Tolerierter Schmuggel

Interaktion zwischen Zöllnern und Schmugglern

Grenzen sind soziale Tatsachen, die sich räumlich manifestieren - etwa wenn Schmuggler und Grenzschützer an Grenzübergängen aufeinandertreffen und in ritualisierter Form Bedingungen undMöglichkeiten des Grenzübertritts aushandeln. Das Grenzgeschehen wird in diesem Beitrag in soziologisch-ethnologischer Perspektive am Beispiel des Kaliningrader Grenzgebiets betrachtet.

Ethnologen untersuchen keine Dörfer, sondern machen Untersuchungen in Dörfern, wie Clifford Geertz es einmal ausgedrückt hat. Mit der gleichen Intention beschreibt Simmel die Grenze als eine soziologische Tatsache, die sich räumlich ausdrückt. Mit dieser Vorbemerkung befinden wir uns mitten im Thema, bei dem der Kontakt zwischen Schmugglern und Zöllnern während der Grenzkontrolle analysiert werden soll.1 Lassen Sie mich zunächst einige Erklärungen voranstellen,

denn die hier vorgestellte Grenze ist außerordentlich speziell. Es handelt sich um die EU-Außengrenze zur russischen Exklave Kaliningrad. Auf beiden Seiten der Grenze finden wir ein wirtschaftliches Krisengebiet mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Da soziale Sicherungssysteme fehlen,

greifen die Bewohner neben der Arbeitsmigration auf informelle Wirtschaftskontakte zurück. Zu jenen gehört auch der Warenschmuggel von Zigaretten, Wodka, Benzin und Diesel von Russland nach Polen. Die Waren werden in drei Stufen weitergehandelt: 1. in der Grenzregion, 2. in Polen und 3. nach

Westeuropa, wobei Alkoholika und Treibstoffe für den regionalen Markt bestimmt sind, während die Zigaretten auch in Großbritannien und Deutschland verkauft werden.

Der Schmuggel hat seit Anfang der 1990er Jahre einen Umfang erreicht, der als Massenbewegung zu beschreiben ist. Man kann auch von einer Form der Demokratisierung des Schmuggels reden, womit zum Ausdruck kommt, dass alle Bevölkerungsschichten an dem Schmuggel beteiligt sind (Haller 2000, S. 267). Seit Öffnung der Grenzen sichert der illegale Kleinhandel, vor allem von Russland und der Ukraine, das Einkommen der Bewohner im grenznahen Bereich. Allein an der ca. 200 Kilometer langen Grenze zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und der polnischen Wojewodschaft

Warmia-Mazury leben nach Schätzungen bis zu 10.000 Personen - geht man davon aus, dass es sich um Familien handelt, so ca. 40.000 Personen teilweise - vom Schmuggel. Da offizielle Zahlen nicht zur Verfügung stehen, kann man nur aufgrund von Beobachtungen und der beschlagnahmten Waren den Umfang des Schmuggels schätzen.2 Demzufolge muss man davon ausgehen, dass über 95 Prozent des privaten Reiseverkehrs an den drei Grenzübergängen zwischen Polen und der Kaliningrader Oblast nur dem Warenschmuggel dienen.3 Zentral für die nachfolgenden Überlegungen ist die Tatsache, dass der Schmuggel kein Geheimnis ist. Vielmehr sind alle gesellschaftlichen Bereiche in der Region darüber informiert, d. h. die Einwohner, der Zoll, der Grenzschutz und die Gemeindeverwaltungen. Der Schmuggel ist ihnen eine bekannte Tatsache, die vielfach auch in den Medien behandelt wird. Er stellt also ein „offenes Geheimnis" dar. Damit wird eine Trennung zwischen dem privaten Wissen um den Schmuggel und dem öffentlichen Schweigen darüber ausgedrückt (Haller 2000, S. 145). Allenfalls reduziert man seine Kenntnis auf die in den Medien dargestellten Fakten. Die Konstruktion des „offenen Geheimnisses" ermöglicht es, über den Schmuggel als Kleinhandel zu reden und zugleich zu ignorieren, dass man detailliertes Wissen darüber hat. Lena Halamska4 erfüllt eine herausragende Position in einer von mir besuchten Kleinstadt. Sie antwortet auf meine Frage nach der Bedeutung des Schmuggels für die Kleinstadt folgendermaßen:

„Da braucht man nicht lange darüber nachzudenken, hat er, weil die Leute sehr aktiv sind. Also, sie wissen sich in ihrem Leben zu helfen, nicht." Nicht der Aspekt von Illegalität wird angesprochen, sondern die Handlungen der Schmuggler werden positiv bewertet, denn sie sind diejenigen, die aktiv für ihren Lebensunterhalt sorgen. Es bleibt also festzuhalten, dass die lokale Öffentlichkeit dem Schmuggel tolerant begegnet. Der Hintergrund ist dabei vielfältig. Er reicht von dem individuellen

Gewinn, den man als Käufer von geschmuggelten Waren hat, bis zu den Einsparungen der Gemeinde für Sozialunterstützung. Nicht zu vergessen ist selbstverständlich auch der Zufluss an Kaufkraft in die lokale Ökonomie durch den Schmuggel. Hingegen wirkt sich der Verlust durch die Steuereinnahmen weniger in der regionalen als in der gesamtstaatlichen Rechnung aus. Vor dem hier skizzierten Hintergrund soll der Frage nachgegangen werden, wie die Akteure in der konkreten Situation den Schmuggel ermöglichen und welche Rollenkonflikte dabei entstehen. Interessant für diesen Prozess ist die konkrete Situation an der Grenze - also der Moment, in dem der Schmuggler dem polnischen Zöllner gegenübersteht. Die einfachste Form ist selbstverständlich die Korruption. Doch gerade weil sie vergleichsweise banal ist, soll sie uns hier nicht interessieren. Zudem spielt Korruption an der Grenze eine untergeordnete Rolle. Der sehr viel interessantere und auch quantitativ bedeutsamere Fall stellt eine Form des Aushandelns der Interessen zwischen Zöllnern und Schmugglern dar, wie ich nachfolgend zeigen werde. Die Schmuggler fahren regelmäßig, häufig schon seit Monaten oder Jahren, über die Grenze. Daher kennen sich Schmuggler und Zöllner. Zumindest von Angesicht zu Angesicht erkennen sie sich wieder.5 Diese Begegnung geschieht vor dem Hintergrund des strukturellen Wissens, dass es sich um Schmuggler handelt, die hier regelmäßig an der Grenze erscheinen. Für den Zöllner entsteht das Problem, dass er zwischen zwei Ansprüchen entscheiden muss, die seinem Handeln zugrunde liegen. Auf der einen Seite hat er die Aufgabe, die illegale Einfuhr von Waren nach Polen zu verhindern. Dem gegenüber steht der Anspruch des Schmugglers, seine Erwerbsmöglichkeit nicht zu zerstören. Man könnte auch sagen, es handelt sich um die Wahl zwischen einer Kollektivorientierung, die sich auf die administrativen Vorgaben bezieht und einer Selbstorientierung, bei der sich der

Zöllner an seinen individuellen Kriterien orientiert. Damit ist ein Rollenkonflikt umrissen, in dem der Zöllner steht und der als Stress erlebt wird. Auf dieser Basis will ich mich jetzt auf die Mikroebene des Verhaltens von Zöllnern und Schmugglern während der Grenzkontrolle begeben.

Der Aushandlungsprozess

Schmuggler und Zöllner erkennen sich, jedoch geben sie dies nur indirekt zu verstehen. Ein kurzes Lächeln, ein kaum wahrnehmbares Nicken mit dem Kopf oder auch nur ein Unterton, eine Auslassung oder ein Wort in einer Bemerkung sind ein Zeichen dafür, dass sie sich erkennen. Undenkbar wäre

eine offene Begrüßung zwischen ihnen an der Grenze. Würden sich Schmuggler und Zöllner offen begrüßen, dann träfen sie sich nicht mehr als Vertreter ihrer offiziellen Rollen, sondern als Privatpersonen bzw. wären beide Rollen miteinander vermischt. Der Zöllner muss in dieser Situation zwei Rollen ausgleichen: Die offizielle Rolle in seiner Funktion als Zöllner und die private Rolle des Individuums, das sein Gegenüber als regelmäßigen Besucher wiedererkennt und unter Umständen sogar aus seinem Wohnumfeld kennt.

Damit die Zollkontrolle jetzt überhaupt in einigermaßen geordneten Bahnen ablaufen kann, ist es notwendig, dass die Akteure ihre offiziellen und damit anonymen Rollen einnehmen. Die Einnahme dieser Rollen wird mit einem Ritual eingeleitet. Es besteht aus zwei Sätzen: Der Zöllner fragt, ob

der Schmuggler etwas anzumelden hat. Darauf antwortet der Schmuggler, er habe nichts anzumelden. Das sind die vorgeschriebenen Sätze an allen europäischen Grenzen. Hier werden sie zum Ritual, weil die Akteure wissen, dass der Inhalt nicht richtig ist. Aber gerade dadurch, dass die gleichen Sätze an allen Grenzen Europas unzählige Male gesprochen werden, ermöglichen sie den Akteuren ihre offiziellen Rollen einzunehmen. Man kann auch sagen, beide „spielen" die Rollen des anonymen Zöllners bzw. Reisenden.

Der Begriff des Spiels erinnert hier selbstverständlich an Goffmann und den Vergleich sozialer Situationen mit der Bühne eines Theaters (Goffmann 1969, S. 100 ff.). Und in der Tat bietet dieser Vergleich eine sinnvolle Hilfe an. Denn so wie Goffmann zwischen der offiziellen Vorderbühne und der privaten Hinterbühne unterscheidet, kann auch die Grenzkontrolle als Vorderbühne begriffen werden, auf der die Akteure eine soziale Situation in Szene setzen. Auf der Hinterbühne haben die Schmuggler vorher ihre Waren versteckt und sich auf ihren Auftritt auf der öffentlichen Bühne vorbereitet. Nachdem mit diesem Ritual das Spiel zwischen Schmuggler und Zöllner seinen Auftakt genommen hat, kommt der Kommunikationsfähigkeit des Schmugglers eine wichtige Funktion zu. Der Schmuggler wird sich bemühen, mit dem Zöllner Small Talk zu führen. In diesem Gespräch ist der Inhalt nebensächlich, denn dieser dient nur als Hilfsmittel, mit dem die Beziehungsebene aufgebaut wird. In dem Gespräch versucht der Schmuggler, Kontakt mit dem Zöllner aufzubauen und dadurch eine ungezwungene Atmosphäre zu schaffen. Man könnte sagen, die Situation dient dazu, den Zöllner von seiner eigentlichen Aufgabe abzulenken. Doch fasst man die Situation genauer, dann bereitet die Beziehungsebene dem Zöllner den Weg dahingehend, seine Suche nicht weiter auszudehnen. Wichtig ist die wechselseitige Anerkennung der Akteure in ihren Rollen. Das bedeutet für den Schmuggler, dass er seine Waren verstecken muss. Das mag erstaunen, scheint das doch selbstverständlich. Doch warum sollte das selbstverständlich sein, an einer Grenze, an der alle schmuggeln und alle davon Kenntnis haben? An einer Grenze, an der selbst Bürgermeister den Schmuggel ihrer Einwohner unterstützen? Ein Schmuggler kommentiert das Verhalten einer Kollegin,

deren Zigaretten offen in der Handtasche lagen und daraufhin beschlagnahmt wurden, mit den Worten: „Man darf nicht übertreiben!" Das Geheimnis des Schmuggels ist zwar offen, doch muss man die Form des Geheimnisses bewahren, damit der Schmuggel realisiert werden kann. Wer seine geschmuggelten Waren offen zeigt, unterläuft die stillschweigende Vereinbarung des „offenen Geheimnisses". Der Schmuggler kann zwar mit einer wohlwollenden Reaktion des Zöllners rechnen, doch erwartet der Zöllner auch eine Anerkennung seines Rollenkonfliktes zwischen dem moralischen Anspruch, tolerant dem Schmuggel zu begegnen und ihn doch zu verhindern. Der Schmuggler erkennt diesen Zwiespalt an, indem er seine Waren versteckt. Denn damit baut er dem Zöllner eine Brücke, ihn als normalen Reisenden anzuerkennen. Der Schmuggler kann sich darauf verlassen, dass der Zöllner seine Suche beenden wird, wenn er an drei, vier Stellen keinen Hinweis auf Schmuggelwaren

findet. Dabei ignoriert der Zöllner sein Wissen, dass es sich hier um einen Schmuggler handelt.

In dem Kontakt zwischen Zöllnern und Schmugglern wird ein Verständnis für die Aufgaben, Pflichten und Ziele des anderen sichtbar. Umgangssprachlich wird dieses Verständnis mit dem Begriff der Sympathie ausgedrückt. Schmuggler beschreiben dann einen Zöllner als sympathisch, wenn dessen

Verhalten nicht als diskriminierend erlebt wird. Doch was ist dieses Verständnis, wenn wir uns hier nicht auf Alltagspsychologie berufen, sondern es soziologisch fundieren wollen? Verständnis bedeutet ja, dass sich die beiden Akteure verstehen. Und verstehen beschreibt wiederum die Lesbarkeit der

symbolischen Zeichen, also der verbalen und nonverbalen Kommunikationsebene. Und diese Lesbarkeit hat ihre Basis in der sozialen Übereinstimmung, d.h. Schmuggler und Zöllner gehören der gleichen sozialen Schicht an. Schmuggler sind eben nicht die Ärmsten in der Region, es sind auch nicht die gesellschaftlichen Außenseiter, wie etwa Alkoholiker, und sie entstammen keiner kriminellen Subkultur. Der berufliche Schritt vom Schmuggler zum Zöllner oder vom Zöllner zum Schmuggler ist

nur ein kleiner Schritt von der informellen zur formellen Tätigkeit. Und bekannt sind an der Grenze Karrieren, bei denen dieser Schritt schon vollzogen wurde: Der Zöllner, der aufgrund von Korruption entlassen wurde und sich dann als Schmuggler wieder an der Grenze findet, ist hier ebenso bekannt wie der Zöllner, der früher auf dem Markt einen legalen Kleinhandel betrieben hatte, bevor er zum Zoll ging. Gefürchtet sind Zöllner, die über eigene Erfahrungen im Schmuggel verfügen, denn sie kennen sich zu gut mit den Strukturen aus. Schmuggler und Zöllner entstammen nicht nur den gleichen Wohnorten, sondern sie haben die gleichen Schulen besucht und waren oftmals an gleichen Arbeitsstätten tätig. Diese Nähe der sozialen Schicht ermöglicht überhaupt erst das Verständnis. Zugleich erfordert der Umgang miteinander aber auch eine Form der Rollendistanz. Man muss ja im Blick behalten, dass es sich hier um professionelle Schmuggler handelt, die damit seit Jahren ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wenn sich die Professionalität des Schmugglers in der Anerkennung der Aufgaben des Zöllners äußert, dann zeigt der Schmuggler in dieser Situation auch die Fähigkeit, auf Distanz zur eigenen Rolle zu gehen. Die Rollendistanz äußert sich auch im Verhalten von kleinen

Hilfestellungen und verbaler Freundlichkeit. Der Schmuggler wird während der Kontrolle bemüht sein, den Zöllner in der Ausübung seiner Arbeit zu unterstützen. Das heißt, er wird ihm, soweit das möglich ist, seine Arbeit erleichtern. Beispielsweise wird er Gegenstände anheben, die Wagentüren aufhalten und Taschen öffnen. Alles möglichst in der Gewissheit, dass genau an diesen Punkten keine Waren versteckt sind oder der Zöllner sich mit einer oberflächlichen Kontrolle zufriedengibt. Zur Professionalität von Schmugglern gehört es auch, die Beschlagnahmung von Waren zu akzeptieren. Dies ist ein Teil des Betriebsrisikos und von vornherein eingeplant. Es handelt sich dabei um einen Verlust, der in der durchschnittlichen Rechnung regelmäßiger Fahrten einen festen Unkostenfaktor

darstellt. Nur wenn jemand gelegentlich schmuggelt, kann ihn die Beschlagnahme wirtschaftlich treffen. Hier unterscheiden sich professionelle Schmuggler von Amateuren. Jedoch darf man sich diesen Prozess des Aushandelns nicht zu idyllisch vorstellen, denn im Hintergrund verfügen beide Seiten über Sanktionsmöglichkeiten. Die Zöllner haben nicht nur das Strafrecht auf ihrer Seite, sondern auch die Möglichkeit der administrativen Durchsetzung von Sanktionen. Dem stehen die

Schmuggler aber nicht hilflos gegenüber. Denn allen Zöllnern sind die Fälle bekannt, bei denen pflichtbewussten Kollegen die Reifen ihrer Privatwagen zerschnitten oder die Scheiben eingeschlagen wurden. Auch wurde einer besonders eifrigen Zöllnerin schon einmal ein Sarg als eindeutige Warnung vor die Tür gestellt. Und ob der Bericht eines Zöllners der Wahrheit entspricht, dass manch eine Autotür schon zugeschlagen wurde, als der Zöllner noch seine Hand dazwischen hatte, ist eigentlich

unerheblich, denn die Drohung steht damit im Raum. Schmuggler und Zöllner treffen sich hier wie Schauspieler und Zuschauer in einem „Theater". Sie treffen sich in dem Wissen, dass hier gespielt wird. Es ist nicht das reale Leben, der Alltag mit seinen Normen und Werten, sondern hier trifft man sich in einem geschützten Raum mit eigenen Normen. Sie spielen den Alltag und haben dabei die Möglichkeit, Normen und Werte zu relativieren, ohne dass damit deren Gültigkeit außerhalb des „Theaters" infrage gestellt würde. Bleiben wir noch einen Augenblick bei dem Vergleich mit dem Theater und betrachten die Grenze als Bühne. Im Grunde sind Schmuggler und Zöllner ja beide Akteure auf dieser Bühne und man kann sich fragen, wer hier Zuschauer ist und für wen das Stück aufgeführt wird. Die Zuschauer sind im Grunde abstrakt, es ist die Öffentlichkeit und nur in einem Ausnahmefall wird aus der abstrakten Öffentlichkeit eine konkrete Person. Dieser Ausnahmefall ereignet sich beispielsweise bei einer Inspektion der Kontrollstelle durch eine Kommission der EU-Zollbehörden. In dieser Situation spielen nämlich Zöllner und Schmuggler gemeinsam auf der Bühne die normale Grenzkontrolle an einer westeuropäischen Grenze. Kontrolliert wird nur noch oberflächlich, die Kenntnis des Schmuggels ist hier mit einem Mal nicht mehr präsent.6

Soziale Dynamik der Grenzkontrolle

Die Akteure beschreiben die Grenze als „Fabrik" oder „Theater". Zum Ausdruck bringen sie damit die Gleichförmigkeit des täglichen Ablaufs und das doppelte „Spiel" zwischen offiziellen und inoffiziellen Rollen. Täglich sind es die gleichen Personen, die häufig sogar zu den gleichen Zeiten an der Kontrollstelle stehen. Man kennt sich vom Ansehen und kennt den Grund der Fahrt, nämlich den Schmuggel. Nicht durch Korruption wird der Schmuggel ermöglicht, sondern durch ein ausgefeiltes System der wechselseitigen Anerkennung von sozialen Rollen und des gegenseitigen Respekts der Aufgaben, Ziele und Zwänge. Übergeordnet ist dabei das Ziel, ein gemeinsames Arbeitsergebnis

herzustellen, das am ehesten noch als Respektierung des moralischen Rechtes der Sicherung des Lebensunterhaltes in einer wirtschaftlichen Notsituation zu beschreiben ist. Erreichbar ist das Ziel nur, wenn Schmuggler und Zöllner zusammenarbeiten. Und in dieser Zusammenarbeit sind die Schmuggler auf die Zöllner und deren Berufstätigkeit existenziell angewiesen. Es ist nämlich weder so, dass die Grenze den Schmuggel ermöglicht, noch dass die Zöllner den Schmuggel verhindern. Vielmehr ermöglicht erst die bestimmte Form der Kontrolle durch die Zöllner den Schmuggel. Gäbe es nur die Grenze und jeder könnte ohne Kontrolle die Waren einführen, dann hätten die Schmuggler keine Einkommensmöglichkeit mehr. Würden umgekehrt die Zöllner alle Schmuggelware beschlagnahmen, so bräche der Schmuggel ebenfalls in sich zusammen. Möglich wird der Schmuggel, weil die Zöllner den Warenfluss regulieren. Nur dadurch, dass sie einen Teil der Waren beschlagnahmen, wird der Schmuggel zum Risiko - aber mit sicherer Gewinnmöglichkeit. Ein Risiko, dem sich aus unterschiedlichen Gründen nur ein Teil der Bevölkerung aussetzt. Daher können sich die Schmuggler professionalisieren und ihre Tätigkeit als Arbeit mit regelmäßigem und planbarem Einkommen ausführen. Spitzen wir die Aussage also zu: In einem spezifischen sozialen Zusammenspiel vollziehen Schmuggler und Zöllner gemeinsam den Schmuggel an der Kaliningrader Grenze. Anders ausgedrückt kann man sagen, dass die Schmuggler auf die Zöllner und deren Tätigkeit existenziell angewiesen sind.

Literaturverzeichnis

Goffmann, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München, Piper.

Haller, Dieter (2000): Gelebte Grenze Gibraltar. Transnationalismus, Lokalität und Identität in kulturanthropologischer

Perspektive, München, Deutscher Universitätsverlag.

1 Der Artikel beruht auf einem von der Volkswagenstiftung finanzierten Forschungsprojekt der Universität

Bielefeld, der Warschauer Hochschule für Sozialpsychologie und der Kaliningrader Immanuel-Kant-Universität.

Die Forschung wurde in den Jahren 2005 bis 2008 durchgeführt und hat den Titel: „Grenze als Ressource:

Kleinhandel in der Armutsökonomie an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordostpolen und dem Bezirk

Kaliningrad". Vgl.: http://www.uni-bielefeld.de/(de)/soz/iw/publikationen/forschungsberichte.html (abgerufen                                                      

am 17.02.2010).

2 Die Schätzungen beruhen auf offiziellen Daten der polnischen Zollbehörde sowie auf eigenen Forschungen.

3 Ausgenommen ist hier der LKW-Verkehr, der sich vermutlich nicht am Schmuggel beteiligt. Die 2005 vom

polnischen Zoll beschlagnahmte Menge von ca. 65 Millionen Zigaretten entspricht nach Schätzungen

noch nicht einmal 2 Prozent der geschmuggelten Menge. Historische Vergleichsforschungen bestätigen

diese Angaben, insoweit als in der Regel weniger als 5 Prozent der Zolldelikte aufgeklärt werden.

4 Der Name wurde anonymisiert.

5 Die Schmuggler bedienen sich eines Systems von Spitznamen, mit denen sie die Zöllner bezeichnen.

Allen Schmugglern sind die Spitznamen geläufig und vielfach kennen auch die Zöllner diese Namen.

Es sind immer Besonderheiten im Verhalten oder im Äußeren, aus denen die Namen entstanden sind:

Ksiądż" (Dt.: Geistlicher), heißt so, da er der Wirklichkeit entrückt seiner Arbeit nachgeht; „rolnik" (Dt.:

Bauer) wird jemand genannt, der vom Dorf kommt; „skarpetka" (Dt.: Socke) nennt man denjenigen, der

früher mit seiner Mutter Socken auf dem Markt verkaufte; während „wielkie łeb" (Dt.: der Große Fänger)

seinem Namen alle Ehre macht, geht „diskoteka" mit schlenkernden Armen an den Fahrzeugen entlang.

 

6 Erstaunlicherweise bieten die Zeiten, in denen EU-Zollbehörden anwesend sind, die günstigsten Bedingungen

für den Schmuggel, da die polnischen Zöllner bemüht sind, Wartezeiten bei der Einreise zu

vermeiden und nur eine oberflächliche Kontrolle vornehmen.