Der "normale" Missbrauch

Es ist wieder still geworden um die Gewalttätigkeiten gegen Kinder in den österreichischen und deutschen Kirchen. Zeit, um grundsätzliche Fragen zu diskutieren. Der Verein Selbstlaut im Interview.

Seit 1991 ist der unabhängige Verein Selbstlaut in der Präventionsarbeit gegen sexuelle Gewalt bei Kindern und Erwachsenen aktiv. Im Gespräch mit Maria Pohn-Weidinger erläutert Selbstlaut-Trainerin Stefanie Vasold die Verbindungen zwischen sexuellen und anderen Gewaltformen gegen Kinder und erklärt, warum die Missbrauchsdebatte der Kirche erneut von den Ursachen ablenkt.


an.schläge: Wie erlebt ihr die aktuelle Diskussion über sexuelle Gewalt in der Kirche in den Medien?

Stefanie Vasold: Dass das Thema diesen Umfang in den Medien bekommen hat, ist positiv, da man bei sexueller Gewalt immer mit Tabuisierung und fehlender Berichterstattung zu tun hat. Betroffene werden ermutigt sich zu melden, und die kirchlichen Strukturen geraten ins Blickfeld: Es wird diskutiert, inwieweit autoritäre Erziehungsstrukturen sexuelle Gewalt begünstigen und deren Aufdecken erschweren oder verhindern.
Schwierig ist hingegen, dass Zölibat und Homosexualität als Ursache diskutiert werden, denn weder das eine noch das andere hat etwas mit sexueller Gewalt zu tun. Es geht in erster Linie um Machtmissbrauch, und der Motor ist nicht die sexuelle Befriedigung. Der Zölibat trägt zwar dazu bei, dass das Thema Sexualität tabuisiert wird – aber dieser Fokus verschiebt die Debatte in eine Richtung, die erneut verschleiert.

Welche Differenzierungen wären hier wichtig?

So zu tun, als würde sexuelle Gewalt nur in kirchlichen Institutionen stattfinden, ist eine Verengung, denn sie findet großteils im sozialen Nahraum und in den Familien statt, die aber nur zum Teil als geschlossene Systeme analog zu kirchlichen Strukturen thematisiert werden.
Wir würden uns wünschen, dass anhand der kirchlichen Debatte gesehen wird, welche Strukturen sexuelle Gewalt begünstigen. Dass die Ursache in den hierarchischen, autoritären und tabuisierenden Strukturen liegt und nicht in der Verfehlung Einzelner oder in deren sexueller Orientierung.
Sehr unglücklich sind wir über den Begriff "Pädophilie", weil der Begriff an sich sexueller Gewaltausübung widerspricht. Der größte Teil der TäterInnen ist "normal". Es gibt ein bestimmtes Erklärungsmuster in Bezug auf sexuelle Gewalt, je nach Blickwinkel passiert sie immer "woanders". Wenn man doch im eigenen Umfeld damit konfrontiert wird, wird es zu einem Problem von Einzelnen und nicht etwa der Gesellschaft.

Auf der Homepage der Ombudsstelle der Katholischen Kirche Österreichs steht in einer Erklärung von Kardinal Schönborn, dass MissbrauchstäterInnen oft psychisch gestört seien, aufgrund ihrer persönlichen Entwicklung Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hätten und daher zur Befriedigung ihrer Sexualität auf Schwächere ausweichen. Ist das ein Rückschritt im öffentlichen Diskurs?

Diese Verknüpfung mit dem Ausleben des Sexuellen tut der Sache nichts Gutes, denn übrig bleibt, dass Männer, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Sexualität auszuleben, gezwungen sind, auf Kinder auszuweichen. Sexualität wird als etwas Triebhaftes und nur bedingt Steuerbares dargestellt. Natürlich gibt es hier auch psychische Störungen, aber die Gefahr solcher Aussagen ist, dass man so tut, als sei es ausschließlich eine psychische Krankheit und man könne sich nicht entscheiden, was man macht. Missbrauchstäter erzählen häufig, dass sie selbst missbraucht worden sind, oft steht die Geschichte der Täter mehr im Zentrum als die Tat selbst. Hinzu kommt, dass Frauen permanent in der Schusslinie sind: entweder als Ehefrauen, die es nicht bemerkt oder verhindert haben und bis zur Mittäterinnenschaft angeklagt werden, oder als Mütter, die die armen Söhne so schlecht behandelt haben.
Man weiß aus der Arbeit mit Tätern, dass sie selbst zugeben, das als Entschuldigung zu sagen. Außerdem ist die Gruppe derer, die selbst missbraucht worden ist, nicht größer als in der restlichen Bevölkerung. Letztlich entscheiden Menschen, wie sie mit ihren Erfahrungen umgehen, ob sie selber zu TäterInnen werden oder nicht.

In der erwähnten Erklärung kommt auch der Begriff der "Schwächeren" als Positionsbeschreibung für Kinder vor. Beschäftigt ihr euch mit der Rolle der Kinder in der Gesellschaft?

Das gehört zu unserem Verständnis von Prävention: Wir machen in erster Linie Projekte, die auf professionelle ArbeiterInnen mit Kindern abzielen, also LehrerInnen, KindergärtnerInnen, auch Eltern. Es reicht nicht, Kinder nur das Nein-Sagen zu lehren. Im schlechtesten Fall erzeugt man damit nur noch mehr Schuldgefühle, wenn sie sich nicht wehren oder wehren können. Um sexuelle Gewalt wirksam zu verhindern, braucht es ein wachsames Erwachsenenumfeld, ein in den Blick Nehmen der gesamtgesellschaftlichen Struktur, das Erkennen der Verschränkungen von Diskriminierungen und die Erkenntnis, dass sexuelle Gewalt mit anderen Angriffsflächen verknüpft ist, die Kinder erleben. Wenn Kinder nichts zu sagen haben und lernen zu tun, was man ihnen sagt – wie sollen sie in der Gewaltsituation erkennen, dass es plötzlich nicht mehr in Ordnung ist zu machen, was der Erwachsene sagt?
Eine Gesellschaft, in der Kindern per se nicht geglaubt wird, ist keine günstige Voraussetzung, sich anzuvertrauen und Hilfe zu organisieren. Wirksame Prävention muss letztlich gesellschaftsverändernd sein, viele Formen von Gewalt benennen und auch andere Diskriminierungsformen in den Blick nehmen – das kommt in der Debatte aber nur wenig vor.

Besteht bei der Thematisierung anderer Gewaltformen nicht die Gefahr, dass die Abgrenzung zwischen sexueller und anderer Gewalt schwammig wird und die unterschiedlichen Mechanismen nicht mehr differenziert werden?

Tatsächlich werden bei sexueller Gewalt andere Mechanismen wirksam, die es gilt, im Blick zu behalten. Zum Beispiel besteht im Gegensatz zu physischer Gewalt eine ganz andere Geheimhaltungsdynamik. Sexuelle Gewalt passiert auch nicht einfach, sondern ist immer geplant, während physische Gewalt häufig als Affektreaktion aus einer Überforderung resultiert. Kinder wissen hier sehr genau, dass dies ein Übergriff ist, der nicht o.k. ist, und können ihn eher einordnen. Bei sexueller Gewalt kommt es hingegen zu einer Verwirrung der Gefühle, sodass es Kindern schwer fällt einzuschätzen, was in Ordnung ist und was nicht. Es ist ihnen auch peinlich, denn Sexualität ist nicht thematisierbar, sie ist eine unbekannte Angriffsfläche. All das macht die Intervention schwieriger und eine Differenzierung notwendig.
Im kirchlichen Kontext kommt hinzu, dass, wenn Kinder an Gottes Gerechtigkeit glauben und dann die Stellvertreter Gottes den Missbrauch begehen, der Macht- und Vertrauensmissbrauch doppelt schlimm ist. Väter sind auch große Figuren, aber wenn Gott persönlich ins Spiel kommt, dann verdoppelt sich das, was an Gefühlsverwirrung bei Kindern entsteht. Wenn ich glaube, dass Gott gut ist, dann ist überhaupt nichts mehr zu verstehen. Diese strukturelle Dimension schwingt auf der Familienebene im Bild der heiligen Familie ähnlich mit, aber in der Kirche gibt es aufgrund der Glaubensfrage noch einmal eine spezielle Dynamik.

Die Gewaltvorfälle werden medial oft sehr voyeuristisch dargestellt. Lässt sich sexuelle Gewalt überhaupt in den Medien vermitteln?

Es ist schwierig, da Bilder sehr viel an Vorstellungen produzieren, und diese wirkungsstarken Bilder stehen per se in Widerspruch zu einer differenzierten Sichtweise. Gerade bei sexueller Gewalt sieht man immer wieder, dass es so etwas wie eine Täterfaszination gibt. Man beschäftigt sich mit diesem Menschen als spannende Herausforderung – die Verantwortlichkeit und das Benennen der gewaltvollen Handlungen gerät aus dem Blick und weicht einer Faszination des Bösen.

Werden die exzessiv beschriebenen Geschichten von Betroffenen nicht auch zu Idealgeschichten und wirken dadurch nochmals tabuisierend, weil andere Betroffene den Eindruck erhalten, dass sie nicht derart Gewaltvolles erlebt haben und ihr Erlebnis deshalb "nicht so schlimm" ist?

Ja, das stimmt. Je schlimmer die Geschichten sind, desto schwieriger wird es für betroffene Kinder einzuordnen, was ihnen passiert ist. Denn je mehr der Täter ein "Monster" außerhalb der Gesellschaft ist, desto weniger kann es der eigene Vater sein oder desto weniger findet sich in diesem Bild der "normale" Missbrauch. Kinder erfahren sexuelle Gewalt häufig durch einen Menschen, der ihnen viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, der vermeintlich emotional nahe ist. Im eigenen Erleben hat das wenig mit einem Monster zu tun. Es war ein Fortschritt im Diskurs der letzten zwanzig Jahre, den Fokus vom "unbekannten Täter" wegzubringen und die Familie ins Blickfeld zu nehmen.
Die Debatte um die Kirche hätte viel Potenzial, das auch zu tun, indem man gewaltfördernde Strukturen thematisiert, die jedoch keine spezielle Eigenschaft der Kirche sind, sondern sich quer durch alle Gesellschaftsbereiche ziehen: Autoritäre gewaltvolle Übergriffe gibt es überall.


Stefanie Vasold ist Sozialwissenschaftlerin in Ausbildung und Trainerin bei Selbstlaut.

Maria Pohn-Weidinger ist Soziologin und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zu biografischen Bearbeitungsstrukturen von sogenannten „Trümmerfrauen“.

Selbstlaut – gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Vorbeugung – Beratung – Verdachtsbegleitung, Berggasse 32/4, 1090 Wien, T. 01/810 90 31, office@selbstlaut.org
www.selbstlaut.org

Literatur:
Handlung, Spiel & Räume. Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen zum präventiven Handeln gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit neuen Präventionsmaterialien. Erstellt vom Verein Selbstlaut im Auftrag des BMUKK, Wien 2007

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at