Schweigen heißt Lügen

Howard Zinn zur Präsidentschaft Barack Obamas, zur Krise und zu den Grundvoraussetzungen für den Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt

Howard Zinn (* 24. August 1922 in New York) ist emeritierter Professor der Boston University. Er ist einer der weltweit einflussreichsten Historiker und Politikwissenschaftler und zusammen mit Noam Chomsky der bekannteste US-amerikanische Anarchist der Gegenwart. Im Frühjahr 2010 erscheint in der Hamburger Edition Nautilus seine von Maren Hackmann ins Deutsche übersetzte Autobiografie Schweigen heißt Lügen (Originaltitel: You can't be neutral on a moving train). Wir danken dem Verlag für die Möglichkeit der exklusiven Vorabveröffentlichung des für die deutschsprachigen LeserInnen geschriebenen Nachworts. (GWR-Red.)  

 

Es freut mich, dass meine Autobiografie mit der vorliegenden Übersetzung nun auch den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht wird. Ich könnte mir vorstellen, dass viele von ihnen sich fragen, was ich wohl von dem neuen US-Präsidenten Barack Obama halte. Wie ich weiß, gilt er in Deutschland und im übrigen Eu­ropa als großer Hoffnungsträger, und viele Leute scheinen zu denken, Kritik an Obama sei fehl am Platze oder doch zumindest verfrüht. Ich betrachte es dennoch als meine Pflicht, ganz offen zu sagen, was mir an diesem Präsidenten gefällt und was nicht.

Dass in Washington ein neuer Wind weht, spürt in diesen Tagen jeder, der dorthin kommt. Als bekannt gegeben wurde, dass Obama die Wahl gewonnen hatte, atmeten die meisten Leute auf: „Die wären wir los!", sagten sie - auch wenn die Geschmähten noch nicht dort sind, wo sie hingehören, nämlich hinter Gittern. Ein denkwürdiges Ereignis war die Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten allemal. Wer wollte behaupten, dass ihn das, was sich bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses auf den Gesichtern der versammelten Menschen abspielte, nicht berührt hätte? Für mich persönlich war es ein besonders ergreifender Moment, als das Fernsehen Studenten des Spelman College einblendete. An diesem College hatte ich ja zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung sieben Jahre lang gelehrt. Wie glücklich die Studenten aussahen und wie sie jubelten! Für mich war das ein überwältigender Anblick. Soviel zu meinen persönlichen Empfindungen, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben durften. Im Folgenden wird es aber darum gehen, die Obama-Präsidentschaft einer nüchternen Betrachtung zu unterziehen. Obama ist wortgewandt, intelligent und charismatisch. In vielerlei Hinsicht ist er das Gegenteil seines Amtsvorgängers. Man ist natürlich froh, wenn im Weißen Haus jemand sitzt, dem man die Fähigkeit, einen Wandel einzuleiten, zumindest nicht von vornherein absprechen würde. Aber machen wir uns nichts vor: Obama ist ein Politiker, jemand, auf den schon qua Amt Druck ausgeübt und Einfluss genommen wird, damit er nicht mit ge­wissen Traditionen bricht. Kurz, der Politiker Obama wird dazu neigen, sich auf sicherem Terrain zu bewegen. Es ist nicht an­zunehmen, dass er allzu stark von jenen Prinzipien abweichen wird, von denen sich frühere US-Präsidenten haben leiten lassen. Und was sind das für Prinzipien? Zwei Worte reichen aus, um sie auf den Punkt zu bringen: Nationalismus und Kapitalismus. Jeder US-Präsident, ob liberal oder konservativ, ob Republikaner oder Demokrat, fühlte sich diesen beiden Prinzipien verpflichtet: Nationalismus, das heißt, Expansionsstreben, Imperialismus; und Kapitalismus, das heißt, Vertrauen auf das Big Bu­siness und die sogenannte Marktwirtschaft bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche Maßnahmen, die einem als „sozialistisch" ausgelegt werden könnten. Zwar ist Obama jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, erst seit Kurzem im Amt, aber Anhaltspunkte dafür, dass er diese Tradition fortzuführen gedenkt, gibt es bereits mehr als genug. Obwohl er gesagt hat, er wolle den Irakkrieg beenden, zieht Obama die Truppen nur sehr langsam ab; gleichzeitig entsendet er Soldaten nach Afghanistan, wo unsere Militäraktionen bereits Tausende zivile Opfer gefordert haben und unter seiner Ägide auch weiterhin fordern. Als Obama sich noch im Prä­sidentschaftswahlkampf befand, hatte er gesagt, aus dem Irak abzuziehen, sei nicht genug; wir müssten auch die Geisteshaltung ablegen, aufgrund deren wir überhaupt erst im Irak gelandet seien. Was für eine Geisteshaltung ist das? Es ist die Überzeugung, dass sich Probleme mit militärischen Mitteln lösen lassen. Dass die USA eine mächtige Militärmaschinerie haben müssen. Dass sie einen Gutteil ihres Reichtums in die Unterhaltung einer großen Armee, einer großen Marine und einer großen Luftwaffe stecken müssen. Dass sie Militärstützpunkte in aller Welt haben müssen. Es sieht aber ganz und gar nicht so aus, als habe Obama vor, eine andere Denkart einzuführen. Ei­ne seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, grünes Licht für von „Predator"-Drohnen auszuführende Luftangriffe auf Pakistan zu geben. Hunderte Unschuldige sind bei diesen An­griffen bereits ums Leben gekommen. Zur Rechtfertigung heißt es, die Angriffe richteten sich ausschließlich gegen Terroristen, doch sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, dass Bomben und Raketen nicht zwischen einem Terroristen und einem Zivilisten zu unterscheiden vermögen. Die Demokraten geben sich bei innenpolitischen Belangen traditionell liberaler als in der Außenpolitik. Allerdings nur gerade so liberal, wie ihre Wählerschaft es verlangt, nicht liberal genug, um das Wirtschaftssys­tem von Grund auf zu erneuern. Obama hat zum Beispiel gesagt, dass er im Gesundheitswesen bedeutende Veränderungen durchsetzen will. Er weigert sich aber, eine Zäsur vorzunehmen, die von der Mehrheit der US-Amerikaner begrüßt würde, nämlich jedem Bürger im Rahmen eines staatlichen Gesund­heitssystems zu einer kostenfrei­en Gesundheitsversorgung zu verhelfen. Aufgrund seiner engen Verbindungen zum Big Bu­siness scheut Obama davor zurück, an der Rolle der riesigen Versicherungsgesellschaften zu rütteln, und so werden auch wei­terhin 30 Prozent der US-ameri­kanischen Gesundheitskosten für Verwaltung draufgehen, anstatt in die medizinische Versorgung zu fließen. Wenn mich nun jemand fragt, „Na ja, was erwarten Sie denn?", dann sage ich: „Eine ganze Menge." Und wenn mich jemand fragt, „Was sind Sie denn - ein Träumer?", dann sage ich: „Genau das. Ich bin ein Träumer. Ich will alles. Eine friedliche Welt. Eine egalitäre Welt. Keinen Krieg. Keinen Ka­pitalismus. Ich will eine anständige Gesellschaft." Ich bin froh, dass ich das Träumen nicht verlernt habe. Denn würde ich damit aufhören, müsste ich mich immer mehr auf eine Realität einlassen, die für mich nicht hin­nehmbar ist. Obama wird das Kapitalismusmodell zwar nicht grundsätzlich in Frage stellen. Seine Präsidentschaft fällt aber nicht in eine x-beliebige Epoche der Geschichte, sondern just in die Zeit, da das kapitalistische System der USA in die Brüche geht. Und ich bin froh, dass es in die Brüche geht, denn sonst wäre die Dringlichkeit einer Generalüberho­lung weniger augenfällig. Was wir in den USA brauchen, ist eine Abkehr von den alten Praktiken, eine Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Obama war bisher nur allzu bereit, dem Druck der Konzerne und des Marktes nachzugeben. Wenn wieder einmal die Vorzüge des marktwirtschaftlichen Systems gepriesen werden, ist Skepsis angebracht. Die Marktwirtschaft ist das, was wir bis jetzt hatten. „Lasst den Markt entscheiden", sagten die Befür­worter dieses Systems. „Freie Gesundheitsversorgung - das darf nicht sein." Der Markt sollte die Dinge regeln, und das tat er denn auch. Mit dem Ergebnis, dass in den USA 45 Millionen Menschen ohne Gesund­heitsversorgung dastehen, zwei Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf haben und Abermillionen Menschen ihre Miete nicht bezahlen können. Fazit: Der Markt darf eben nicht das Sagen haben. Einer Wirtschaftskrise, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist mit den alten Rezepten nicht beizukommen. Man kann nicht einfach Geld in die obersten Gesellschaftsschichten und in die Konzerne pumpen und darauf vertrauen, dass dieses Geld dann schon ir­gendwie nach unten durchsic­kert. Was da durchsickert, ist al­lenfalls der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. In diesem Zusammenhang sei an die Geschichte des „New Deal" der 1930er Jahre erinnert, mit der viele Leute nicht vertraut sind. Wenngleich dieses Re­formpaket nicht weit genug ging, beinhaltete es doch ein paar sehr gute Ideen, was sich allein dem Umstand verdankte, dass in den USA damals heftig agitiert wurde. Der Aufruhr hatte Präsident Franklin D. Roose­velt unter Zugzwang gebracht. Was also tat seine Regierung? Sie nahm Milliarden von Dollar in die Hand und gab bekannt, dass sie Leute einstellte.

„Sie sind arbeitslos? Ihre Regierung hat einen Job für Sie. Was Sie auch immer beruflich machen - melden Sie sich bei Ihrer Regierung, und Sie stehen in Lohn und Brot."

Das Ergebnis war, dass im ganzen Land großartige Arbeit geleistet wurde. Junge Leute wurden millionenfach in das „Civi­lian Conservation Corps" aufgenommen. Anstatt sie als Kampfsoldaten nach Übersee zu entsenden, gab die Regierung ihnen Geld - genug, um den eigenen Lebensunterhalt bestreiten und einen Betrag an die Eltern schicken zu können -, und dann machten sich diese jungen Leute auf, im ganzen Land Brücken und Straßen zu bauen, Kinder­spielplätze anzulegen und allerlei andere bemerkenswerte Dinge zu tun. Die Regierung legte auch ein bundesweites Kunstförderungsprogramm auf. Sie wartete nicht ab, ob der Markt vielleicht von selbst auf die Idee käme. Nein, die Regierung brachte das Programm eigenhändig auf den Weg und stellte Tausende arbeitslose Künstler ein: Dramatiker, Schauspieler, Musiker, Maler, Bildhauer, Schriftsteller. Was dabei herauskam? Tausende Kunstwerke. Noch heute kann man im ganzen Land Tausende Wandgemälde bestaunen, die damals im Rahmen dieses Programms entstanden sind. Im ganzen Land wurden Theaterstücke aufgeführt, und zwar zu so niedrigen Eintrittspreisen, dass auch Leute hingingen, die sich in ihrem Leben noch keinen einzigen Theaterbesuch hatten leisten können. Damit ist nur angerissen, was sich alles auf die Beine stellen ließe. Die Regierung hat die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Sie darf diesen Auftrag nicht von den Konzernen und dem Markt erledigen lassen, denn denen geht es nicht um die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, sondern um Profit. Vergessen wir also nicht: Oba­ma ist ein Politiker und wir US-Amerikaner sind aufgerufen, unserer Bürgerpflicht nachzukommen und die Politiker, einschließlich Obama, in eine fortschrittliche Richtung zu drängen. Streik, Boykott, ziviler Ungehorsam - jene Mittel also, mit denen Roosevelt damals zu den Reformen des „New Deal" gedrängt wurde - lassen sich auch heute noch wirksam einsetzen. Das ist es doch, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. In einer Demokratie müssen die Bürgerinnen und Bürger ihrer Regierung einschärfen, dass sie dazu da ist, ihre Interessen zu vertreten, nicht die der Politiker, Konzerne und Generäle. Wir müssen Stellung beziehen und dürfen nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Politik weiter auf Irrfahrt geht. Wir müssen dafür sorgen, dass die Weichen neu gestellt werden. Das ist eine Grundvoraus­setzung für den Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt.

Howard Zinn, im Mai 2009

Übersetzung: Maren Hackmann

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 342, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 38. Jahrgang, Oktober 2009, www.graswurzel.net