Eine Entgegnung auf Franco "Bifo" Berardis Thesen
Ein Blick in die Ausgabe von Focus on Trade (Nr. 42), die direkt
nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen 1999 erschien, zeigt: nicht
triumphierender Jubel über die Erscheinung einer
Antiglobalisierungsbewegung charakterisiert Walden Bellos einleitenden
Beitrag, sondern eine sorgsame Wiedergabe des Scheiterns der Gespräche
an den Streitpunkten Transparenz, Umwelt- und Arbeitsstandards und
einer verärgerten afrikanische Delegation. Die beeindruckenden
Demonstrationen werden selbstverständlich erwähnt, etwa der Marsch der
1000 zum Bezirksgefängnis, um die Freilassung von mehr als 400
Aktivisten zu fordern. Aber es gibt keinen Hinweis auf eine Art
Folklore bzw. den Mythos des sog. Battle of Seattle.
Doch sicher ist, die WTO hat sich nie vom Scheitern in Seattle
erholt und wird es vielleicht niemals. Wir bekamen einen Eindruck
davon, wie verletzlich eine machtvolle internationale Organisation
aufgrund eigener Widersprüche sein kann, von der potenziellen
Wirksamkeit durchdachter Strategien von ‘innen' und ‘außen'. Bei den
Folgetreffen in Cancun und Hongkong setzten sich die Erfahrung und der
Mythos fort. Der tragische Protest-Selbstmord von Lee Hyung-kae und die
heroischen Campesinas in ihrem farbenprächtigen Tüchern bei der
Blockade der Tore zum Verhandlungszentrum haben bewiesen: die
Legitimation der WTO zu erschüttern ist möglich. In Hongkong prägten
koreanische Bauern das Bild, ehrten die Erde mit zeremoniellen 10
Schritten, verneigten sich und sprangen von Booten in die kalten Wasser
der Hafens, um zum Tagungszentrum der versammelten Minister zu
schwimmen.
Ich war an keinem dieser Orte und doch gehören diese Momente zu meiner
Geschichte, ebenso wie die Ereignisse in Prag, Genua oder Quito, wo ich
die Kombination von Tränengas und schwarzen Block erfahren konnte, die
zugegebenermaßen einen gewissen Adrenalinschub auslöst. Genua markiert
eine besondere Erfahrung: wir gingen zusammen und glorreich durch das
Feuer. Die außerordentliche Solidarität die wir angesichts von
polizeilicher Gewalt und der Respekt für Carlo Guliani erlebt haben,
hinterlässt bleibende Spuren.
Das erneute Lesen unserer Geschichte(n) macht mir Gänsehaut: etwas
zieht sich durch unsere jeweiligen Versuche, den Widrigkeiten mit
Humor, Kreativität und Überzeugung zu begegnen. Wir experimentierten
mit neuen Formen Politik zu machen, schufen groß(artig)e Projekte wie
das Weltsozialforum und wir haben Wirkung entfaltet, im Kleinen wie im
Großen. Am letzten Tag des WTO-Treffens in Hongkong zirkulierte ein
‘Dankesschreiben an unsere internationalen Freunde' (der ‘Group of
Hongkong People'): „Danke für eure Geduld, uns und unseren Medien die
verheerenden Effekte der WTO verdeutlicht zu haben, obwohl eure Stimmen
in den örtlichen Medien verunstaltet und unterdrückt wurden. Danke,
dass ihr uns mit euren Schritten den Wert und die Bedeutung von
Solidarität wieder vorgeführt habt. Nur durch die wechselseitige
Solidarität, Unterstützung und Kämpfe mit langem Atem kann Demokratie
real werden."
Sind es wirklich erst zehn Jahre seit Seattle? So viel ist geschehen,
so vieles hat sich verändert (mich eingeschlossen). Sicher waren wir
nicht in der Lage, den geschichtlichen Moment der Krise von 2008 zu
nutzen, um den Kapitalismus in die Knie zu zwingen, noch haben wir den
Irak-Krieg gestoppt. Doch wir konstruieren eine (nicht-sektiererische)
globale Bewegung mit bestimmten geteilten Werten und Zielen, Nord und
Süd verbindend, mit neuen Formen der Kooperation, die über einzelne
Demonstrationen oder Kampagnen hinaus gehen. Zuletzt bereiteten wir uns
auf den Weltklimagipfel 2009 in Kopenhagen vor - und zu spüren ist
dieselbe Energie und der gleiche Enthusiasmus der uns bei beim
Blockieren der WTO oder dem Aufbau des Weltsozialforums trieb. Die
entstehende Bewegung für Klimagerechtigkeit ist etwas Reales. Ihre
Wurzeln reichen bis Seattle und Porto Allegre.
Daher ist Franco Berardis Pessimismus frustrierend. Obwohl noch soviel
Arbeit zu tun ist, empfiehlt er uns, in Klöster zurück zu ziehen. Er
klingt eher wie ein nicht ans Überleben Glaubender als wie ein
lebensbejahender Streiter für Veränderung. Was genau möchte er in den
Klöstern bewahren? Wer gehört zur kleinen Elite, die es Wert ist,
gerettet zu werden? Was ist mit den an AIDS erkrankten Menschen, die
Kampagnen gegen die Patentierung von Medikamenten organisierten? Was
ist mit den landlosen Frauen in Brasilien, die in den frühen
Morgenstunden mit ihren Macheten Hektar von Eukalyptus schneiden? Was
ist mit den indigenen Völkern, die Hunderte ihrer Schwestern und Brüder
verloren, um ihr Land, Wasser und Leben zu verteidigen? Was ist mit
jenen, die einfach nur Evo Morales wählten? Was ist mit den gegen
Umsiedlung und Vergiftung ihrer Umwelt kämpfenden Townshipbewohnern in
Durban? Was ist mit den verlassen Menschen von New Orleans? Etc.
Die Aufgabe die uns Bifo stellt, „die Redefinition der Verständnisses
von ‘gutem Leben', Wohlstand und Glück", ist eng euro-zentristisch und
traurig. In anderen Teilen der Welt - vielleicht weit entfernt von
Bifos Lebensmittelpunkt - leben Familien, Gemeinden, Frauen und Männer
alltäglich ihr Verständnis von Glück und gutem Leben, gegen die
Widrigkeiten alltäglicher Unterdrückung und konfrontiert mit
Militarismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus. Statt im Kloster
nach Sinn zu suchen oder eine weitere (westliche) Erzählung der
Geschichte zu schreiben, könnte Genosse Bifo mit uns in die Niederungen
des alltäglichen Kampfes steigen und sich die Hände schmutzig machen.
Komm mit uns nach Kopenhagen! Werde Teil der globalen Bewegung für
Klimagerechtigkeit! Dies mag vielleicht kein Wendepunkt wie Seattle
sein, doch zumindest holt es dich aus deiner bedrückenden Selbstbeschau
heraus.
Der Beitrag erschien in Heft2/2009, S.12ff. als Teil der Debatte "Von Seattle nach Kopenhagen - Herausforderungen der globalen sozialen Bewegungen" und in diesem Zusammenhang als eine Entgegnung auf Franco "Bifo" Berardis Beitrag Zehn Jahre nach Seattle: Rückzug in sichere Häfen