Gedenken ans Grundgesetz

in (12.10.2009)
Unsere Regierenden und die vielen beflissen Mitregierenden sind entschlossen, die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger in diesem Jahr 2009 - monatelang in ein nationales Stärkungsbad zu tauchen - mit Geruchsstoffen, an denen wir uns künftig alle gemeinsam unterbewußt, aber um so wirksamer orientieren werden. Vieler Ereignisse ist zu gedenken: von Schillers Geburtstag (1759) bis zum Mauerfall (1989) Aber nicht alle Ereignisse mit der Endziffer 9 finden Beachtung. Weniger geeignet für nationale Zwecke waren die Jahrestage der Morde an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (gerade deswegen empfehle ich das Stück »Rosa« im Berliner Grips-Theater), Kurt Eisner und Gustav Landauer (Dank dem Berliner Ensemble, daß es mit einer Textcollage von Ernst Schumacher an den 90. Todestag des Anarchisten erinnerte, der, bevor ihn die von der SPD-Führung herbeigerufene Soldateska mit äußerster Grausamkeit zu Tode quälte, noch rechtzeitig seine Einsicht formulieren konnte: »In der ganzen Naturgeschichte kenne ich kein ekelhafteres Wesen als die sozialdemokratischere Partei«). Auch der Blut-Mai, den 1929 der Berliner Polizeipräsident Friedrich Karl Zörgiebel den Gewerkschaftern bereitete, die angesichts der Krise gegen die Gefahr von rechts demonstrieren wollten, kam 80 Jahre danach öffentlich kaum zur Sprache; auf der Maifeier des DGB hörte ich nichts davon. Zum 1. September (1939) werden unsere Vorsänger fromme Lieder über die Versöhnung anstimmen, zu der wir gegenüber den Polen doch schon immer bereit gewesen sind, aber auch Ermahnungen, in dem starken Militärbündnis, an dem sie sich nun beteiligen dürfen, bitte nicht aus Reih und Glied zu tanzen. Unser letzter Angriffskrieg, den wir vor gerade zehn Jahren geführt haben, bevor der hundertjährige weltweite Anti-Terror-Krieg begann, ist - eine große Leistung unserer Bewußtseinsindustrie - völlig verdrängt. Da unsere Medienkonzerne die Medien auf dem Balkan übernommen haben, kann auch dort nichts Störendes mehr veröffentlicht werden.

Nun also darf sich also sei alle Kraft der wohlsubventionierten Filmwirtschaft, der Museen, der christlichen Akademien und so weiter zum stolzen Gedenken an die Große Friedliche Deutsche Revolution vereinen, und die Freiheit feiern. (In Italien spricht unser Verbündeter Silvio Berlusconi, der Beherrscher der Medien und des Staates, nur noch von »Freiheit«, immerzu, vor allem nach Verschmelzung seiner Partei mit der der alten Faschisten.)

Ein Ereignis wird in diesen Tagen besonders gewürdigt und, soweit ich das heute schon resümieren kann, weithin übereinstimmend interpretiert: Das am 23. Mai vom Parlamentarischen Rat verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiere unser aller Freiheit, seit 60 Jahren in West- und seit bald 20 Jahren in Ostdeutschland. Vor allem garantiere es uns die freie Wahl.

Parlamentsparteien versuchen immer wieder, das Grundgesetz so zu interpretieren, als kenne es nur die sogenannte repräsentative Demokratie, und dementsprechend spreizen sich manche Parlamentarier so, als wäre das Politikmachen allein ihre Angelegenheit, aus der wir uns gefälligst herauszuhalten hätten. Leider wirkt sich dieses arrogante Gehabe so aus, daß viele Bürgerinnen und Bürger ehrfürchtig einknicken, zumal die vorherrschenden Medien sie nicht zum Gebrauch der Grundrechte ermutigen - mit Ausnahme des Wahlrechts, als wäre es das einzige Grundrecht, das wir haben. Die großen Konzernmedien und die von den großen Parteien der sogenannten Mitte dominierten öffentlich-rechtlichen Anstalten animieren uns nachdrücklich, zur Wahl zu gehen und einer Partei der Mitte unsere Stimme zu geben. Aber die Zuversicht, daß sich durch Wahlen etwas ändert, geht dem Wahlvolk, wie alle Umfragen zeigen, trotz dieser Daueranimation allmählich verloren. Und die Wahlbeteiligung sinkt und sinkt.

Zum Thema Volkssouveränität sagt das Grundgesetz, die Staatsgewalt werde »vom Volke in Wahlen und Abstimmungen« ausgeübt. Der Bundestag schuf sogleich ein Wahlgesetz als rechtliche Grundlage, auf der er inzwischen immer wieder neu gewählt werden konnte, aber in nunmehr sechs Jahrzehnten unterließ er es, ein Abstimmungsgesetz zu beschließen. Entgegen Artikel 20 Absatz 2 GG ist es daher dem Volke bisher verwehrt, die Staatsgewalt in Abstimmungen auszuüben. Das ist eine Schande für die freiheitlich-demokratischeGrundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Es beweist, wie gefährlich es ist, die Demokratie den Repräsentanten zu überlassen, die sich in der Regel - von Ausnahmen bestätigt - nach ihrer Wahl im Nu vom Volk entfernen, sich aufs hohe Roß setzen und ihre geliehene Macht gegen das Volk mißbrauchen. Daß Artikel 20,2 faktisch außer Kraft gesetzt ist, sehe ich als einen verfassungswidrigen Zustand an, den das Parlament verschuldet hat und permanent weiter verschuldet.

Gleich in den 1950er Jahren gab es starke Initiativen für Volksabstimmungen über die Pläne der Bundesregierung zur Remilitarisierung und zur atomaren Aufrüstung der Bundeswehr. Diese Initiativen waren in Bonn gefürchtet und wurden abgewehrt. Ebenso wurde später verhindert, daß beim Beitritt der DDR zur BRD das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschloß, wie es Artikel 146 GG forderte; auch dieser Artikel wurde glatt mißachtet.

Dutzende Male wurde das Grundgesetz in den 60 Jahren seines Bestehens geändert - in der Regel nicht zum Besseren, im Gegenteil: Im Zuge der Remilitarisierung, der Notstands- und der Antiterrorgesetzgebung wurden die in der Verfassung garantierten Grundrechte zum Teil drastisch eingeschränkt. Sobald die Regierenden an die verfassungsrechtlichen Grenzen stoßen, sind sie prompt bereit, nicht ihre Politik zu ändern, sondern die Verfassung. In diesen Tagen rufen zum Beispiel die auf die Verfassung vereidigte Kanzlerin und der Innenminister (dem der »Verfassungsschutz« unterstellt ist) nach einer Verfassungsänderung, damit sich »Piraten« umstandslos wegschießen oder einlochen lassen müssen. (Über die sorgfältigen Warnungen des Völkerrechtlers Gerhard Stuby in Ossietzky hatte die Regierung in ihrer Heidewitzka-Begeisterung hinweggehört.)

Sehen wir uns einmal unter den Grundrechten um. Was ist aus dem Willen der Verfasser des Grundgesetzes geworden?

Artikel 3,3 sagt: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Aber an jedem 8. März, dem Internationalen Frauentag, beklagen Frauenverbände und Gewerkschaften: Frauen verdienen im Durchschnitt 30 Prozent weniger als Männer.

Artikel 4: »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.« Ja, die evangelische und die katholische Kirche werden vom Staat sogar großzügig unterstützt, auch die jüdischen Gemeinden, die muslimischen weniger. Katholische Nonnen dürfen ihr Haupthaar verhüllen, auch wenn sie Schulunterricht geben, muslimische Kindergärtnerinnen nicht. Und der Freidenkerverband kann sich nicht solcher Privilegien erfreuen wie die Kirchen, die zum Beispiel gesetzlich mit Sitzen in den Rundfunkräten gesegnet sind.

Artikel 5: »Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.« Inzwischen ist dieses Grundrecht weitgehend von einigen Großkonzernen monopolisiert. Der Springer-Konzern, der die Bild- und andere Zeitungen herausbringt, hat auch großen Einfluß auf Hörfunk und Fernsehen gewonnen und expandiert jetzt in anderen Ländern. In Polen zum Beispiel hat er eine vorherrschende Position erlangt. Wo bleibt im Schatten wachsender Medienmonopole die Volkssouveränität?

Artikel 8: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« Aber es kann passieren, daß sie dann von der Polizei eingekesselt und viele Stunden festgehalten werden. Richter haben es verboten, aber es passiert wieder und wieder. Und es kommt auch vor - zum Beispiel neulich beim NATO-Gipfel -, daß Polizisten Demonstranten mit Steinen bewerfen.

Artikel 10: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.« Aber die Zahl der Abgehörten geht weit in die Hunderttausende. Deutschland gilt heute als Weltmeister im Abhören.

Artikel 13: »Die Wohnung ist unverletzlich.« Aber Mitarbeiter von Behörden dringen in Wohnungen ein, um Wanzen anzubringen, damit jedes dort gesprochene Wort mitgehört werden kann; und solche Behörden, die die Verfassung brechen, heißen ausgerechnet Verfassungsschutz.

Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieses Grundrecht, als besondere Errungenschaft aufgrund der Erfahrungen der Nazi-Verfolgten, die einst im Ausland Zuflucht gesucht hatten, ins Grundgesetz aufgenommen, wurde dermaßen eingeschränkt, daß kaum noch jemand von ihm Gebrauch machen kann. Ein paar hundert Asylsuchende im Jahr werden noch anerkannt - nach langen peinlichen Prozeduren. Nein, ein Genuß ist das nicht.

Artikel 19: »In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt werden.« Aber nicht nur das Asyl-, sondern auch andere Grundrechte wurden inzwischen durch zahlreiche gesetzliche Relativierungen grausig entstellt.

Artikel 26: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Aber der grundgesetzliche Auftrag zur Verteidigung wird inzwischen so exzessiv ausgelegt, daß ein zuständiger Minister von »Verteidigung am Hindukusch« sprach. Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung propagieren den Präventivkrieg. Einflußreiche Politiker arbeiten zudem beharrlich auf Bundeswehreinsätze im Innern hin. Und der Generalbundesanwalt meint, das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskriegs bedeute doch nicht etwa, daß der Bundesrepublik der Angriffskrieg selbst verboten sei.

Die Angriffe gegen das Grundgesetz, gegen unser aller Grundrechte gehen weiter.

Laut Artikel 20 ist die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat, aber laut Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem prompt viele Politiker nachschwätzen, ist der Sozialstaat »nicht mehr finanzierbar« - als wäre die Bundesrepublik seit ihrer Gründung immer ärmer geworden. Der mächtige Bundesverband des Groß- und Außenhandels forderte die Streichung von Artikeln, die den Bund unter anderem verpflichten, zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse beizutragen. Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi warb für eine »Ökonomisierung der Verfassung«.

Noch steht in Artikel 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Aber die FDP brachte schon einen Antrag ein, diesen Artikel aufzuheben.

Und wieviel ist in Zeiten von Hartz IV das Verbot der Zwangsarbeit (Artikel 12) noch wert?

Neuerdings finden sich sogar mehr und mehr Politiker, die entgegen Artikel 2 GG die Verwertung erfolterter Aussagen für sinnvoll oder gar notwendig erklären; auch der Präsident des sogenannten Verfassungsschutzes, Heinz Fromm, äußerte sich derart verfassungsfeindlich.

Bundesregierung und Bundestag bewiesen zudem mit ihrem Drängen nach einer Verfassung für die Europäische Union (mit Aufrüstungsgebot und Herabstufung von Grundrechten zu bloßen Grundsätzen), wie leichtfertig sie bereit sind, Errungenschaften preiszugeben, die wir den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen nach dem Sieg über das Nazi-Regime zu verdanken haben. Die von den Vereinten Nationen verkündeten sozialen Menschenrechte sind von der BRD bis heute nicht ins nationale Recht aufgenommen worden; die von den wirtschaftliche Mächtigen gewollte Massenarbeitslosigkeit mit immer mehr Dauerarbeitslosen, zunehmender Massenverarmung und wachsendem Druck auf die abhängig Beschäftigten ist ein einziger Hohn auf die sozialen Menschenrechte.

Im Grundgesetz steht noch der Artikel 139: »Die zur ›Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus‹ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Ausdrücklich berief sich die Bundesregierung auf diesen Artikel, als sie die Aufnahme in die UNO beantragte. Aber der spätere Bundespräsident Roman Herzog erklärte ihn schon in seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts für »obsolet«, was nun herrschende Lehre ist. Niemand erinnert sich mehr an die dort erwähnten Rechtsvorschriften zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus.

Die kaum mehr zu zählenden Notstands-, Stabilitäts-, Sicherheits- und Anti-Terror-Gesetze, zudem diverse sogenannte Vereinfachungs-, Erleichterungs- und Beschleunigungsgesetze haben allesamt die Demokratie eingeschränkt. Auf Erfahrungen aus der Nazi-Zeit beruhende Normen wie die Trennung von Polizei und Geheimdienst zerbröseln. Sind Geheimdienste mit dem Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie überhaupt vereinbar? Logischerweise nicht.

Und wenn nun nach und nach fast die ganze gesellschaftliche Infrastruktur privatisiert wird, was bleibt dann für Gemeinderäte, Landtage und den Bundestag noch zu entscheiden? Post, Bahn, Strom-, Gas- und Wasserversorgung, Müllentsorgung, Gesundheitswesen, Altenbetreuung, sogar Schulen und Hochschulen - nichts scheint mehr vor Kommerzialisierung sicher. Und zusehends vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Gesellschaftliche Teilhaberechte werden zunehmend von Einkommen und Vermögen abhängig. Bei wachsender Ungleichheit kann aber Demokratie nicht gedeihen, nur verkümmern. Der Neoliberalismus hat die Beseitigung der Gleichheit zum Programm; dieses Programm wird seit Jahren Zug um Zug verwirklicht.

Gedenken wir des Grundgesetzes. In Trauer angesichts seines schrecklichen Aussehens nach dem es unter die Räuber gefallen ist. Aber geben wir dieses leidende Wesen nicht auf.