Bewegungsfotograf, Anarchist, Genosse und Freund

Christoph Joemann (geboren am 15. Februar 1964 - gestorben am 14. Mai 2010 in Haltern am See) - ein Nachruf

Lebenslauf

Ich war kein Stein, keine Wolke
keine Glocke und keine Laute
geschlagen von einem Engel oder von einem Teufel
Ich war von Anfang an nichts als ein Mensch
und ich will auch nicht etwas anderes sein

Als Mensch bin ich aufgewachsen
und habe Unrecht erlitten
und manchmal Unrecht getan
und manchmal Gutes
Als Mensch empöre ich mich
gegen Unrecht und freue mich
über jeden Schimmer von Hoffnung

Als Mensch bin ich wach und müde
und arbeite und habe Sorgen
und Hunger nach Verstehen
und nach Verstandenwerden
Als Mensch habe ich Freude an meinen Freunden
...
und will mit Menschen sein und manchmal allein sein

und bedauere jede Nacht ohne Liebe

Als Mensch bin ich krank und alt
und werde sterben
und werde kein Stein sein
keine Wolke und keine Glocke

sondern Erde oder Asche
und darauf kommt es nicht an

Erich Fried

 

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Chris­toph Joemann kennen gelernt habe. Es war 1996. In Bielefeld fanden zum zweiten Mal nach 1994 die Schwarzen Tage statt. Hier gab es zahlreiche interessante Vorträge, Veranstaltungen, das anarchistische Kabarettensemble Der Blarze Schwock, ein tolles Programm, gute Stimmung, Anarchie! Nach meinem A-Vortrag wurde mir Christoph von seinem Bruder, den ich schon länger kenne, vorgestellt.

Christoph war sehr angetan von den libertären Ideen, die (nicht nur) während der durch und durch gelungenen Schwarzen Tage durch die Räume des AJZ und des Universums wehten. 

Fortan besuchte Christoph mich häufig in Münster. An jedem Mittwoch im Semester machte die libertäre Bankrott-Infoladengruppe Veranstaltungen in der Münsteraner Baracke. Oft nahm auch Christoph teil.

Zudem besuchte er meine Lehrveranstaltungen am Institut für Soziologie (IfS) der Uni Münster. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er mich gefragt hat, ob ich etwas dagegen habe, wenn er als Nicht-Student an meinen Hauptseminaren (zu Anarchismus, Sozialen Bewegungen, Terror, Krieg und Medien,...) teilnimmt. Das hatte ich natürlich nicht. Ganz im Gegenteil! Ich fühlte mich geehrt. Christoph fuhr die 48 Kilometer (!) von Haltern nach Münster meist mit dem Fahrrad.

Seine große Leidenschaft war die Fotografie. Er wurde zum Bewegungsfotografen.1  Immer, wenn irgendwo eine Demo, Veranstaltung oder Aktion stattfand, war Christoph mit seiner Kamera zur Stelle. Immer wieder hat er CD-Roms voll mit großartigen Bildern ins Graswurzelrevolution-Redak­tionsbüro gebracht. Viele seiner Fotos erschienen in der GWR und später auch in der anarchosyndikalistischen Direkten Aktion (DA). Auch das Titelfoto von „ja! Anarchismus - Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert" (Karin Kramer Verlag, Berlin 2006) hat Christoph geschossen.

Er hatte ein gutes Auge und war ein ausgesprochen liebenswerter, bescheidener und hilfsbereiter Mensch. Die Gegenseitige Hilfe war für ihn keine Phrase, sondern allgegenwärtiger Teil seines Lebens.

Auch an Zivilcourage hat es ihm nicht gemangelt. Als 2006 die Nazitruppe von Axel Reitz mit 170 „autonomen Nationalisten" einen bundesweiten Aufmarsch in Münster machen wollte, aber nach 200 Metern von Tausenden Antifas durch eine Sitzblockade gestoppt wurde, mischte sich Christoph als Pressefotograf unter die Neonazis und machte Fotos von ihnen.

Christoph trat 2005 in die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) Münsterland ein und beteiligte sich mit großem Einsatz an den Aktionen und Veranstaltungen dieser anarchosyndikalistischen Gruppe.

In einem bewegenden Nachruf der FAU Münsterland heißt es unter anderem: „Als ‚freier' Mitarbeiter des WAZ-Konzerns hatte er mit der zunehmenden Prekarisierung seines Berufes zu kämpfen. Den Lebensunterhalt zu verdienen, wurde immer schwerer: Statt seine Bilder gegen Honorar verschiedenen Zeitungen zur Verfügung stellen zu können, wurde er nun tageweise ‚gebucht', und alle dabei entstandenen Bilder wurden zum Eigentum des WAZ-Konzerns. Mit dem pauschalen Tageshonorar, der Schließung kleinerer Lokalredaktionen und den immer längeren Fahrtwegen zu den Fototerminen erhöhte sich der Arbeitsdruck immens. Christoph hat im ver­gangenen Jahr begonnen, seine KollegInnen im Ruhrgebiet zu vernetzen. Nach schleppendem Beginn entwickelte eine breiter gestreute Einladung ‚voll die Sprengkraft', wie er in einer Mail mitteilte: über 15 KollegInnen kamen zum Treffen. Doch die zunehmende Arbeitsbelastung führte dazu, dass wir Christoph nun seltener sahen, weil er bis in die Nacht arbeiten musste." (DA Nr. 200, Juli/August 2010)

Christoph litt sehr unter dem von ihm nur widerwillig unterschriebenen Vertrag.

Als ich ihn Anfang 2010 im Interkulturellen Zentrum Don Quijote traf, beklagte er die miesen Zustände, unter denen er für die WAZ arbeiten musste, und dass er aufgrund des „Knebelver­trags" praktisch keine Fotos mehr für GWR und DA machen könne. 

Die Arbeitsbedingungen hatten sicher auch Auswirkungen auf seinen Gemütszustand. Seit seiner nach eigenen Angaben „nicht guten Kindheit" litt er immer wieder unter starken Depressionen und psychotischen Schüben.

Kurz nachdem ihn eine psychiatrische Klinik nach mehr als zehn Wochen als Patient entlassen hatte, ließ sich unser Freund und Genosse Christoph von einem Zug das Leben nehmen. Er starb am 14. Mai 2010.

„In unsere Trauer mischt sich Wut - Wut auf Verhältnisse, die das Leben nicht mehr lebenswert machen", so die FAU.

Bernd Drücke

Anmerkung: 1 Einige Bildergalerien von Christoph finden sich z.B. hier:

http://projekte.free.de/bankrott/bilder/gala-fuer-zoe/

www.fau.org/ortsgruppen/dortmund/bilder/

www.fau.org/ortsgruppen/muenster/static/bilder/2009-03-28-Frankfurt/

www.fau.org/ortsgruppen/dortmund/bilder/static/2006-01-14-demo/

www.fau.org/ortsgruppen/dortmund/bilder/static/2005-12-17-demo/

www.fau.org/ortsgruppen/dortmund/bilder/static/2005-11-25-kundgebung/

www.fau.org/ortsgruppen/muenster/static/bilder/2005-01-03-muenster/

 

Nachruf aus: Graswurzelrevolution Nr. 351, September 2010, www.graswurzel.net