Griechische Tragödie

Über Staatsverschuldung und die Zähmung der Finanzmärkte

Die griechische Tragödie, die derzeit aufgeführt wird, ist keineswegs auf Griechenland oder auch nur auf Europa beschränkt. Sie ist vielmehr ein weltweites Phänomen. Denn jeder Staat ist verschuldet. Hoch verschuldet.

In der aktuellen Inszenierung des Schauspiels spielt selbst der amerikanische Präsident Barack Obama mit. Er hielt schon im Februar d.J. mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem britischen Premierminister Gordon Brown eine Videokonferenz ab, um sich über den Ernst der Lage zu verständigen. Schließlich gefährden die hohen Schulden Griechenlands die Währungsunion und damit die machtpolitische Rolle Europas in der globalisierten Welt, was wiederum auch den US-amerikanischen Partner betrifft. Obama, Merkel und Co. werden mit aller Macht zu verhindern versuchen, dass die Staatskrise am Rande Europas zu einem Menetekel für den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus insgesamt wird.

Einstweilen jedoch muss Hellas als Sündenbock herhalten. Denn eine griechische Tragödie steht in vielen Ländern auf dem Spielplan. Die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrotts Athens war sogar bis zur jüngsten Krise aus Sicht „der Märkte“ vergleichsweise niedrig – weit geringer jedenfalls als für das marode Argentinien oder aufstrebende Hoffnungsträger wie Brasilien und Südafrika. Athens Staatsdefizit war im Jahr 2009 mit 12,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) kaum höher als das Irlands (12,5) oder Spaniens (11,2). Die aufgelaufene Staatsverschuldung von 112,7 Prozent des BIP ist damit laut Bundesbank sogar niedriger als in Italien (114,6). Außerhalb der Eurozone leben ebenfalls viele Staaten in großem Umfange auf Pump: So übertrifft die Defizitquote Großbritanniens mit 12,9 Prozent des BIP sogar noch diejenige Griechenlands, und auch in den Vereinigten Staaten dürfte noch in diesem Jahr das dortige Niveau überschritten werden; zudem ist dort mit Kalifornien der größte Bundesstaat nahezu zahlungsunfähig. Und die höchste Schuldenquote weltweit, mit rund 180 Prozent des BIP, weist ohnehin Japan und damit die zweitgrößte Volkswirtschaft auf.

Die heutigen Schuldenberge wurden über Jahrzehnte angehäuft. Beispiel Deutschland (mit einem Schuldenstand von 73,1 Prozent des BIP): Mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ hatte die Politik in der jungen Bundesrepublik begonnen, zögernd Schulden zu akkumulieren. Drastisch erhöhten sich dann die Defizite in den 70er Jahren. Auch dabei handelte es sich um kein deutsches Phänomen allein, denn in fast allen Industriestaaten stieg seit den 70er Jahren der Schuldenpegel Jahr für Jahr.

Ein wesentlicher Grund hierfür war, dass die Regierungen vermehrt auf eine vage an dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes orientierte Wirtschaftspolitik setzten. Diese setzte auf Staatsverschuldung – zunächst nur in wirtschaftlich schlechten Zeiten, dann selbst in konjunkturell guten. Dabei mag mancher Akteur gehofft haben, die früheren Wachstumsraten aus den 50er und 60er Jahre erneut zu erreichen (im Durchschnitt 8,2 bzw. 4,4 Prozent). Seither nahm jedoch das langfristige durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf deutlich unter zwei Prozent weiter ab. Für weitere Löcher im bundesdeutschen Staatshaushalt sorgte in den 70er Jahren der politisch erkämpfte und im Zuge der „Systemkonkurrenz“ durchgesetzte Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Zugleich begann die DDR, mit der politisch gewünschten „Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik“ über ihre fiskalischen Verhältnisse zu leben. Andere realsozialistische Länder schlugen einen ähnlichen kreditfinanzierten Kurs ein. Der Wohlfahrtsstaat dehnte sich – trotz gelegentlichen Sozialabbaus – auf diese Weise nicht allein in der Bundesrepublik immer weiter aus. Daneben wurde er durch die Massenarbeitslosigkeit, die seit dem Ende des Nachkriegs-„Wirtschaftswunders“ zunahm, immer kostspieliger.

Eine Folge dieser Politik wirkt bis heute: In diesem Jahr wird aus dem 325 Mrd. Euro schweren Bundeshaushalt mehr als die Hälfte des Geldes in Sozialausgaben fließen. Obgleich hier die weite Definition der Bundesregierung für die Sozialausgaben zugrunde liegt, lässt sich der knappe Spielraum staatlicher Gestaltungsmöglichkeiten bereits erahnen. Selbst in den weniger sozialstaatsorientierten USA fließt über die Hälfte der Staatsausgaben in Sozialversicherungen, in die Gesundheitsfürsorge für Arme und Alte und in Eigenheimfinanzierungen. Neben dem beschriebenen Trend zum Schuldenmachen gab es in einigen Ländern noch einen zweiten „nationalen“ Pusch. So war der Schuldenberg in den USA und Großbritannien bereits durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges erheblich angeschwollen. Und in Japan platzte 1990 eine Immobilienblase, in deren Folge die volkswirtschaftlich weitgehend verpuffenden Rettungsaktionen die Staatsverschuldung emporschnellen ließen. Deutschlands Quote dagegen schoss infolge der kreditfinanzierten Kosten der deutschen Vereinigung schwungvoll in die Höhe. Einen dritten, weltweiten Schub in die Staatsverschuldung wird in den kommenden Jahren die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise erzeugen, die im Sommer 2007 als Immobilienkrise begann. Allein die deutschen Schulden werden bereits 2010 schätzungsweise auf 1,8 Billionen Euro klettern und laut Bundesfinanzministerium spätestens 2012 die Marke von 80 Prozent des BIP übersteigen.

Der griechische Sündenbock

Griechenlands Tragödie basiert unter anderem auf einem speziellen „nationalen“ Problem, der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit. Doch auch dies ist kein Einzelfall. Während Großbritannien jahrzehntelang ganz auf Finanzmarktgeschäfte orientierte und seine industrielle Basis erodieren ließ, gehören Frankreich und Deutschland zu den Siegern der Euro-Einführung. Die schiere Größe der beiden Staaten, technologische Innovationskraft, eine engagierte und geradezu klassische Industriepolitik sowie – in Deutschland – die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften machten Chemieprodukte, Maschinen und Autos besser und billiger und damit international immer wettbewerbsfähiger.

Doch wo Sieger sind, gibt es auch Verlierer. Seit Beginn drohte „Euroland“ von inneren Widersprüchen zerrissen zu werden. Bei der Wirtschaftskraft, den Sozialsystemen und Staatsschulden ziehen sich tiefe Risse durch unseren Kontinent. Griechenland, die kulturelle Wiege Europas, ist daher mehr Opfer als Täter, denn nicht allein die wirtschaftsliberalen Eliten zwischen Korfu und Rhodos wollten eine Europäische Union mit Hartwährung – auf Kosten anderer.

Wer nicht wie Spanien von einer EU-finanzierten Sonderkonjunktur profitierte, fiel in den vergangenen Jahren immer weiter gegen die Großen und ihre arbeitsteiligen Annexe (wie etwa die Niederlande) zurück. So war das Zurückbleiben Griechenlands angesichts seiner Randlage und Wirtschaftsstruktur fast unvermeidlich. Eine relativ sinkende Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft brachte dann immer geringere Steuereinnahmen und eine steigende Staatsverschuldung mit sich.

Hinzu kommen allerdings erhebliche hausgemachte Probleme. Diese zeigen, dass die Staatsverschuldung, in ihrer Gesamtheit betrachtet, ein Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, von Klassenkämpfen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ist: Öffentliche Milliarden lösten sich in Olympia-Träumen auf und verrauchten in allsommerlichen „privaten Brandrodungen“, sprich: gewaltigen, durch Brandstiftung erzeugten Waldbränden. Hinzu kamen Korruption und die große Steuerhinterziehung gerade der Selbstständigen. Reiche und Konzerne profitierten wie andernorts in Europa von üppigen Prestigeprojekten, „billigen“ Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern und fiskalischen Laxheiten.

Dass Griechenland zum Sündenbock taugt, dafür hat das Land also auch selbst Sorge getragen. Sowohl die sozialdemokratisch geführte Regierung unter Ministerpräsident Konstantinos Simitis (bis 2004) als auch das konservative Kabinett von Kostas Karamanlis (bis Oktober 2009) meldeten wiederholt frisiertes Zahlenmaterial an das EU-Statistikamt Eurostat in Luxemburg.

„Tricksen, täuschen, tarnen“, schimpfte das deutsche exportorientierte „Handelsblatt“ über die Machenschaften der Statistiker in Athen. Vor fast zehn Jahren, als Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen wurde, brüstete sich die Regierung in Athen beispielsweise mit einem Haushaltsdefizit von nur einem Prozent des BIP – tatsächlich lag es weit über der magischen Drei-Prozent-Marke, die der Maastrichter Euro-Vertrag vorschreibt. Schon damals wurde – auch in der interessierten Öffentlichkeit – vermutet, dass die Zahlen frisiert worden seien. Im Zuge eines Regierungswechsels tauchten dann 2004 erneut Gerüchte über manipulierte Datensätze auf.

Die EU-Statistikbehörde Eurostat hat allerdings spätestens seit jenem Jahr, in dem Ministerpräsident Karamanlis die Manipulationen der Vorgängerregierung publik machte, einen genauen Blick auf Griechenlands Budgetzahlen – oder hätte diesen zumindest haben müssen. Heraus kam der neuerliche Statistikschummel jedoch erst durch einen weiteren Regierungswechsel. Amtsnachfolger Georgios Papandreou, dessen Vater und Großvater bereits Ministerpräsidentenposten für die sozialdemokratische PASOK bekleideten, legte im November 2009 die Karten auf den Tisch.

Griechenlands Regierungen dürften es, gemessen an den üblichen internationalen Gepflogenheiten, alles in allem beim Manipulieren tatsächlich übertrieben haben. Das macht sie zur leichten politischen Beute für die exportorientierten Stabilitätsanhänger in Berlin und Paris. Im Kern jedoch hat das importorientierte Athen nur geschummelt wie andere Länder auch. Wie sonst hätte es die Importe aus den übermächtigen EU-Partnern überhaupt finanzieren sollen? Mit Hilfe von globalen Investmentbanken, darunter auch deutsche, verschob man Schulden (wie in Italien) und bastelte an der Methodik der Statistik herum (wie in Deutschland).

Zinstauschgeschäfte („Swaps“) und andere Finanzderivate gehören heute in jeden Werkzeugkasten der finanzmarktorientierten Staatsfinanzierung. So können Einnahmen auf der Zeitachse nach vorne gezogen oder Schulden nach hinten verschoben werden. Auch der Schuldenverwalter des Bundes, die Finanzagentur GmbH in Frankfurt, setzt Derivate ein. Außerdem gibt es neben den „offiziellen Zahlen“ zur Verschuldung in fast allen Industriestaaten „verdeckte“ Schulden. Dies zeigen die Berenberg Bank und das wirtschaftsliberale Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) eindrucksvoll in ihrer Studie „Staatsverschuldung“. So verschwinden etwa Rentenversprechen an Staatsangestellte in Schattenhaushalten, und so kommen auch die Ausgaben für die Banken-Rettungsaktionen in Zweckgesellschaften außerhalb des Staatshaushalts „abhanden“.

Eine politische Euro-Revolution

All jenes war in Teilen der Fachöffentlichkeit längst bekannt. So dürfte die kreative Buchführung Athens letztlich nur ein nützliches Einfallstor für eine politische Attacke gewesen sein. Denn die eigentliche Auseinandersetzung dreht sich um den Euro.

Dessen rigide wirtschaftsliberale Befürworter wollen das Euro-Modell nur akzeptieren, wenn die Leitwährung mit engen Stabilitätskriterien gefesselt wird. Ausdruck dieser Politik sind die beiden zentralen Maastrichtkriterien, wonach die jährliche Neuverschuldung maximal drei Prozent und der gesamte Schuldenstand höchstens 60 Prozent des BIP betragen dürfen – auch wenn diese Zielmarken der Realität nicht standhalten.

Angesichts der aktuellen Lage in Griechenland und anderswo bedarf es deshalb einer politischen Euro-„Revolution“, das heißt einer alternativen, demokratischen Regulation. Zunächst sei daran erinnert, dass beide Maastricht-Zielmarken willkürlich, also politisch festgelegt wurden. Sie könnten – ökonomisch betrachtet – genauso gut (oder schlecht) bei einem oder bei fünf Prozent bzw. bei 75 oder 250 Prozent liegen. Trotzdem steckt in ihrer Rigidität eine harte, scheinbar unverrückbare Botschaft, die da lautet: Staatsverschuldung ist per se schlecht! Daher müsse die Staatsverschuldung weitestgehend eingedämmt und verhindert werden. Für diese politökonomische Logik muss Griechenland nun seinen Kopf hinhalten, und Krankenpfleger in Athen, „kleine“ Beamte in Sparta und Schüler in Thessaloniki dürften die Zeche zahlen. Mit einem am 3. März d.J. verabschiedeten Sparprogramm will die Regierung in Athen zunächst das Defizit von 12,7 auf 8,7 Prozent in diesem Jahr senken – was immer noch weit ab von der Drei-Prozent-Norm ist, sich aber massiv krisenverschärfend auswirken dürfte.

Grund zur Gelassenheit

Dabei besteht eigentlich durchaus Grund zur Gelassenheit. Überbordende Schulden sind ein Phänomen, mit dem sich Staaten schon lange herumschlagen. Die Selbstbedienungsmentalität des Adels und der bürgerlichen politischen Klasse, (verlorene) Kriege der Könige oder ehrgeizige Prestigeprojekte haben so manchen Staat schon in vor- und frühkapitalistischer Zeit finanziell nahezu ruiniert. Aber letztendlich eben nur „nahezu“. Aus Erfahrung plädierte darum der englische Historiker und Politiker Thomas Macaulay (1800-1859) für Gelassenheit im Umgang mit derlei Staatskrisen: „Noch zu jeder Zeit hat das Wachstum der Staatsschuld die Nation in dasselbe Geschrei von Furcht und Verzweiflung ausbrechen lassen, und noch jedes Mal haben kluge Leute dazu vorhergesagt, dass Bankrott und Ruin vor der Tür stünden. Die Staatsschuld wuchs weiter, und Bankrott und Ruin blieben wie immer aus.“

Trotz aller Gelassenheit sollte man die oben beschriebene, über Jahrzehnte gewachsene weltweite Staatsverschuldung indes nicht verharmlosen. Ihre Folgen wiegen schwer: Länder mit einem hohen Defizit müssen hohe Zinsen zahlen, und das gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich. So müssen Griechenlands Wirtschaft und Staat zumindest zeitweise bis zu fünf Prozentpunkte höhere Zinsen für einen Kredit aufbringen als deutsche Schuldner. Für einen Fünf-Milliarden-Kredit müsste Griechenland durch diesen „Spread“ 750 Mio. Euro mehr Zinsen zahlen als Deutschland. Auch Versicherungen verlangen teurere Prämien für die im Handel üblichen Absicherungen von Krediten, Währungskursen und Zahlungsausfällen. Hedgefonds und andere Spekulanten erhöhen das allgemeine Risikoniveau – was wiederum einen zusätzlichen Kostenfaktor für die sogenannte Realwirtschaft darstellt. Gemeint sind damit unter anderem spekulative Angriffe auf Staatsanleihen wie sie Griechenland und Portugal, aber auch dem Nicht-Euroland Großbritannien in jüngster Zeit widerfuhren. Eine hohe Staatsverschuldung bringt zudem möglicherweise eine Abstufung bei den vier privaten Ratingagenturen mit sich, die den Weltmarkt für Bewertungen beherrschen – was wiederum, wie im Falle Griechenlands, die Kosten für Kredite und die Ausgabe von Wertpapieren für die Betroffenen verteuert.

Das bedeutet, dass ausgerechnet diejenigen von der griechischen Krise profitieren, die sie wesentlich zu verantworten haben, nämlich die Großbanken. Denn für sie ist das Geschäft mit Schuldentiteln höchst lukrativ – während die Spekulation mit griechischen Staatsschulden die Refinanzierungsmöglichkeiten des Landes drastisch erschweren.

Noch schwerer als der ökonomische Nachteil wiegt, dass der Entscheidungsspielraum für die Politik und damit für demokratische Veränderung immer kleiner wird. Und dies auch in der Bundesrepublik: So fließen mittlerweile von 100 Euro Steuereinnahmen des Bundes 15 Euro als Zinsen ab – womit dann aber noch kein Cent an Schulden getilgt ist. Ähnlich ergeht es den Bundesländern. Jede neue Regierung dürfte so nur noch über höchstens ein Zehntel ihres Haushaltes „frei“ verfügen können. Alle anderen Ausgabenposten, Schuldentilgungen und Zinsen sind langfristig festgelegt und gebunden.

Außerdem schlummert in der Staatsverschuldung ein Mechanismus für die weitere Umverteilung von unten nach oben. Denn Staatsschulden werden über Wertpapiere finanziert. Hauptnutznießer der Zinszahlungen für die Wertpapiere wiederum sind einkommensstarke Bevölkerungsgruppen. Wer dagegen wenig sparen kann, wird kaum Wertpapiere besitzen. Über direkte und indirekte (Verbrauch-)Steuern muss er aber trotzdem die Defizite des Staates mitfinanzieren.

Der Staat soll sich verschulden

Und dennoch: Macaulay hat auch heutzutage Recht. Schließlich ist Sparsamkeit keine Tugend an sich, kein grundlegendes Ziel jeglicher Staatskunst. Im Gegenteil: Der Staat soll sich verschulden! Was zunächst wie eine linke Spinnerei klingen mag, ergibt sich – je nach Vorliebe – aus dem „Kapital“ von Karl Marx oder aus der „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ wahlweise des General Secretariat of the National Statistical Service of Greece oder des Statistischen Bundesamtes.

Vor allem im ökonomisch wie kulturell stabilitätsfixierten Deutschland ist der Diskurs über Ökonomie und Politik gewöhnlich besonders hausväterlich ausgerichtet – wie Angela Merkels Wort von der „schwäbischen Hausfrau“, die wisse, dass man auf Dauer nicht über die eigenen Verhältnisse leben (also Schulden machen) könne, illustriert. Schulden sind danach Teufelswerk und gefährden „kommende Generationen“. Dabei illustriert gerade die aktuelle Banken- und Wirtschaftskrise die ökonomische Binsenweisheit, dass eine Volkswirtschaft eben keinen privaten Haushalt darstellt.

Andernorts ist man stattdessen schon im normalen Alltag nicht pingelig. Während im Euro-Raum der willkürlich festgesetzte Wert von 60 Prozent des BIP als Goldener Schnitt gilt, leistet sich Japan einen drei Mal so hohen Schuldenstand. Trotzdem hat die Regierung Yukio Hatoyamas in Tokio Ende Februar d.J. beschlossen, zusätzliche Kredite für Konjunkturprogramme aufzunehmen und den Schuldenberg weiter aufzustocken.

Schweden und Großbritannien puschten in den 90er Jahren erfolgreich ihre Wirtschaft mit rasant wachsenden Staatsschulden. Wo „Maastricht“ im Euroland eine Neuverschuldung von höchstens drei Prozent erlaubt, legte London schon mal acht Prozent drauf, und Stockholm schreckte vor zwölf Prozent nicht zurück. Griechische Verhältnisse? Auch auf die aktuelle Krise reagierten einige Ländern weit radikaler als die Regierungen Merkel, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

Nun sind die Schulden anderer Länder kein durchschlagendes Argument. Aber der Blick über den nationalen Gartenzaun zeigt: Der real existierende Kapitalismus kennt viele Varianten, schuldenfinanziertes Wachstum eingeschlossen. Kürzlich erhielt diese Variante – die außerhalb der Bundesrepublik nicht allein in linken Fachkreisen Anhänger hat – Verstärkung ausgerechnet aus dem bis dato überaus wirtschaftsliberalen Internationalen Währungsfonds (IWF). Dessen Chefvolkswirt Olivier Blanchard verwirft in seinem Papier „Rethinking Macroeconomic Policy“ das wirtschaftsliberale Dogma vom „freien Markt“ und will die „Wirtschaftspolitik noch einmal neu denken“. Im Ergebnis hofft Blanchard auf eine „große Moderation“ durch den Staat. Die große, systemimmanente Moderation dürfte zwar einer linken, systemkritischen „Regulation“ nicht in vollem Umfang entsprechen. Doch hier bietet sich über politische Gräben hinweg eine Kooperationsmöglichkeit an, die genutzt werden sollte, um den Kapitalismus zu zähmen und – frei nach Gramsci – hegemonial ein Stück zurückzukämpfen.

Gratwanderung zwischen zweckmäßiger Verschuldung und langfristiger Überschuldung

Stellen wir uns daher der Einfachheit halber unsere Volkswirtschaft als ein geschlossenes „Modell Deutschland“ mit drei Akteuren vor: Bürger, Unternehmen und Staat. Die Einnahmen und Ausgaben der drei sollten sich gegenseitig ausgleichen. Wo Gewinn oder Erspartes übrig bleibt, müsste ein anderer Akteur sich dieses Geld leihen, um damit Konsum oder Investitionen zu finanzieren. Dann liefe es in unserem simplifizierten Modell rund.

Die Realität sieht anders aus. Die Bundesbürger sparen durchschnittlich rund zehn Prozent ihres Einkommens. 2008 waren das nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehr als 180 Mrd. Euro. Dieses Geld fehlt im realen Wirtschaftssystem des „Modells Deutschland“ als Nachfrage. Sparen ist daher keineswegs immer tugendsam.

Dieses „überflüssige“ Geld könnte sich theoretisch die Wirtschaft leihen und im „Modell Deutschland“ investieren. Das tut sie aber nicht, weil sie selbst Geld im Überfluss als Gewinn „produziert“. Die Wirtschaft verbraucht nämlich nicht ihren gesamten Profit für Konsum und neue Investitionen. 2008 sparte sie so über 80 Mrd. Euro und damit weiteres Geld, das der realen Volkswirtschaft als Nachfrage fehlt.

Zusammen legten investitionsschwache Unternehmen und wohlhabende Bürger also in einem Jahr rund 260 Mrd. Euro auf die hohe Kante – Geldkapital, das dem „Modell Deutschland“ faktisch entzogen wird und nutzlos für dessen Realwirtschaft in Finanzanlagen verschwindet. Das von Wirtschaft und Privaten Angesparte hinterlässt auf diese Weise ein tiefes Nachfrageloch in unserer Volkswirtschaft. Die Folgen sind aufgeblähte Finanzmärkte, Auslandsinvestitionen sowie Massenarbeitslosigkeit. Kurzum: Die Volkswirtschaft läuft nicht rund.

Dass dieses ersparte Nachfrageloch nicht nur in einem Jahr entsteht, sondern „Übersparen“ ein grundsätzliches Problem darstellt, belegt ein Blick in die historischen Reihen der „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ oder ins „Kapital“: Marx zeigt dort recht anschaulich, wie das Kapital einen Mehrwert produzieren lässt, den weder die Arbeiter und Angestellten erhalten, noch der Kapitalist vollständig verbraucht.

Um diesen 260 Mrd. Euro großen Mehrwert-Kuchen, der dem „Modell Deutschland“ zu entgehen droht, richtig zu vernaschen, muss der Staat sich den Kuchen schnappen, um ihn wieder in das realwirtschaftliche Leben einzuspeisen. In kleinen Stücken tut er dies bereits, doch 2008 waren es keine 12 Mrd. Euro an Krediten. Es blieb also ein Nachfrageloch von 248 Mrd. Euro übrig. Selbst in den Jahren extrem hoher Neuverschuldung von 2002 bis 2005 blieb der Großteil des Kuchens ungenutzt von der Realwirtschaft auf dem Finanzmarkt liegen.

Übrigens bewirken Kapital und Reiche mit ihren beschriebenen „Finanzierungsüberschüssen“, wie sie der Sachverständigenrat nennt, nicht allein im „Modell Deutschland“, sondern auch im „Modell Weltwirtschaft“ ein tragisches Ungleichgewicht. War noch um 1980 die weltweite Realwirtschaft der Finanzwirtschaft quantitativ etwa mit 2:1 überlegen, so ist sie heute mit 1:3 deutlich unterlegen.

Eine Null-Defizit-Politik des Staates wäre daher keineswegs die beste aller Lösungen. Stattdessen sollte sich die Politik auf die schwierige Gratwanderung begeben zwischen der wirtschaftlich zweckmäßigen jährlichen Verschuldung und der langfristigen Überschuldung durch den exponentiellen Zinseszinseffekt. Das heißt konkret, die Messlatte für eine akzeptable Staatsverschuldung bilden nicht die willkürlichen Maastricht-Kriterien, sondern die Zinslasten. Sie schränken den politischen Spielraum des demokratischen Staates entscheidend ein. Defizite im zweistelligen Prozentbereich des BIP sind auf Dauer kaum zu verkraften und können weitere Spekulationsphasen auf den internationalen Finanzmärkten nach sich ziehen. Die Zinszahlungen auf rund zehn Prozent der Staatseinnahmen runterzufahren, wäre allerdings ein ehrgeiziges Ziel. Um den Zins- und Zinseszinseffekt in den Griff zu kriegen, muss daher jede Neuverschuldung ernsthaft hinterfragt werden. Die Palette von möglichen Sparmaßnahmen reicht von der steuerlichen Subventionierung von Pferderennen über den Krieg in Afghanistan bis zu den Rügen der Rechnungshöfe von Prestigeprojekten, wie die zwei Stationen lange U-Bahn zum Reichstagsgebäude in Berlin oder die „Elbphilharmonie“ in Hamburg.

Vor allem aber könnten die Einnahmen gravierend erhöht werden. Dazu könnte eine aktive Wirtschaftspolitik beitragen, wie sie die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik („Memorandumsgruppe“) um den kürzlich verstorbenen „Blätter“-Herausgeber Jörg Huffschmid und Rudolf Hickel vorschlägt – einem Prozent Wachstum entsprechen in Deutschland fünf Mrd. Euro höhere Steuereinnahmen. So könnte wenigstens ein Teil des volkswirtschaftlich „Übersparten“ abgeschöpft und realwirtschaftlich wirksam gemacht werden und zugleich die Zinslast gedrückt werden.

Die Einnahmen erhöhen könnten beispielsweise auch eine Sonderabgabe für die vom Staat geretteten Banken, die personelle Aufstockung der Steuer- und Finanzfahndung, die energische Verfolgung des milliardenschweren Zigarettenschmuggels und der Schwarzarbeitsfirmen. Nützlich wäre ein Steuerabkommen mit der Schweiz und anderen Finanzoasen, damit zukünftig Finanzströme schon bei dem Verdacht auf Steuerhinterziehung transparent gemacht werden können. Über eine Tobin-Steuer auf grenzüberschreitende Finanztransaktionen wäre ebenso nachzudenken wie über eine angemessene EU-weite Vermögensteuer und ein Ende des Steuerdumpings zwischen den Mitgliedsländern der Union. Dieser Katalog ist gewiss nicht vollständig. Er mag manchem „nur“ links-konventionell erscheinen, lohnte aber ganz undogmatisch den Praxistest. Sich daran orientierende Steuerschätzungen, wie die der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, kommen schon bei wenigen fiskalischen Maßnahmen auf ein Einnahmeplus im dreistelligen Milliardenbereich – und dies allein für die Bundesrepublik.

Neue Einnahmen statt neuer Kredite

Alternativen sind durchaus praktikabel. So gelang den Vereinigten Staaten in der Clinton-Ära dank Hochkonjunktur und gewaltiger Haushaltsüberschüsse eine deutliche Reduzierung der Verschuldung, bevor George W. Bush mit seinen Kriegen und Steuergeschenken zur Defizitfinanzierung zurückkehrte.

Auch in Deutschland wäre eine Wende möglich. In der jüngeren Vergangenheit haben Rot-Grün sowie die große Koalition durch Steuergeschenke an Unternehmen und Reiche auf Milliarden verzichtet. Diesen Trend gilt es umzukehren. Griechenland und die USA könnten auf diesem Wege ihre Einnahmen ebenfalls fließend erhöhen. Steuern und Sozialabgaben liegen in allen drei Staaten weit unter dem Durchschnitt der OECD. Allerdings sollte man sich vor simplen Lösungen hüten: Die meisten der Länder mit höherer Fiskalabschöpfung sind trotzdem hoch verschuldet.

Dabei wird es in Zukunft nicht egal sein, ob der Staat sich „den Kuchen“ auf Pump oder durch (Steuer-)Einnahmen zurückholt. Wenn der Staat ständig das Nachfrageloch zu reparieren versucht, welches die kapitalistische Ökonomie produziert, ist es zwar bedeutend, aber letztlich doch zweitrangig, woher das Geld kommt. Ein Land, das über eine Notenbank, eine Währung und eine Fiskalpolitik verfügt, wird seine Schulden notfalls immer bedienen können. Das gilt selbstverständlich entsprechend für Euroland und damit für Griechenland – vorausgesetzt, die EU bringt die vom griechischen Ministerpräsidenten Papandreou bei seinem Besuch bei Frau Merkel im März d.J. angemahnte „Solidarität“ auf. Das heißt: keine direkten Geldgeschenke, aber politische Beruhigungspillen für die Finanzmärkte, das eindeutige Bekenntnis zu Griechenland als Euroland und notfalls die Bereitschaft, über öffentliche Banken griechische Anleihen zu übernehmen. Reicht das wider Erwarten nicht aus, bliebe der Worst-Case-Fall: Hellas verlässt den Euro-Verbund und baut auf die eigene Notenbank, die eigene Währung und die eigene Fiskalpolitik – kurzum, schmeißt die Notenpresse an. Dazu werden es Obama, Merkel und Papandreou nicht kommen lassen.

Absolut erstrangig ist es dagegen, wohin das Geld fließt. Fließt es in totes Kapital, wie die neuen deutschen Marathon-Kriegsschiffe „F125“, oder fließt das gesellschaftlich Übersparte in nachhaltige Infrastrukturprojekte wie Kindergärten und Häfen sowie in einen staatlichen Beschäftigungssektor mit erheblichem Multiplikatoreffekt für die Volkswirtschaft? Wird die Staatsschuld konsumtiv wirksam und schafft unmittelbar Nachfrage, wie bei der Sozialhilfe, oder führt sie zu weiteren Spareffekten wie bei der privatisierten Altersvorsorge?

Es bleibt also zunächst dabei: Jeder Staat ist verschuldet. Hoch verschuldet. Doch die zentrale politische Zukunftsfrage ist trotz der Zinsgefahr nicht, ob und in welchem Umfang ein Staat verschuldet ist, sondern für was und für wen das von der Wirtschaft und der Bevölkerung Übersparte vom Staat eingesetzt wird.

Nicht zuletzt diese Frage wird auch über den Ausgang der griechischen Tragödie entscheiden – und das nicht allein in Griechenland.

(aus: »Blätter« 4/2010, Seite 79-88)