauenskrise auf die reale Ökonomie über(schwappe)" (Blum/Ludwig 2008: 784). Damit wird der einseitigen Kausalerklärung noch eine außerökonomische Begründung hinzu gegeben. Phänomenologisch mag dies angehen, aber genügt es als wirtschaftstheoretische Erklärung? War die Lehman-Pleite nicht deshalb von so verhängnisvoller Wirkung für Deutschland und Europa, weil Lehman Brothers diejenige Bank war, auf welche sich der größte Teil des Europa-Geschäfts der USA konzentrierte? Mit der Insolvenz gerade dieser Bank wurde daher nicht nur „globales Misstrauen" gesät, sondern es wurden auch Verluste weitergegeben, echte Kosten exportiert. Was hier stattfand, war eine Kapitalvernichtung in großem Stil. Dabei gingen Milliarden US-Dollar und Euro verloren und keineswegs nur „Vertrauenskapital". Es ist auch fraglich, ob die Rezession in Deutschland tatsächlich „ein Import der Konjunkturschwäche im Ausland", also „nicht hausgemacht" ist, wie Blum und Ludwig schreiben (2008: 786). Analysiert man den Konjunkturzyklus der deutschen Volkswirtschaft und stellt dabei in Rechnung, dass der Exportüberschuss Deutschlands ein Teil des globalen Ungleichgewichts ist, welcher weltwirtschaftlich Krisen verursachend wirkt, so kommt man zu einem etwas anderen Ergebnis.[2]

Hinter der auffällig hinter den Ereignissen zurückbleibenden Begrifflichkeit der meisten Krisenkommentare verbirgt sich ein Wahrnehmungsproblem. Dieses hat seine Ursache im Scheitern des neoliberalen Marktfundamentalismus, aber auch in Erklärungsdefiziten der neoklassischen Ökonomie, welche die wirtschaftliche Entwicklung als realen Wachstumsprozess auffasst, der sich wellenartig, getragen von exogenen Schocks, um einen Trend schwankend vollzieht. In diesem Modell findet weder die endogene Zyklizität der Wirtschaftsentwicklung noch die funktionale Einheit realökonomischer und monetärer Prozesse hinreichend Berücksichtigung. Es muss daher als Erklärungsansatz für die gegenwärtige Krise versagen, ähnlich wie 1929/33, angesichts der Weltwirtschaftskrise, die klassische Theorie versagt hat.

Andere Ansätze, marxistische, keynesianische, schumpeterianische, besitzen hier möglicherweise eine größere analytische Schärfe und Reichweite und erweisen sich damit als geeigneter für die Formulierung wirksamer Konjunkturprogramme. So verstehen die Forscher des IMK (Horn et al. 2008: 795-798) die Krise vor allem als Ausdruck einer Nachfrageschwäche und Folge einer die Bezieher von Masseneinkommen jahrelang benachteiligenden Verteilungspolitik. Ähnlich wird von marxistischer Seite argumentiert, indem die gegenwärtige Krise in ihrem Kern als „Unterkonsumtionskrise" gedeutet wird (Sohn 2009: 51). Damit erscheint sie durchaus als „hausgemacht" und mittels geeigneter Konjunkturprogramme überwindbar.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich die momentane Krise in zentralen Punkten von früheren Krisen unterscheidet. Waren die Krisen in der Vergangenheit überwiegend auf Angebotsschocks zurückzuführen, so resultiert die jetzige Krise aus einer gegenüber der Produktion zurückgebliebenen Nachfrage sowie einem „Abheben" der Finanzsphäre. Das sieht die Mehrheit der Ökonomen inzwischen ähnlich und plädiert deshalb für nachfrageerhöhende Maßnahmen, insbesondere für eine expansive Fiskalpolitik mit der Konsequenz explodierender Staatsverschuldung. Was wie ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik aussieht, ist einem Wechsel der volkswirtschaftlichen Herausforderungen geschuldet, der zu veränderten wirtschaftspolitischen Empfehlungen führt (vgl. Bräuninger 2009: 2f.).

Eine gleichfalls auf eine expansive Geld- und Fiskalpolitik abzielende Position vertritt die AG Alternative Wirtschaftspolitik. Im jüngsten Memorandum wird davor gewarnt, dass „ohne außergewöhnlich umfangreiche und intensive wirtschaftspolitische Gegensteuerung" die reale Gefahr bestehe, dass sich die Krise „zu einer lang anhaltenden und tiefen Depression ausweitet" (2009: 15). Dem hält Klaus F. Zimmermann (DIW) entgegen, dass ein Wirtschaftsabschwung „noch nie" durch antizyklische Maßnahmen gestoppt worden sei. Konjunkturprogramme hätten „nur symbolischen Charakter": Sie seien entweder „unnötig", wirkten „zu spät" oder seien „im Falle der konjunkturpolitischen Kernschmelze nicht umfangreich genug" (Zimmermann 2008: 803). Gleichwohl hält er angesichts der Nachfrageschwäche auf den Märkten „keynesianische Maßnahmen (für) vertretbar" (802). Zwischen Finanz- und Wirtschaftskrise sieht Zimmermann jedoch keinen Zusammenhang: Erstere beruhe auf einem dreifachen Staatsversagen in den USA (Niedrigzinspolitik der Notenbank, fehlende Regulierung der Finanzmärkte und Verzicht auf die Rettung von Lehman Brothers) und sollte durch „strukturelle Reformen" bekämpft werden. Letztere dagegen die vor allem konjunkturell bedingt. Diese Position teilen auch andere Forscher, indem sie betonen, dass der konjunkturelle Abschwung im Euroraum bereits 2007 eingesetzt habe, also noch bevor die Auswirkungen der Finanzmarktkrise überhaupt sichtbar geworden sind (vgl. Scheide 2008: 798).

2. Finanzmarktkapitalismus und Krise

Die Besonderheit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erschließt sich am besten, wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsordnung als Finanzmarktkapitalismus begreift.

Geld war für die bürgerliche Gesellschaft bekanntlich von jeher von essentieller Bedeutung. Als „letztes Produkt der Warenzirkulation", schrieb Karl Marx, ist es zugleich die „erste Erscheinungsform des Kapitals" (Marx 1968: 161). In ihm manifestiert sich mithin, so Max Weber, der „Geist des Kapitalismus" (Weber 1988). Dies zeigte sich zuerst im Handelskapitalismus des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, als man im Geld den Reichtum an sich erblickte und die auf dem Kapital beruhende Wirtschaft uneingeschränkt als Geldwirtschaft galt (vgl. Sombart 1916; Kuczynski 1960/72, Bd. 26: 5ff.). Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Industrie, prägte sich der monetäre Charakter der Wirtschaft weiter aus. An die Stelle von Münz- und Papiergeld traten jetzt aber Kredit und Kreditgeld: Die Kreditwirtschaft entwickelte sich zur adäquaten Geldform des Industriekapitalismus. Institutionell dokumentierte sich dies im Niedergang des traditionellen Kaufmanns- und Wucherkapitals und im Aufstieg der Banken (vgl. Marx 1970: 451ff.; Bagehot 1920). Dabei zeichneten sich bereits frühzeitig länderspezifische Unterschiede ab. So waren für Deutschland Kartelle und Korporationen typisch sowie Universalbanken, die sich am stakeholder-Prinzip nachhaltiger Gewinnerzielung und Kapitalvermehrung orientierten. Im Unterschied dazu entwickelten sich die USA zum „Land der Trusts und der anarchischen Konkurrenz" (Windolf 2005: 13), wo sich die Unternehmen vor allem am Kapitalmarkt über Aktien und Anleihen finanzieren und das shareholde-value-Prinzip vorherrscht.

Beide Finanzierungsmodelle, das deutsche bzw. kontinentaleuropäische bankbasierte und das angloamerikanische kapitalmarktorientierte, bildeten eigene Strukturen, Institutionen und Instrumente heraus, die vom Grundsatz her bis heute gelten. Anfangs besaß das bankbasierte System die größere Strahlkraft und wurde daher, ausgehend von Deutschland, in Nord-, Mittel und Osteuropa kopiert. Seit den 1980er Jahren gilt jedoch das marktorientierte System als das für die Kapitalverwertung effizientere. Die Entwicklung tendierte deshalb zuletzt stärker in diese Richtung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte eine weitere bedeutsame Veränderung: Im Ergebnis der Großen Depression (1875-1893) und unterstützt durch die elektrotechnische Revolution der Produktivkräfte und die damit einhergehende Konzentration und Zentralisation des Kapitals wandelte sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus. Damit trat der Industriekapitalismus in ein neues Stadium ein, in dem Kartelle, Syndikate und Konzerne den Wirtschaftsprozess dominierten. Im Kontext damit vollzog sich die wirtschaftliche und machtpolitische Verschmelzung des Industrie- und Bankkapitals zum Finanzkapital. Rudolf Hilferding hat diesen Prozess 1910 eingehend beschrieben[3]; W. I. Lenin führte die Analyse 1916 fort und konstatierte schließlich ein „Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals", woraus er „die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie" ableitet. Ferner „die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht' besitzen" - als charakteristisches Merkmal des „Imperialismus" (Lenin 1981: 242).

Mit der Herausbildung des Finanzkapitals[4] und dessen Omnipotenz in Wirtschaft und Gesellschaft mutierte der Industriekapitalismus zum „Finanzmonopolkapitalismus" (Klein 2008: 103). Ausgehend von den o. g. institutionellen Unterschieden führte dieser Wandel zur Etablierung zweier Varianten finanzkapitalistischer Regulation: Einmal beteiligen sich die Geldkapitalbesitzer durch den Kauf von Aktien direkt am industriellen Kapital. Die Rolle der Banken ist hier auf die Vergabe von Zirkulationskrediten und die Organisation der Geldzirkulation beschränkt. Dies ist für Großbritannien und die USA typisch. Im zweiten Fall verfügen die Banken über das Geld der Anleger (Sparer) und verwandeln dieses indirekt, als Zins tragendes Geldkapital, in industrielles Kapital. In der Folge verschmelzen Bank- und Industriekapital miteinander und es bildet sich eine von den Banken dominierte Wirtschafts- und Machtstruktur heraus. Praktisch bedeutete dies die Kontrolle der Wirtschaft durch Großbanken, zugleich aber auch deren geld- und kreditgesteuerte Regulierung und Tendenz zur „Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung" (Hilferding 1915: 322), wie dies seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zu beobachten war. Der damit beschrittene Entwicklungspfad bildete zugleich aber auch einen Baustein für die Formierung des Rheinischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg.

Retrospektiv betrachtet hat sich das kredit- und bankbasierte Modell des Finanzkapitalismus für den forcierten, politisch gesteuerten und kontrollierten Aufholprozess Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als außerordentlich effizient erwiesen. Mit der Öffnung der Märkte jedoch, der Liberalisierung des Güter-, Personen- und Kapitalverkehrs, der Einführung frei konvertierbarer Währungen und flexibler Wechselkurse, kam es zunehmend zu „Reibungsverlusten". Zunächst international, dann auch national. Als Reaktion hierauf wurden wirtschaftspolitische Veränderungen vorgenommen, die, so kompliziert und vielgestaltig sie im Einzelnen auch waren, im Wesentlichen eine Aufwertung marktlicher Koordinierungsmechanismen beinhalteten. Immer mehr Bereiche der Gesellschaft wurden „marktförmigen Steuerungsmechanismen und Finanzkalkülen" (Dörre/Brinkmann 2005: 86) überantwortet. Damit einher ging die Umgestaltung der Produktionsweise von der fordistischen Massenproduktion zur flexiblen Fertigung diversifizierter Qualitätsprodukte (vgl. Abelshauser 2004: 432ff.). Dieser übergreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch vollzieht sich seit mehr als drei Jahrzehnten. Ausgelöst wurde er durch die Weltwährungs- und Wirtschaftskrise während der 1970er Jahre. Die Politik in den folgenden Jahrzehnten trug in unterschiedlichem Maße dazu bei, die Volkswirtschaft der Bundesrepublik entsprechend umzugestalten, das heißt, das „deutsche Modell" des Kapitalismus in eine stärker kapitalmarktbestimmte Form des Finanzkapitalismus zu überführen.

Gegenüber dem traditionellen Finanzkapitalismus, wie er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Zusammenschluss von Bank- und Industriekapital herausgebildet hatte, aber auch gegenüber dem bank- und kreditbasierten, korporatistischen und staatlich regulierten Kapitalismus der fordistischen Ära der 1950er bis 1970er Jahre, verkörpert der heutige Finanzkapitalismus durchaus etwas Neues. Sein Auftreten markiert „eine weitere Stufe in der Evolution kapitalistischer Produktionsregime" (Windolf 2005: 52). Ausschlaggebend dafür ist eine veränderte institutionelle Konfiguration: Die ökonomischen Beziehungen werden nicht mehr durch den Kredit als einem Vertrag zwischen Bank und Unternehmen dominiert, sondern durch die Aktie und damit durch die Funktionsweise des Kapitalmarktes (Börse). Zentrale Akteure in diesem System sind mithin nicht mehr Kreditbanken, sondern Aktionäre, insbesondere institutionelle Anleger wie Investmentgesellschaften, Pensionsfonds und Versicherungen. Zentrales Kontrollinstrument sind die Eigentumsrechte der Aktionäre, welche sich bei ihren Entscheidungen von kurzfristigen Renditeerwartungen und den Vorgaben internationaler Rating-Agenturen leiten lassen. Sie folgen damit dem Shareholder-Value-Prinzip.

Zugleich trägt diese Entwicklung ausgesprochen globale Züge und ist folglich mit einer Entnationalisierung des Kapitals sowie der Kapitalver- und -entwertung verbunden. Dies impliziert, dass die Machtpositionen der Kreditbanken, der Finanzaufsicht und des Fiskus gegenüber früher geschwächt sind. Die starken Positionen haben nunmehr die Akteure an den internationalen Finanzmärkten inne, insbesondere große und international operierende Kapitalgesellschaften, also Nichtbanken. Dies wird auch quantitativ sichtbar, indem die Finanzvolumina, die von diesen Akteuren bewegt und kontrolliert werden, den Umfang des Budgets, ja, sogar des Nationaleinkommens, mancher Staaten übersteigen. Mit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen, der Internationalisierung der Märkte, dem Handel auf Offshore-Märkten, der Emission immer neuer Finanzprodukte (Derivate) und der Verbriefung von Krediten erfolgte eine Transformation des Finanzmechanismus, wodurch der Finanzpolitik der Staaten zunehmend der Boden entzogen wurde. Die Rolle des Staates schien im Schwinden begriffen. Mit dem Eintritt der Krise änderte sich dies jedoch wiederum: die wirtschaftliche Macht des Staates ist heute größer denn je. Inwieweit dies von nachhaltiger Wirkung sein wird und den Finanzkapitalismus substanziell verändert, bleibt jedoch abzuwarten.

Die seit den 1990er Jahren eingetretenen Veränderungen jedenfalls waren mehr als ein bloßer Modellwechsel. Sie wurden bestimmend für das Produktions- und Akkumulationsregime, für die Art und Weise der Regulierung der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion, für das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Mit ihnen ging eine Machtverschiebung einher, sowohl innerhalb einzelner Staaten und Staatengruppen als auch zwischen diesen, zwischen Institutionen, Branchen, Interessengruppen, Klassen und Schichten. Die Stichworte hierfür lauten Globalisierung, nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion, Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Kommerzialisierung und Monetarisierung - so ziemlich aller Bereiche der Gesellschaft. Es handelt sich hierbei um eine Transformation der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Im Lichte des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes erscheint dieser Umbruch als Übergang von einer „koordinierten" zu einer „liberalen" Marktökonomie (vgl. Hall/Soskice 2001). Im Kontext komparativer Untersuchungen, welche zwischen kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Varianten des Finanzkapitalismus unterscheiden, erscheint er als „erdrutschartige Gewichtsverschiebung", welche dazu führt, dass ersteres System faktisch von der Weltkarte verschwindet und letzterem die Alleinherrschaft zufällt (vgl. Albert 1992).

Die finanzmarktkapitalistische Transformation impliziert einen bisher nicht gekannten Bedeutungszuwachs des Geld- oder Zins tragenden Kapitals gegenüber dem produktiven Kapital. Der springende Punkt dabei ist, dass das Finanzkapital, obwohl es im Wirtschaftsprozess agiert, Geldkapital ist - und zwar auch seiner Verwertungslogik nach, was in der Marxschen Formel G-G' prägnanten Ausdruck findet. Indem das Geldkapital im volkswirtschaftlichen Kreislaufprozess zur bestimmenden Größe wird, wird der Gesamtprozess der Verwertungslogik des Geldes unterworfen. Geld und Zins bestimmen nunmehr die Funktionsweise des Kapitalkreislaufs insgesamt, das Akkumulationsregime und die Entwicklung der Wirtschaft.

Damit sind eine Reihe substanzieller Veränderungen im Verwertungsprozess verbunden. So kommt es zu einer relativen und temporären „Entkopplung von Produkt- und Kapitalmarkt" (Kühl 2003: 78) bzw. zu Erscheinungen einer relativen „Verselbständigung" der monetären gegenüber der realwirtschaftlichen Sphäre.[5] Ausdruck dessen ist eine Ausdifferenzierung der Finanzsphäre in eine Vielzahl unterschiedlicher Märkte, wovon die abgeleiteten, die sekundären und tertiären Segmente, ein immer größeres Gewicht erhalten.

Ursprünglich umfasste der Begriff Finanzmarkt den Geldmarkt als Markt für kurzfristige Transaktionen von Liquiditätstiteln und den Kapitalmarkt als Markt für langfristige, vor allem der Investitionsfinanzierung dienenden Geldanlangen bzw. Kredite. Heute fächert sich bereits der Geldmarkt weit auf, indem bei den Liquiditätstiteln zwischen verschiedenen Liquiditätsgraden und -fristen unterschieden wird. Hinzu kommen die Devisen- und Sortenmärkte, welche den Währungsmarkt bilden.[6] Zum Kapitalmarkt zählen neben den klassischen Kreditmärkten für Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen der Primärmarkt für Wertpapiere, auf dem sich Unternehmen und Regierungen durch die Ausgabe von Aktien oder die Auflage von Anleihen über die Börse direkt beim Publikum finanzieren, der bedeutend größere Sekundärmarkt, auf welchem bereits emittierte Papiere gehandelt, be- und verliehen sowie besichert werden, und der Markt für abgeleitete Finanzprodukte (Derivate), welche sich auf Forderungen und Verbindlichkeiten in der Zukunft beziehen bzw. der Immunisierung gegen Zins- und Wechselkursänderungen dienen (vgl. Huffschmid 2002: 25).

Auf diese Weise entsteht neben dem primären, produktiven Verwertungsprozess ein sekundärer, spekulativer und größtenteils fiktiver Prozess, der sich durch die Emission und Zirkulation von Derivaten zudem „reflexiv vervielfältigt" und inzwischen den primären Prozess volumenmäßig weit übersteigt (Deutschmann 2005: 63). Es ist dies ein Phänomen, worin sich die fortgeschrittene Trennung von Kapitaleigentum und Kapitalfunktion zeigt, ebenso aber auch der Vorrang des Rentiers und Finanzinvestors gegenüber dem produktiven Unternehmer als Charakteristikum der gegenwärtigen Geld- und Vermögenswirtschaft (vgl. Deutschmann 2006; Fiehler 2000). Erscheinungsformen des fiktiven Kapitals sowie Finanzinnovationen und Derivate wie Optionen, Swaps, Futures, Junkbonds, Commercial Paper, Asset Backed Securities (ABS), Credit Default Swaps (CDS), Discount-, Basket-, Index- und Bonus-Zertifikate, Aktienanleihen usw. werden zu Schlüsselgrößen im Finanzgeschehen und ihre Bewegungen, Kursänderungen usw. zu Auslösern ökonomischer Ver- und Entwertungsprozesse.[7] Sie sind der „Stoff", aus dem heutzutage die Krisen erwachsen.

Hiervon ausgehend kommt es zu signifikanten Veränderungen in den Macht- und Entscheidungsstrukturen: Aktionäre und Finanzinvestoren gewinnen an Einfluss, ebenso Analysten, Rating-Experten und Fondsmanager, während Industrie-Manager, Kreditbanker und Finanzpolitiker an Macht, Einfluss und Ansehen verlieren. Trotz rückläufigen externen Finanzbedarfs steigt die Abhängigkeit der Unternehmen von den Finanzmärkten. Dabei tritt das Finanzinvestment in den Vordergrund und verdrängt die Investitionsfinanzierung im Produktionsbereich. Dies tangiert selbstverständlich die Einkommensströme, mehr aber noch die Vermögensverhältnisse. Es kommt zu massiven Vermögensumschichtungen und zu einer strukturellen Neuordnung der betrieblichen und privaten Vermögen. Dabei spielen spekulative Verwertungsprozesse, die zur Reichtumskonzentration beitragen, aber auch enorme Entwertungen in und durch Finanzkrisen, wie sie früher nur durch Kriege ausgelöst wurden, eine große Rolle. Zugleich wird die finanzielle Vermögenssituation der privaten Haushalte, deren Liquidität und Performance, immer mehr zur bestimmenden Größe für die soziale Differenzierung und Polarisierung, für gesellschaftlichen Auf- und Abstieg, für Wohlstand und Sicherheit.

Der gesamte Wirtschaftsprozess erhält einen grundlegend veränderten Charakter: Er wird zur „Bubble-Ökonomie" (Brenner 2003; Orlowski 2008), worin das Entstehen und Platzen von Spekulationsblasen gewissermaßen den Konjunkturzyklus „ersetzt", wie Eric Janszen schreibt (2008: 49), auf jeden Fall aber überformt. Charakteristisch hierfür ist ein Inflationieren der Vermögenspreise (asset-price inflation), wodurch eine fiktive Wertsteigerung ausgelöst wird, eine wahnwitzige Aufblähung von fiktivem Reichtum im Umfang von zig Billionen US-Dollar, die sich regelmäßig als Spekulationsblase erweist, schließlich platzt und Finanzvermögen von gigantischem Ausmaß vernichtet. Bei der Internet-Blase waren es sieben Billionen US-Dollar, die sich mit dem Platzen der Blase (2000/2002) in Luft auflösten. Dass sich die dadurch ausgelöste Krise nicht zu einer finanz- und realwirtschaftlichen Katastrophe entwickelte, ist der expansiven Geldpolitik der FED und anderer Zentralbanken zu verdanken. Damit wurde zugleich aber der Grundstein für den nächsten Crash gelegt: Ermöglicht durch die Kreditexpansion und den Anstieg der privaten und öffentlichen Verschuldung stiegen die nominalen Werte der Immobilienvermögen, Aktien, Staatspapiere, Zertifikate und Derivate in ungeahnte Höhen. Der Immobilienboom schuf einen Reichtum von zwölf Billionen US-Dollar. Dieser wird nun im Krisenprozess größtenteils entwertet. Von den Folgen dieser Entwertung sind nicht nur Hausbesitzer und Banken betroffen, sondern in noch viel größerem Maße Investmentgesellschaften, Versicherungen und Finanzintermediäre. Paul Krugman sieht im Platzen der Immobilienblase deshalb den Auslöser für den „Zusammenbruch des Schattenbankensystems" und in der Finanzkrise vor allem eine „Nichtbank-Bankenkrise" (Krugman 2009: 198).

Zugleich drängt die ökologische Situation auf eine Energiewende, welche nur herbeigeführt werden kann, wenn es gelingt, Billionen und Aberbillionen US-Dollar, Euro, Yen und Renminbi dafür aufzubringen. Der gewaltige Kapitalbedarf, den der ökologische Umbau erfordert, die Umstellung der Welt von fossilen Energieträgern auf alternative Formen der Energieproduktion und -nutzung, bildet aber aller Voraussicht nach die Grundlage für die kommende Blase. Diese muss groß genug sein, um die Verluste der geplatzten Immobilienblase zu kompensieren und darüber hinaus den Umbau des Energiesektors und der Infrastruktur zu finanzieren. Janszen veranschlagt den Umfang des erwarteten fiktiven Spekulationsvermögens auf mindestens 20 Billionen US-Dollar, was gegenüber der Internet-Blase eine Verdreifachung und gegenüber der Immobilienblase eine Erhöhung auf mehr als das Anderthalbfache bedeuten würde. Wenn auch diese Blase schließlich platzt und die Weltwirtschaft erneut in eine globale, noch größere als die jetzige Krise gestürzt wird, „werden wir wiederum vor der Aufgabe stehen, die Trümmer einer verwüsteten Branche abzuräumen". Gleichzeitig wird die nächste Blase im Entstehen begriffen sein, denn angesichts des Zustandes der finanzkapitalistisch geprägten Weltwirtschaft und der globalen Herausforderungen, vor welchen die Welt steht, „wäre nur eines schlimmer als eine neue Blase: keine Blase" (Janszen 2008: 59f.).

 

3. Konjunkturverlauf und Krise

Folgt man dem Mainstream, so handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise um eine Krise der Banken und der Finanzmärkte, welche „durch Ansteckung" auf die eigentlich robuste und kerngesunde Realwirtschaft übertragen wurde. Dies gelte insbesondere für Deutschland, wo die Wirtschaft im ersten Quartal 2008 noch kräftig gewachsen ist und wo es keine exzessive Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte und auch keine spekulative Überhitzung der Märkte gegeben habe.

Richtig ist, dass die Krise zuerst in den USA ausbrach, infolge des Platzens der Immobilienblase, und dass sie sich über international agierende Banken und die Finanzmärkte ausgebreitet hat. Falsch ist jedoch, die deutsche Wirtschaft substanziell als krisenresistent zu betrachten. Dies schon deshalb, weil es sich bei der aktuellen Krise um eine globale Krise handelt und Deutschland integraler Bestandteil der Weltwirtschaft ist. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass Deutschland eine finanzkapitalistische Wirtschaftsstruktur aufweist und die Krise deshalb auch hier zuerst und vor allem als Finanzkrise in Erscheinung trat. Finanzmärkte und Banken bilden nun mal das „Herz" des finanzkapitalistischen Wirtschaftssystems. Weist dieses ernstliche Funktionsstörungen auf, so funktioniert auch der übrige „Körper" nicht mehr und es droht ein Kollaps. Andererseits bilden sich Turbulenzen auf den Finanzmärkten nicht unabhängig von der Realökonomie. So belegt eine Analyse des Konjunkturverlaufs, dass die gegenwärtige Krise ursächlich durchaus als eine Wirtschaftskrise, eine Überproduktions- und Überakkumulationskrise, anzusehen ist (vgl. Leibiger 2009), auch wenn ihr Anlass ein finanzwirtschaftlicher war, die auffälligsten Krisenphänomene finanzieller Natur sind und ihre Dimension weit über eine normale Konjunkturkrise hinausreicht.

Dieser Aspekt soll in folgendem etwas genauer beleuchtet werden: Bedingt durch den Rhythmus der Reproduktion des industriellen Kapitals, insbesondere der Entwertung und periodischen Neuanlage von fixem Kapital (Maschinen und Anlagen), vollzieht sich die Wirtschaftsentwicklung seit der industriellen Revolution nicht kontinuierlich und linear, sondern wellenartig und zyklisch. Die entscheidende Grundlage dafür bildet der Umschlag des fixen Kapitals (vgl. Marx 1969: 169ff.). John Maynard Keynes behandelt den Konjunkturzyklus als „Folge einer zyklischen Veränderung in der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals" (Keynes 1936: 265), Joseph A. Schumpeter begreift ihn als Innovations- und Investitionszyklus (vgl. Schumpeter 1961).

Im Zeitverlauf lassen sich verschiedene Phasen und sich periodisch wiederholende Zyklen unterscheiden. Der erste Zyklus endete 1825 mit einer Wirtschaftskrise in England, der ersten Krise dieser Art überhaupt (Kuczynski 1960/72, Bd. 23: 108). In Deutschland setzte die Industrialisierung bekanntlich später ein, so dass die erste Krise hier auf das Jahr 1857 datiert wird. Seitdem vollzieht sich die Wirtschaftsentwicklung über das Auf und Ab konjunktureller Wechsellagen. Dabei lassen sich Expansions- oder Prosperitätsphasen einerseits und Kontraktions-, Rezessions- und Depressionsphasen andererseits unterscheiden. Der Konjunkturprozess folgt einem Schema von „mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation" (Marx 1968: 476). In Anlehnung an Joseph A. Schumpeter werden die Phasen des Konjunkturzyklus als Recovery (Erholung), Prosperität, Rezession und Depression bezeichnet. Neuere Theorien fassen den Wirtschaftsverlauf weniger streng phasenstrukturiert auf, sondern eher als einen Prozess konjunktureller Schwankungen, als zyklische Bewegung um einen exponentiellen Wachstumstrend. Dabei erscheinen Erholung und Aufschwung als wirtschaftliche Expansion und der obere Wendepunkt im Konjunkturverlauf als Boom. Es folgen Abschwächung und Entspannung sowie Rezession und Depression als Phänomene wirtschaftlicher Kontraktion. Als maßgeblicher Indikator gilt die jährliche bzw. die quartalsbezogene Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts.

In der Konjunkturtheorie wird zwischen verschiedenen Typen von Konjunkturzyklen unterschieden: a) Kitchin-Zyklen (3-4 Jahre), b) Juglar-Zyklen (7-11 Jahre) und c) Kondratieff-Zyklen (50-60 Jahre).[8] Ein Zyklus bezeichnet jeweils den Zeitabschnitt zwischen dem Beginn der ersten Phase (Erholung bzw. Aufschwung) und dem Ende der letzten Phase (Depression).

Tabelle 1: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Konjunkturzyklen in Prozent

Zeitraum

Jahresdurchschnittliche Zuwachsrate

 

Nominal

Preisbereinigt

(I)    1951-1958

11,64

8,26

(II)   1959-1967

8,08

4,79

(III)  1968-1975

9,66

3,78

(IV)  1976-1982

6,58

2,43

(V)   1983-1993

5,60

2,71*

(VI)  1994-2003

2,48

1,56

(VII) 2004-2008**

2,86

1,72

(VII) 2004-2010***

1,63

0,31

*Ohne den Effekt der Wiedervereinigung, welcher 1990 bis 1992 mehr als die Hälfte des Zuwachses des BIP ausmachte, hätte der Zuwachs im fünften Zyklus nur ca. 2,5% betragen. **Der Zyklus ist nicht abgeschlossen. ***Schätzung auf Grundlage der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute für 2009 und 2010.

Das Muster der konjunkturellen Zyklizität der Wirtschaftsentwicklung lässt sich auf die Bundesrepublik Deutschland anwenden.[9] Bisher lassen sich sieben (Juglar-)Zyklen unterscheiden[10]: (I) 1950-1958[11], (II) 1959-1967, (III) 1968-1975, (IV) 1976-1982, (V) 1983-1993, (VI) 1994-2003 und (VII) 2004-2010[12], wobei der siebente Zyklus zum gegenwärtig Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und daher nur unvollständig darstellbar ist. Es spricht aber vieles dafür, dass der obere Wendepunkt im Jahr 2006 lag[13] und der Tiefpunkt der Krise 2010 erreicht wird. Die Prognosen der Ökonomen stützen diese Sicht (vgl. Gemeinschaftsdiagnose 2009; Deutsche Bundesbank 2/2009: 43ff.), während die Bundesregierung von einer Beendigung der Krise noch im Jahr 2009 ausgeht.

Abb. 1: Veränderung des preisbereinigten BIP gegenüber dem Vorjahr1951-2009

 

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Die Daten für die Jahre 1950 bis 1969 sind wegen konzeptioneller und definitorischer Unterschiede mit den Daten für 1970 bis 1990 (früheres Bundesgebiet) und den Angaben für 1991 bis 2009 (Deutschland) nur eingeschränkt vergleichbar. Für 2009 wurde ein Schätzwert der Wirtschaftsforschungsinstitute verwendet.

 

Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik zyklisch, das heißt in mehr oder weniger regelmäßigen konjunkturellen Bewegungen, verläuft. Die durchschnittliche Länge eines Zyklus beträgt achteinhalb Jahre. Abweichungen von dieser Regel sind durch Sonderbedingungen wie zum Beispiel die Wiedervereinigung erklärbar, welche der westdeutschen Wirtschaft 1990 und 1991 eine Sonderkonjunktur bescherte. Es ist unschwer auszumachen, dass es in der Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit bisher sieben Abschwungphasen gab: 1957/58, 1966/67, 1974/75, 1980/82, 1992/93, 2001/03 und 2007/09. Diese mündeten außer 1958 immer in eine Rezession. Am stärksten war dies 1975 und 1993 der Fall als das BIP um 0,9 bzw. 0,8 Prozentpunkte zurückging. Daran gemessen weist die gegenwärtige Krise zweifelsohne eine andere Dimension auf: der Abschwung verlief heftiger und der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung fällt weit höher aus als in allen vorherigen Krisen. Dies läst sich an der Dynamik der Quartalswerte für das BIP und für die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe ablesen (Tabelle 2).

Tabelle 2:

BIP und Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe, jeweilige Preise und preisbereinigt, verkettet (2000 = 100) Veränderung gegenüber Vorquartal in Prozent

 

2007

2008

2009*

 

1.Vj.

2.Vj.

3. Vj.

4.Vj.

1. Vj.

2.Vj.

3. Vj.

4. Vj.

1.Vj.

2. Vj.

BIP jeweilige Preise

1,5

0,7

0,9

0,5

2,0

0

-0,3

-1,3

-3,8

X

BIP preisbereinigt

0,4

0,4

0,6

0,3

1,5

-0,5

-0,5

-2,2

-3,8

-0,9

Verarbeitendes Gew. preisbereinigt

2,8

0,3

1,4

1,0

1,2

-0,5

-1,9

-7,1

-14,0

-3,0

Quelle: StatBA: Pressemitteilung Nr. 185 (www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/DE/Content/Statistik...15.05.2009); Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2007: 44; Herbst 2008: 55, Frühjahr 2009: 49 (* Prognose).

 

Insgesamt vermittelt der Konjunkturzyklus folgendes Bild: Erstens ist ein langfristiger Trend des Rückgangs der Wachstumsraten des BIP und darüber hinaus der Arbeitsproduktivität, der Investitionen und des Konsums zu konstatieren. Dadurch fallen die Aufwärtsbewegungen von mal zu mal schwächer aus, so dass sich die einzelnen Zyklen tendenziell „abflachen". Zweitens treten die Krise 1974/75 und die gegenwärtige Krise klar als Zäsuren hervor. Eine Analyse im Kontext des Ansatzes von Kondratieff und Schumpeter[14]führt zu der Schlussfolgerung, dass sich hier zwei historische Phasen unterscheiden lassen. Die erste reicht von 1949/1950 bis Anfang der 1970er Jahre und ist durch eine beschleunigte Kapitalakkumulation charakterisiert, die zweite beginnt Mitte der 1970er Jahre und ist durch strukturelle Überakkumulation und tendenzielle Stagnation gekennzeichnet. Während die ersten drei Zyklen in einem übergreifenden Megazyklus als Prosperitätszyklen erscheinen, sind die folgenden vier als Abstiegs- und Depressionszyklen charakterisiert. Ob der Aufschwung 2004-2006 bereits den Beginn eines neuen Zyklus einleitete oder ob es sich dabei nur um „ein Zwischenhoch in einer verschleppten Depression" (Land 2008) handelte und erst die für 2010 erwartete Erholung den Beginn eines neuen Megazyklus, des dann fünften „Kondratieff", markiert, ist eine offene Frage.

Im Unterschied zu dieser Interpretation folgt die säkulare Stagnationstheorie von Keynes einer anderen Vorstellung von Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung. Der von Keynes 1943 für die Nachkriegszeit entworfene Ansatz unterscheidet drei Phasen, die jeweils durch ihr Verhältnis von freiwilliger Investition (I) und freiwilliger Ersparnis (S) auf Vollbeschäftigungsniveau gekennzeichnet sind. Während für die erste Phase auf Grund inflationärer Übernachfrage im Zuge des Wiederaufbaus und des Nachholbedarfs nach dem Kriege I > S gilt, ist die zweite Phase durch ein ausgeglichenes Verhältnis beider Größen charakterisiert: I = S. Die Investition absorbiert auf Vollbeschäftigungsniveau die Ersparnis, wodurch der Inflationsdruck schwindet. In der dritten Phase jedoch fällt die Investitionstätigkeit unter die Ersparnis, so dass Unterbeschäftigung und Überliquidität herrschen: I < S. Hohe Ersparnis, abnehmende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, rückläufige Wachstumsraten und sinkende Konsumneigung - eben Stagnation prägen diese Phase (Keynes 1943; Zinn 2007). Ihr Beginn datiert Mitte der 1970er Jahre und ihr weiterer Verlauf findet im Finanzmarktkapitalismus Bestätigung.

 

Abb. 2: BIP-Produktivität, Wachstum, Erwerbslosenquote und Inflationsrate 1950-2009

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechungen. [in der Überschrift vor insgesamt: Komma]

 

4. Kosten und Verluste

Dass die gegenwärtige Krise gewaltige Kosten verursacht, Kosten, deren Umfang alles bisher da Gewesene in den Schatten stellt, gilt als ausgemacht und wird inzwischen nicht einmal mehr von denen bestritten, die vor kurzem noch die „reinigende Kraft" der Krise hervorhoben und ihre stabilisierende Rolle im Wirtschaftsprozess betonten. Die Frage ist nur: Wie hoch sind diese Kosten und wer wird sie letztlich tragen? Eine Antwort auf diese Frage fällt naturgemäß nicht leicht. Zum einen ist bisher kein Ende der Krise in Sicht. Und eine Bilanz, selbst eine vorläufige, lässt sich erst nach Beendigung der Krise und dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung erstellen. Zum anderen fehlt es an einer sinnvollen Abgrenzung dessen, was hier als Kosten anzusehen ist. Die Krise verursacht fiskalische, wirtschaftliche, soziale, ordnungspolitische, innen- und außenpolitische, kulturelle, ideologische und andere Kosten. Dies gilt weltweit, aber auch national, bezogen auf Volkswirtschaften, Regionen, Branchen, Industriezweige, Staaten, Länder, Kommunen, Unternehmen, soziale Schichten und Gruppen, private Haushalte usw. Es ist unmöglich, die ganz Vielfalt dieser Kosten in ihrer strukturellen Gliederung und Verästelung auch nur annähernd zu erfassen. Zumal nicht klar ist, welche davon absolute und welche relative Kosten sind, welche vollständig ins Gewicht fallen und welche sich gegen Gewinne aufrechnen lassen, welche tatsächliche Kosten und welche Opportunitätskosten sind usw. usf.

Grenzt man die Frage auf die ökonomischen Kosten und weiter, auf finanziell erfassbare Größen, ein, so scheint es schon eher möglich, zu einer validen Aussage zu gelangen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) veranschlagte im April 2008 „die potenziellen Verluste und Abschreibungen" durch die Finanzkrise weltweit auf bis zu 945 Mrd. USD. Die direkten Verluste aus den Subprime-Hypotheken wurden mit 45 Mrd. USD angegeben, die Ausfälle bei anderen Kreditsegmenten mit 225 Mrd. USD. Der Löwenanteil entfiele auf Abschreibungen und bilanzielle Wertberichtigungen: insgesamt 720 Mrd. USD (Börsen-Zeitung 9.4.2008). Anderen Berechnungen weisen die Verluste am Subprime-Hypothekenmarkt höher aus, mit ca. 200 Mrd. USD (Sommer 2008). Ein paar Monate später legte der IWF eine neue Berechnung vor. Danach belaufen sich die zu erwartenden Verluste auf 1,4 Billionen USD (IWF 7.10.2008). Joseph Stiglitz erwartet „einen Schaden von mehr als zwei Billionen Dollar" (FAS 21.9.2008), Nouriel Roubini schätzt die weltweiten Kreditausfälle bereits auf drei Billionen USD (Faz.net 28.01.2009). Inzwischen korrigierte der IWF seine Schätzung der erwarteten Verluste der Banken und Finanzinstitutionen nach oben, auf 4,0 Billionen USD (IWF 2009). Fast täglich erreichen uns neue, immer höhere Schätzungen.

Bemerkenswert an diesen Projektionen ist der hohe Anteil der Abschreibungen und Wertberichtigungen. Diese machen mindestens zwei Drittel der Gesamtverluste aus. Die Relationen verschieben sich noch weiter, wenn die Kursverluste von Aktien und anderen börsennotierten Papieren in die Rechnung einbezogen werden. Zwischen Oktober 2007 und Oktober 2008 verringerte sich der Börsenwert aller Aktien von 62,57 Billionen auf 32,25 Billionen USD. Das entspricht einem „Verlust" von 30,32 Billionen USD.[15] Rechnet man den zwischen 2006 und 2008 verzeichneten Wertverlust bei US-Immobilen in Höhe von 4,1 Billionen USD hinzu, so erhält man eine Größe von 39,4 Billionen USD. Aber das ist noch nicht alles. Berechnungen der Asiatischen Entwicklungsbank zufolge vernichtete die Krise 2008 weltweit Finanzaktiva im Umfang von 50 Billionen US-Dollar. Das sind 50.000 Milliarden, also 5012 oder 50.000.000.000.000 US-Dollar (ADB 2009). Die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser ungeheuren Devaluation sind unabsehbar. Auf jeden Fall aber kommt es dadurch zu massiven Verschiebungen in den Vermögensstrukturen, Wirtschaftspotenzialen und Machtverhältnissen in der Welt.

Die Zahlen sind das eine, ihre ökonomische Bewertung aber ist etwas anderes. Um hier zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen, ist es unerlässlich, eine Bezugsgröße für die ermittelten Kosten zu bestimmen. Ohne eine solche besitzen Zahlen keine ökonomische Aussage. Als Bezugsgrößen bieten sich das Finanz- oder Geldanlagevermögen, die Summe aller Finanzaktiva oder das Gesamtvermögen der Welt, ausgewiesen in US-Dollar, an. Über letztere gibt es keine zuverlässige Information, die weltweit ausstehenden Finanzaktiva aber werden für 2008 mit ca. 200 Billionen USD veranschlagt.[16] Daran gemessen belaufen sich die Verluste durch die Finanzkrise lt. IWF auf 0,5 beziehungsweise 0,7 Prozent. Legt man der Rechnung jedoch den Verlust von 50 Billionen USD zugrunde, so wären es 25 Prozent!

Für das Verständnis dessen, was ein Verlust dieser Größenordnung volkswirtschaftlich bedeutet, ist es erforderlich sich klar zu machen, was sich dahinter verbirgt. Denn Kursverluste bei Aktien, Wertberichtigungen bei Wertpapieren, Abschreibungen auf Buchwerte, Kreditausfälle, Einbußen infolge von Wechselkursänderungen, Spekulationsverluste usw. sind nicht gleichzusetzen etwa mit einer Annullierung von Guthaben, der Sperrung von Bankkonten, dem Einzug von Bargeld oder dem Verruf von Münzen. Während erstere Vorgänge Geldkapital betreffen, größtenteils fiktives Kapital, beziehen sich letztere auf Geld und tangieren daher die Liquidität der Wirtschaftssubjekte. Zwischen beiden Ereignissen ist sorgfältig zu unterscheiden.

Hinter den Begriffen „Kosten" und „Verluste" verbergen sich ökonomisch durchaus differente Kategorien und Größen, deren additive Aufrechnung sich eigentlich verbietet. Trotzdem aber wird gerade dies immer wieder versucht, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Da die „Kosten" der Krise sich bisher überwiegend als Verluste von Geldkapital und fiktivem Kapital darstellen, ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptbetroffenen Banken, Investmentfonds und Finanzinstitutionen sind. Lt. IWF entfallen 49% der Kosten auf Banken, 15% auf Hedgefonds, 13% auf Pensionsfonds und 12% auf Versicherungsunternehmen. Der Staat ist unmittelbar nur mit 11% beteiligt (IWF 2008). Dem steht allerdings entgegen, dass Regierung und Notenbank (FED) in den USA bis März 2009 bereits 12,75 Billionen USD eingesetzt haben, um die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Einen Teil dieser Kosten trägt letztlich, direkt oder indirekt, gewiss der Steuerzahler.

Der wichtigste Verständnispunkt in diesem Kontext betrifft den Begriff des fiktiven Kapitals und seine Abgrenzung gegenüber den Termini Geld, Geldkapital, Kapital und Finanzvermögen. Dabei wird unter Geld Liquidität im engeren Sinne (Bargeld und Sichteinlagen) sowie geldnahe Aktiva (Termineinlagen bis zu zwei Jahren, Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist, Geldmarktpapiere, -fondsanteile und ähnliches) verstanden. Dies entspricht der Definition des Geldmengenaggregats M 3 im Europäischen Währungssystem. Demgegenüber umfasst das Geldkapital alle Bankeinlagen und finanziellen Forderungen mit einer Laufzeit von mehr als zwei Jahren sowie Aktien, Anleihen, Pfandbriefe, Obligationen, Zertifikate und andere Verbindlichkeiten der Finanzinstitute. Beide Größen zusammen bilden das Geld- oder Finanzvermögen, die Finanzaktiva einer Volkswirtschaft. Quantitativ entspricht diese Größe dem Kreditvolumen, das heißt der Summe aller Verbindlichkeiten. Es saldiert sich daher volkswirtschaftlich, sofern man von den Auslandsbeziehungen absieht, auf Null. In einer offenen Volkswirtschaft entspricht das Finanzvermögen den finanziellen Forderungen gegenüber dem Ausland. Im Unterschied hierzu ist Kapital eine materielle und funktionale Kategorie: Als Produktionsfaktor dient es der Güter- und Dienstleistungsproduktion, als Produktionsverhältnis bildet es das Pendant zur Arbeit innerhalb des sozialökonomischen Grundverhältnisses.

Fiktives Kapital nun ist weder Geld noch Kapital. Gleichwohl aber ist es bilanzieller Bestandteil des Geldkapitals wie des Finanzvermögens. Und das in beträchtlichem Umfang. Es existiert in Form von Aktien, Anleihen und anderen Titeln. Der Marktwert dieser Papiere wechselt mit der Lage am Markt, ihr Besitz aber bildet die Grundlage für regelmäßige Revenuen. Kapitalisiert man diese Erträge, so erhält man den „Wert" des fiktiven Kapitals. Es ist damit nichts anderes als der „Preis einer Revenue" (Hilferding 1955: 143). Es ist „rein illusorisches Kapital", dessen Wert „stets nur der kapitalisierte Ertrag, d. h. der Ertrag, berechnet auf ein illusorisches Kapital nach dem bestehenden Zinsfuß", ist (Marx 1970: 484f.).[17]

Da die verschiedenen Formen des fiktiven Kapitals einen gewichtigen Teil des Bank- und Finanzkapitals sowie des gesamtwirtschaftlichen Finanzvermögens ausmachen, erscheint dieses selbst als größtenteils fiktiv und substanziell durch nichts untersetzt. Es steht daher auch quantitativ in keinem wie auch immer konstituierten Verhältnis zum Umfang der Produktion. Dies war bereits im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so, wie sich bei Marx und Hilferding nachlesen lässt, und gilt erst recht für den Finanzkapitalismus der Gegenwart, wo inzwischen die inflationäre Aufblähung und spekulative Vervielfachung der nominalen Finanzvermögen jedes nachvollziehbare Maß überschritten hat. Unter „der Akkumulation des Geldkapitals" aber, schrieb Marx, „ist zum großen Teil nichts zu verstehn" als die Akkumulation von Zins- und Renditeansprüchen, die „Akkumulation des Marktpreises, des illusorischen Kapitalwerts dieser Ansprüche" (Marx 1970: 486). Es wäre daher unsinnig, zwischen der Höhe der Finanzvermögen und dem Umfang der jährlichen Produktion einen quantitativen Zusammenhang herzustellen. Geradezu absurd mutet die Forderung an, die über Jahrzehnte aufgetürmten Finanzvermögen auf den Umfang des jährlichen Sozialprodukts begrenzen zu wollen. Der einzige ökonomisch relevante Zusammenhang, der hier auszumachen ist, besteht in der Deckung der Zins- und Renditeansprüche des Geldkapitals durch die Gewinne der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Gelingt diese nicht vollumfänglich, so sinkt die Durchschnittsrendite am Kapitalmarkt, wie die Entwicklung der letzten Jahre demonstriert: Seit den 1990er Jahren verringert sich der reale Kapitalmarktzins, von durchschnittlich vier auf unter zwei Prozent. Hinzu kommt, dass zudem die Rate des Wirtschaftswachstums langfristig sinkt, womit sich die Verwertungsbedingungen tendenziell spürbar verschlechtern (vgl. Abbildung 3).

Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Berechnungen. [Kapitalmarktzins real 2007: 2,0 und 2008: 1,6]

Mit dem Ertragsrückgang wird zugleich das fiktive Kapital entwertet, ein Vorgang, der jedoch volkswirtschaftlich relativ unerheblich ist, ebenso wie die nominalen Wertverluste, die sich derzeit als „Kosten" der Krise in den Wertberichtigungen und Abschreibungen der Banken niederschlagen. Selbst wenn diese zweistellige Billionenbeträge erreichten, würde die Welt „durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital ... um keinen Heller ärmer" werden. Ebenso wenig wie sie durch die fiktive Wertsteigerung an den Finanzmärkten, durch die Zunahme des nominalen Finanzvolumens, reicher geworden ist. „Soweit die Entwertung oder Wertsteigerung dieser Papiere unabhängig ist von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, das sie repräsentieren, ist der Reichtum einer Nation gerade so groß vor wie nach der Entwertung oder Wertsteigerung." (Marx 1970: 486) Woraus folgt, dass so wenig wie das fiktive Kapital wirkliches Kapital ist, die Wertkorrekturen desselben wirkliche Wertverluste sind. Sie sind deshalb als „fiktive Kosten" akkurat von den echten Kosten der Krise zu unterscheiden.

Nichtsdestotrotz aber haben Wertkorrekturen an den Finanzmärkten Einfluss auf die reale Ökonomie. Dies gilt verstärkt im entwickelten Finanzkapitalismus. Die Entwertung von Geldkapital bedeutet heute „wirklichen Stillstand der Produktion und des Verkehrs" (Ebd.), die massenhafte Insolvenz von Unternehmen, den Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialem Elend. Infolge der Dominanz der Finanzmärkte gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft bleibt die Krise nicht auf die Finanzsphäre beschränkt, auch nicht auf die nationale Wirtschaft, sondern wird zur globalen Krise, zur Weltwirtschaftskrise, mit gravierenden ökonomischen, sozialen und politischen Folgen, welche sich als „echte" Kosten der Krise darstellen.

 

5. Folgen und Konsequenzen

Die Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise sind derzeit nicht absehbar. Dies gilt insbesondere für die weltpolitischen und -wirtschaftlichen Konsequenzen, aber auch für die Höhe der finanziellen, ökonomischen und sozialen Kosten sowie die Art und Weise, wie und durch wen diese Kosten letztlich beglichen werden. So viel aber steht fest: nach der Krise wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vor der Krise. Es wird gravierende Veränderungen in den finanz- und volkswirtschaftlichen Strukturen geben, Machtverschiebungen zwischen den Wirtschafts- und Währungsgebieten, Korrekturen in der Weltfinanzordnung. Dies impliziert die Hoffnung, dass es im Ergebnis der Krise zu einer Wende in der weltwirtschaftlichen Entwicklung kommt, zu einer historischen Neuorientierung, welche die Bewältigung der ökonomischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft möglich macht und so der Menschheit das Überleben garantiert. Sicher ist dies jedoch keineswegs. Es kann auch anders kommen: zu totalitären Regimen, zu Kriegen und Machtkämpfen um die knappen Ressourcen. Ob es gelingt, die Chance der Krise für einen Neuanfang zu nutzen, hängt wesentlich von den politischen Akteuren ab, deren Aufgabe es ist, die Weltwirtschaft aus der Krise zu führen.

Obwohl dies alles offene Fragen sind, lassen sich einige Konsequenzen der Krise schon heute ausmachen. Diese sollen hier, soweit sie die Wirtschaft betreffen, skizziert werden:

  • Die Krise ging nicht nur von den USA aus; sie trifft die US-Wirtschaft auch in besonderem Maße. Damit setzt sich der seit den 1970er Jahren zu beobachtende Niedergang der Vereinigten Staaten, der Verlust ihrer Hegemonialposition in der Welt, fort. Andere Regionen und Staaten dagegen, insbesondere Europa, China und Indien werden erstarken, so dass wir im Ergebnis der Krise „in die Normalität einer multipolaren Welt eingetreten" sein werden (Wallerstein 2008: 5).
  • Die marktradikale Ausrichtung der Weltwirtschaft wird sich so nicht fortsetzen. Es ist mit Prozessen von Re-Regulierung, Dekommodifizierung und Deprivatisierung zu rechnen, mit einem stärkeren Engagement des Staates in der Wirtschaft und mit Protektionismus. Die Krise, welche die tiefste Zäsur im Wirtschaftsleben seit dem Zweiten Weltkrieg ist, bildet möglicherweise einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Sie könnte sich als „Übergangskrise" zu einer veränderten Regulationsweise des Finanzkapitalismus erweisen, möglicherweise sogar als Ausgangspunkt für einen „globalen Neustart", für eine „Wirtschaftsdemokratie jenseits des Finanzkapitalismus" (Hengsbach 2009: 60).
  • Die neoliberale Ideologie und die einseitig die ökonomische Theorie dominierende neomonetaristische Doktrin sind durch die Krise erheblich desavouiert und haben an Glaubwürdigkeit verloren. Es zeichnet sich daher eine stärkere Beachtung anderer, insbesondere keynesianischer Ansätze im wirtschaftswissenschaftlichen Denken ab und damit die Möglichkeit einer breiteren Diskussion alternativer Ideen und Vorschläge.
  • Die gegenwärtige Krise ist eine systemische Krise des Finanzmarktkapitalismus und eine organische Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft. In ihr treffen konjunkturzyklische Momente mit strukturellen Verwerfungen zusammen, Wachstums- mit Verwertungsproblemen, Integrationsprobleme mit globalen Ungleichgewichten. Die Wirtschaftskrise ist nicht zu trennen von der Umweltkrise, der Energiekrise, der Klimakrise, der Ernährungskrise und anderen Krisenerscheinungen. Ihr ökonomischer Kern ist jedoch in einer Überakkumulation von Kapital und in der spekulativen Aufblähung der Finanzsphäre zu sehen. Deshalb besteht der entscheidende Beitrag zur Entschärfung und Lösung der Krise in einer massiven Kapitalentwertung, was in den enormen Kosten der Krise seinen Niederschlag findet. Wie diese Kosten verteilt werden, wer sie letztlich trägt und ob es gelingt, mit dieser Frage eine grundsätzlich andere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu verbinden, ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft.
  • Die Krise und die Strategien zu ihrer Überwindung ziehen einen enormen Anstieg der Staatsschulden nach sich. Daraus ergeben sich langfristig neue Zwänge, aber auch neue Handlungserfordernisse und -möglichkeiten für den Staat, insbesondere in verteilungs- und steuerpolitischer Hinsicht.
  • Ein Symptom für die Tiefe der Wirtschaftskrise ist die Tendenz zur Deflation. Wird diese Realität, so würde die Rezession in eine Depression übergehen und die Gefahr einer lange währenden Abwärtsspirale wäre gegeben. Eine andere Gefahr geht von der Strategie der Notenbanken zur Bekämpfung der Krise aus, die Inflation. So rechnet zum Beispiel Thomas Straubhaar (HWWI) damit, dass auf Deutschland „eine gewaltige Teuerungswelle" zukommt: „Für die Zeit nach 2010 sei eine Geldentwertung von bis zu zehn Prozent pro Jahr zu erwarten." (Berliner Zeitung 21./22.02.2009)
  • Die Krise bietet Chancen für neue Lösungsansätze und Reformen. Sie befördert damit den gesellschaftlichen Evolutionsprozess. Realisiert wird dieser Prozess zunächst jedoch noch im ordnungspolitischen Rahmen des globalen Finanzkapitalismus.

 

Literaturverzeichnis:

Abelshauser, Werner (2004): Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München

Abelshauser, Werner (2005): Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs: Ein Treibhaus nachindustrieller Institutionen, in: Windolf (Hrsg.), a.a.O., S. 172-195

Aglietta, Michel (2000): Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg

Albert, Michel (1992): Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a. M./New York

Altvater, Elmar (2006): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen, Münster

Altvater, Elmar (2008): Die Finanzkrise - mehr als ein Weltmarktsungewitter, in: Das Argument 278, 50. Jg., Heft 5, S. 490-505

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2009): Von der Krise in den Absturz? Stabilisierung, Umbau und Demokratisierung, Memorandum 2009, Köln

Asian Development Bank (ADB) (2009): Pressemeldung vom 9.3.

Attac (2008): www.attac.de (24.09.2008)

Bagehot, Walter (1920): Das Herz der Weltwirtschaft. Die Lombarden-Straße, Essen

Beckmann, Martin (2007): Das Finanzkapital in der Transformation der europäischen Ökonomie, Münster

Bischoff, Joachim (2006): Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus, Hamburg

Bischoff, Joachim (2008): Globale Finanzkrise, Hamburg

Blum, Ulrich/Ludwig, Udo (2008): Übertragung der Probleme auf die realwirtschaftliche Ebene, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 784-786

Bräuninger, Michael (2009): Warum Konjunkturprogramme?, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg., Heft 1, S. 2-3

Brenner, Robert (2003): Boom oder Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft, Hamburg

Büttner, Thiess/Carstensen, Kai (2008): Stabilisierungsbeitrag der Finanzpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 786-789

Busch, Ulrich (2008): Finanzmarktkrise und Finanzmarktkapitalismus, in: Utopie kreativ, Heft 215, S. 804-817

Dahlke, Ruediger (2009): „Sehr reiche Menschen haben oft Leichen im Keller", in: Süddeutsche Zeitung, 13.3.

Dauderstädt, Michael (2008): Die globalen Finanzmärkte - kein Fall für Sparpolitik, in: FES (Hg.), WISO direkt, Oktober, S. 1-4

Deutsche Bundesbank (2001): Realzinsen: Entwicklung und Determinanten, in: Monatsbericht, 53. Jg., Juli, S. 33-50

Deutsche Bundesbank (2008): Neuere Entwicklungen im internationalen Finanzsystem, in: Monatsbericht, 60. Jg., Juli, S. 15-31

Deutschmann, Christoph (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise, in: Windolf, Paul (Hrsg.), a.a.O., S. 58-84

Deutschmann, Christoph (2006): Keynes und die Rentiers, in: Berliner Debatte Initial 17. Jg., Heft 4, S. 22-36

Dörre, Klaus/Brinkmann, Ulrich (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells?, in: Windolf (Hrsg.), a.a.O., S. 85-116

Fiehler, Fritz (2000): Die Gesellschaft der Vermögensbesitzer, Hamburg

Flassbeck, Heiner/Spiecker, Friederike (2007): Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen, Frankfurt/Main 

Foster, John Bellamy/Magdoff, Fred (2009): Implosion des Finanzmarkts und Stagnation, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr. 2, S. 1-34

Franz, Wolfgang (2008): Von der Finanzkrise in die Rezession, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 792-795

Galbraith, James K. (2008): Das Scheitern des Monetarismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, S. 69-80

Gebicke, Klaus (1997): Nikolaj Dmitrievic Kondratieff. Über dynamische Modellierung des Kapitalismus, in: Berliner Debatte Initial, 8. Jg., Heft 1-2, S. 92-104

Hall, Peter/Soskice, David (2001): Varieties of Capitalism, Oxford

Hedtke, Ulrich (1990): Stalin oder Kondratieff. Endspiel oder Innovation?, Berlin

Hengsbach, Friedhelm (2009): Nach der Krise ist vor der Krise. Für eine Wirtschaftsdemokratie ohne Finanzkapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5, S. 53-62

Herr, Hansjörg/Stachuletz, Rainer (2008): Deregulierung, Finanzmarktdesaster und Reformoptionen: Die Hoffnung stirbt zuletzt, in: IPG, Heft 3, S. 11-27

Heine, Michael/Herr, Hansjörg (1996): Money Makes the World Go Round. Über die Verselbständigung der Geldsphäre und andere Mißverständnisse, in: Prokla, Heft 103, 26. Jg., Nr. 2: 197-225.

Hickel, Rudolf (2007): Die Krise des Spekulationskapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10, S. 1157-1161

Hickel, Rudolf (2008): Keynes und der Kasinokapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5, S. 105-107

Hilferding, Rudolf (1915): Arbeitsgemeinschaft der Klassen? In: Der Kampf, Nr. 8, S. 321-329.

Hilferding, Rudolf (1955): Das Finanzkapital, Berlin

Horn, Gustav, A./Joebges, Heike/Truger, Achim (2008): Warum der Staat handeln muss, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 795-798

Hüther, Michael (2009): Voll auf die Bremse, in: Wirtschaftswoche Global, Nr. 1 (26.1.2009), S. 128-130

IWF (2008): Global Financial Stability Report, 7.10.2008

IWF (2009): World Economic Outlook, April

Janszen, Eric (2008): Die Bubble-Ökonomie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5, S. 49-62

Keynes, John Maynard (1943): Das Langzeitproblem der Vollbeschäftigung, in: Reuter 2007, S. 159-164

Keynes, John Maynard (1983): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin

Klein, Dieter (2008): Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht, Berlin

Kondratieff, Nikolaj D. (1926): Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Tübingen) LVI, Nr. 3, S. 573-609.

Kromphardt, Jürgen (1977): Wachstum und Konjunktur, Göttingen

Krüger, Stephan (2007): Konjunkturzyklus und Überakkumulation, Hamburg  

Krugman, Paul (2009): Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt/New York

Kuczynski, Jürgen (1960-1972): Die Geschichte der Lage der Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus, Bd. 1-38, Berlin

Kühl, Stefan (2003): Exit. Wie Risikokapital die Regeln der Wirtschaft verändert, Frankfurt a. M.

Land, Rainer (2008): Auf der langen Welle aus der Sackgasse, in: Freitag, Nr. 47, 20.11.

Leibiger, Jürgen (2009): Weltwirtschaftskrise 2007/2010 - Ursachen und Verlauf, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 78, S. ...

Lenin, W. I. (1981): Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, Berlin, S. 189-309

Marx, Karl (1968): Das Kapital. Erster Band, in: Marx/Engels: Werke, Band 23, Berlin 

Marx, Karl (1969): Das Kapital. Zweiter Band, in: Marx/Engels: Werke, Band 24, Berlin 

Marx, Karl (1970): Das Kapital. Dritter Band, in: Marx/Engels: Werke, Band 25, Berlin 

Orlowski, Lucjan (2008): Die Phasen der weltweiten Finanzkrise: Gibt es eine „wandernde" spekulative Blase?, in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 9, S. 363-368

Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Im Sog der Weltrezession. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2009. Essen 2009

Reuter, Norbert (2007): Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, Marburg  

Richter, Horst-Eberhard (2009): „Eigentlich ist es eine Kulturkrise", in: Weserkurier 7.3.

Ruben, Peter (2008): Vom Kondratieff-Zyklus und seinem Erklärungspotenzial, in: Berliner Debatte Initial, 19. Jg. Heft 4, S. 50-65

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) (2008): Die Finanzkrise meistern - Wachstumskräfte stärken. Jahresgutachten 2008/09, Wiesbaden

Scheide, Joachim (2008): Finanzkrise - Was die Politik tun kann, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 798-801

Schumpeter, Joseph Alois (1961): Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. Bd. I und II, Göttingen

Sohn, Manfred (2009): Hat das System einen Fehler oder ist es der Fehler?, Bonn

Sombart, Werner (1916): Der moderne Kapitalismus, Erster bis dritter Band, München und Leipzig

Sommer, Rainer (2008): IWF: Subprimekrise kostet 945 Mrd. Dollar, 11.04. (www.heise.de/bin/tp/issue/r4/dl-artikel2.cgi?artikelnr=27709&ze)

Statistisches Bundesamt (StatBA) (2005ff.): Statistisches Jahrbuch 2005ff., Wiesbaden.

Tichy, Gunther J. (1976): Konjunkturschwankungen, Berlin (u. a.)

Tichy, Roland (2009): Vorwärts in die DDR, in: Wirtschaftswoche, Nr. 4 (19.1.2009)

Wallerstein, Immanuel (2008): Die große Depression, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11, S. 5-7

Weber, Max (1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920), in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, S. 17-206

Windolf, Paul (2005): Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, in: Ders. (Hrsg.), a.a.O., S. 20-57

Windolf, Paul (Hrsg.) (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 45, Wiesbaden 

Zinn, Karl-Georg (1997): Jenseits der Marktmythen, Hamburg 

Zinn, Karl-Georg (2007): Mit Keynes zu einer „anderen Wirtschaft". Zur Langfristperspektive keynesianischer Ökonomie, in: Günter Krause (Hrsg.): Keynes als Alternative(r)? Argumente für eine gerechtere Wirtschaft, Berlin, S. 26-46.

Zimmermann, Klaus F. (2008): Schadensbegrenzung oder Kapriolen wie im Finanzsektor?, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg., Heft 12, S. 801-803

 



Anmerkungen

 

[1] Das Konjunkturpaket „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung" hat einen Umfang von 23 Mrd. Euro. Es umfasst die befristete Wiedereinführung der degressiven Abschreibung, die höhere steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen, Investitionen in den Bereichen Verkehr und Gebäudesanierung und ähnliche Maßnahmen. Die Kosten dafür verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf Bund und Länder und Gemeinden.

[2] Bezeichnenderweise ist der für den Konjunkturverlauf maßgebende ifo-Geschäftsklima-Index bereits seit Juni 2007 kontinuierlich gefallen (www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/a-winfo/d6zeitreihen... 15.05.2009).

[3] „Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital." (Hilferding 1955: 335).

[4] Der von Hilferding und Lenin verwendete Begriff des Finanzkapitals ist vom umgangssprachlichen Verständnis zu unterscheiden. So fasst Wikipedia unter „Finanzkapital" wenig präzise die Gesamtheit der Banken, finanziellen Kapitalgesellschaften und Aktieninhaber, Institutionen und Personen also, die eine Rendite erzielen, indem sie Geld verleihen bzw. anlegen oder vergleichbare Kredit- und Geldgeschäfte tätigen. In einer noch weiter gehenden Bestimmung wird jegliches Geldvermögen bzw. jede Geldforderung als Finanzkapital definiert.

[5] Inwieweit eine solche Verselbständigung der Geldsphäre gegenüber der realen Ökonomie möglich ist bzw. tatsächlich zu konstatieren, ist umstritten. Vgl. dazu Heine/Herr 1996.

[6] Allein hier belaufen sich die täglich getätigten Umsätze auf eine Summe von 1,5 Billionen USD, einem Vielfaches des transnationalen Güterhandels.

[7] Während die Wirtschaftsleistung in der Welt gegenwärtig auf rund 60 Billionen USD geschätzt wird, liegt die globale Aktienmarkt-Kapitalisierung bei ca. 55 Billionen USD, handelbare Schuldverschreibungen sind etwa 70 Billionen USD wert und das Volumen der Derivate umfasst nominal 1.600 Billionen USD, das 27fache der realen Wirtschaftsleistung (Berliner Zeitung 1.2.08). 

[8] Vgl. dazu Schumpeter 1961, Tichy 1976, Kromphardt 1977 und Ruben 2008.

[9] Für die Wirtschaft der DDR gilt dies nur mit großen Einschränkungen.

[10] Andere Autoren wie zum Beispiel Stephan Krüger datieren die Zyklen kürzer, so dass es insgesamt zehn sind (vgl. Krüger 2007: 113). Abelshauser unterteilt die beiden ersten Zyklen noch einmal, so dass er bis heute neun zählt (Abelshauser 2004: 297).

[11] Der Tiefpunkt der Kriegs- und Nachkriegsentwicklung wurde 1947 erreicht. Eigentlich beginnt also bereits hier, beziehungsweise 1948, der erste Zyklus. Verlässliche statistische Daten liegen aber erst seit 1950 vor.

[12] Einiges spricht dafür, den sechsten Zyklus erst 2004 als beendet anzusehen, da die Erholung zunächst wenig stürmisch verlief und die konjunkturelle Entwicklung durch eine Seitwärtsbewegung gekennzeichnet war. Eine Analyse der Quartalszahlen zeigt jedoch, dass der untere Wendepunkt des Zyklus bereits Mitte 2003 auszumachen ist, was die hier vorgenommene Datierung rechtfertigt.

[13] Im zweiten Quartal 2006 betrug das Wachstum des BIP preisbereinigt 1,5%, im dritten Quartal aber nur noch 0,7%. Im Produzierenden Gewerbe halbierte sich die Wachstumsrate im zweiten Halbjahr ebenfalls gegenüber dem ersten Halbjahr 2006. Dies spricht dafür, das Ende des Aufschwungs bereits Mitte 2006 anzusetzen.

[14] Dieser geht davon aus, dass sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in langen Zyklen („Wellen") von ca. 55 Jahren vollzieht und dass jeder Zyklus einem technologisch begründeten Schema von „Aufschwung", „Ernte", „Abschwung", „Krise" und „Erholung" folgt (vgl. Hedtke 1990; Gebicke 1997; Ruben 2008). Hiervon ausgehend lässt sich mühelos eine Periodisierung der kapitalistischen Ära, nach Auffassung einiger Autoren sogar der Weltgeschichte, vornehmen: Der erste Zyklus (ca. 1790-1844) wäre danach die Etappe der Industrialisierung, der zweite Zyklus (ca. 1845-1896) die Etappe des klassischen Industriekapitalismus. Den dritten Zyklus (ca. 1897-1951) könnte man mit Rosa Luxemburg als „Kolonialisierungskapitalismus" bezeichnen. An ihn schließt sich ein vierter Zyklus (1952-2007), die „fordistische" Etappe des Kapitalismus, an. Die Aufstiegsperiode umfasst den Zeitraum bis 1974, die Abstiegsphase die Zeit danach bis etwa 2008.

[15] Von den 30,32 Billionen USD Marktkapitalisierungsverlust entfallen 8,2 Billionen auf die USA, 2,84 Billionen auf China, 2,06 Billionen auf Großbritannien und 1,05 Billionen USD auf Deutschland („Verbranntes Aktienvermögen", 18.10.2008 nach „http://wirtschaftsquerschuss.blogspot.com/search?q"). 

[16] Die Finanzaktiva umfassen Bankeinlagen, Schuldverschreibungen und Aktien. Die Bankaktive und die Schuldverschreibungen werden jeweils auf rund 75 Billionen USD geschätzt, die Börsenkapitalisierung betrug Ende 2007 rund 50 Billionen USD (vgl. Deutsche Bundesbank 2008, Juli: 16). Darüber hinaus zirkulieren auf den Finanzmärkten verschiedene Formen von Derivaten. Ihr Gesamtumfang wird für Ende 2007 auf rund 600 Billionen USD geschätzt (Bischoff 2008: 42). Hierbei handelt es sich um abgeleitete Finanzprodukte, die weder Geld noch Geldkapital sind, aber mitunter einem sehr weit gefassten Liquiditätsbegriff zugerechnet werden.

[17] „Alle diese Papiere", schreibt Karl Marx, „stellen in der Tat nichts vor, als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel, auf künftige Produktion, deren Geld- oder Kapitalwert entweder gar kein Kapital repräsentiert, wie bei den Staatsschulden, oder von dem Wert des wirklichen Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird" (Marx 1970: 486), was für Aktien gilt.

 

Aus: Berliner Debatte Initial Heft 2-2009, S. 25-43