Wiederaneignung öffentlicher Räume in »postdemokratischen« Zeiten

Lehren aus Stuttgart 21

»Wir müssen also auch über den Staat hinaus! Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.«

G.W.F. Hegel, Bahnhof im

Stutengarten 1796/97

»Wutbürger« – eine journalistische Wortschöpfung aus der Berichterstattung über den Bürgerprotest gegen S21 – kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010. Gegenüber früheren Begriffen (»Abwrackprämie«, »Fanmeile« u.ä.) trägt der »Wutbürger« zeitdiagnostisches Potenzial in sich: die seit Jahren auch für Deutschland – angefangen bei rot-grüner Basta- und Kommissionenpolitik bis zu schwarz-gelber Ideenlosigkeit und Pragmatismus – konstatierte »Krise der politischen Repräsentanz« und Enteignung der BürgerInnen in ihrem Citoyenstatus. Dagegen regte sich nun in letzter Zeit zunehmend Unbehagen, Unmut, Wut und Protest. Nimmt man noch das bis dato nicht gekürte Unwort des Jahres »politische Klasse« hinzu, lässt sich der zeitdiagnostische Gehalt in seiner Ambivalenz und Widersprüchlichkeit präziser fassen. Denn damit ist als Pendant zu einem Gemeinwesen von »Wutbürger­Innen« die Verselbständigung des zunehmend lobbyistisch-professionalisierten politischen Feldes benannt. Die Spannung beider Seiten kann sich allerdings in verschiedene Richtungen entladen: progressiv emanzipatorisch als »Demokratisierung der Demokratie«, autoritär rechtspopulistisch als charismatische Krisenlösung oder »kleinbürgerlich« als latent krisenhaftes »weiter so« einer bundesrepublikanischen Vorurteilsgesellschaft mit dünner bürgergesellschaftlicher Firnis.1

Hinter dem Wort des Jahres 2010 »Wutbürger« steht also der Sache nach das Problem einer »Transformation der Demokratie«. Schon einmal standen sich in dieser Frage in der Nachkriegsgeschichte des bundesdeutschen Kapitalismus unterschiedliche Zeitdiagnosen gegenüber. Die eine entstammt einer »Bibel der APO«, die diesen Topos der »Transformation der Demokratie« im Titel führte und damals auf die Analyse und Kritik von CDU-Staat und »formierter Gesellschaft« zielte: »Es entwickelt sich ein neuartiger, durch die Zusammenarbeit der Parteiführungsstäbe untereinander bedingter Herrschaftsmechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierend ein Konkurrenzverhältnis eingehen. Es versteht sich: hier ist die Rede von Parteien verschiedener Richtung, aber gleichen Typus: von Ordnungsparteien, die – spinozistisch gesprochen – sich in dem Modus, nicht in der Substanz einer konservativen Politik unterscheiden.« (Johannes Agnoli 1968) Dagegen stand bei Jürgen Habermas bezogen auf das Demokratisierungspotenzial einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft immer wieder eine eher optimistische Lesart eines »Strukturwandels der Öffentlichkeit«, dem nach wie vor erweiterte politische Partizipationsmöglichkeiten und damit auch mögliche weitergehende Emanzipationsprozesse abzugewinnen seien.

Über 40 Jahre später, unter finanzmarktkapitalistischen Bedingungen, sind wir wieder mit zum Teil neuartigen Transformationsprozessen der Demokratie konfrontiert. Und mit sich formierendem sozialen Protest dagegen – auf zivilgesellschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen Ebenen, und fokussiert auf verschiedene soziale Felder, von Hartz IV, Leiharbeit, Rente mit 67, Gorleben, AKW-Laufzeiten bis Stutt­gart 21. Gerade die schon länger existierende Protestbewegung gegen Stutt­gart 21 erlangte im Herbst 2010 insofern eine spezifische Qualität, als hier ein Kampf um Öffentlichkeit in mehrfacher Hinsicht sichtbare Gestalt erhielt. Durch die Breite des sozialstrukturellen und lebensweltlichen Spektrums der Akteure des Protestes, durch den urbanen und städtebaulichen Raums selber, durch die Schlichtung und ihre mediale Verbreitung wurden auch Vertreter der »politischen Klasse« aus ihren Vorzimmern in einen offenen Raum geholt – und schließlich nahm der Diskurs selber öffentliche Gestalt an. Was lässt sich an dieser in den Schlichtungsrunden gebündelten sozialen Konstellation bezogen auf den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Demokratisierungspotenzial ablesen?

 

Schlichterspruch: »Wir bauen S 21 plus«

Eine Öffentlichkeit hat die Schlichtung zu dem umstrittenen Bahnprojekt in Stuttgart mit seinen städtebaulichen Folgewirkungen auf alle Fälle gebracht: Alle Welt weiß jetzt, was sich hinter dem bislang nur Kennern verständlichen Kürzel S 21 verbirgt: ein durch und durch widersprüchliches Großprojekt mit hybridem Modernisierungsanspruch, einem schiefen und behindertenunfreundlichen unterirdischen Durchgangsbahnhof mit oberirdischen »Glubschaugen« (Heiner Geißler) und künstlichem »Park«-Dach, mit umstrittenen geologischen, ökologischen und sozialen Gefährdungen und ebenso umstrittenen städtebaulich-ästhetischen Auswirkungen, und schließlich mit einer bislang immer noch ungeklärten erhöhten verkehrlichen Leistungsfähigkeit.

Auch K 21, die Beibehaltung eines modernisierten Kopfbahnhofes, ist durch die Schlichtung jetzt einer breiten Öffentlichkeit als auch umstrittenes, aber ebenso realistisches und in moderner Modularbeit schrittweise ausbaufähiges und vor allem kostengünstigeres Alternativprojekt bekannt, wenn auch nicht in der Breite und Ausführlichkeit wie S 21, da es ja erst zeitversetzt im Planfeststellungsverfahren zu S 21 in die Diskussion eingebracht werden konnte.

Was verbirgt sich nun hinter Heiner Geißlers Schlichterspruch: »Wir bauen S 21 plus«? Im Wesentlichen sechs Nachbesserungen: 1. Schutz der Schlossgartenbäume, 2. Erhalt der Gäubahn, 3. Verbesserung der Sicherheit im Bahnhof selber, 4. Erhöhung des Brandschutzes auch in den Tunnels, 5. Erweiterung des Tiefbahnhofes um ein neuntes und zehntes Gleis, 6. zweigleisiger Ausbau der Verbindungstrasse »Wendlinger Kurve« und der Flughafenanbindung an die Neubaustrecke nach Ulm.

Darüber hinaus war Stuttgart 21 nie nur ein reines Bahnprojekt. Ein Ursprungsmotiv von S 21 war die finanzmarktkapitalistische Mobilisierung des dabei frei werdenden Gleisvorfeldes als städtebauliche Immobilienflächen. Dies wurde während der Schlichtung in die Öffentlichkeit gebracht und fand auch seinen Niederschlag in den empfohlenen Nachbesserungen. Hier ist der Schlichterspruch durchaus weitreichend, indem er beide Parteien auf eine gemeinsame Stiftungsträgerschaft verpflichtet, über die dieses Baugelände der Immobilienspekulation entzogen und unter ökologische, soziale, familienfreundliche und städtebauliche Planauflagen gestellt werden soll.

Dennoch steht dieser Punkt in der öffentlichen Diskussion nicht an vorderster Stelle. Auf alle Fälle sollten die Kritiker von S 21 aber diese städtebauliche Empfehlung als Mobilisierungschance in ihrem gegenhegemonialen Protest berücksichtigen, immer in der Öffentlichkeit wachhalten und versuchen, gegenüber der Gegenseite, die schon den Geschäftsführer der Hafencity Hamburg GmbH, Jürgen Bruns-Berentelg, für sich eingespannt hat, mit konstruktiv-rechtlichen Vorschlägen der Ausgestaltung und demokratischen Kontrolle dieses städtebaulichen Wohn- und Parkanlagenprojekts in die Vorhand zu kommen.

Von all diesen Nachbesserungsempfehlungen bleibt schon am Tag nach dem Schlichterspruch in der medialen Berichterstattung bezeichnenderweise nur noch eine haften, die in der weitergehenden öffentlichen Diskussion eine Rolle spielt: der »Stresstest« für einen 30%-igen Leistungszuwachs eines nachgebesserten Bahnhofs S 21.2

Dieser noch ausstehende »Stresstest«, seine Ergebnisauswirkung auf mögliche Kostensteigerungen, der Zeitpunkt seiner Durchführung und das Verfahren seiner öffentlichen (Gegen)Prüfung bietet jetzt den Stoff für erneute Auseinandersetzungen von S 21-Befürwortern und -Kritikern darüber, wie es politisch weitergehen wird und soll. Dabei tritt konsequenterweise das wieder ein, was vor der Schlichtung auch schon der Fall war: Es wird berechtigte öffentliche Proteste geben, es wird Unklarheiten über das Verfahren geben – vor oder nach der anstehenden baden-württembergischen Landtagswahl. Und es werden vor allem wieder Teil- und Halböffentlichkeiten entstehen, in denen dann Mutmaßungen über den Stresstest und die Schweizer Gutachterfirma kursieren, wie sie zum Beispiel Frau Gönner jetzt schon in Interviews wieder bedient: »Das Schweizer Unternehmen, das den Stresstest durchführen soll, hat bereits gesagt, sie sehen nicht das neunte und zehnte Gleis als notwendig an.« Woher weiß die CDU-Verkehrsministerin das jetzt schon?

Genau eine solch unseriöse und intransparente Kommunikation von Großprojekten führte doch zu jener jetzt allseits gewertschätzten Faktenschlichtung, von der Geißler in seinem Schlichterspruch selbst sagt: »Das Interessante in den Augen der Beteiligten und der Zuschauer war, daß die gesamten Argumente beider Seiten offengelegt und Zusammenhänge dargestellt wurden ... Statt der Vorstellung von Teilaspekten durch mediale Statements, konnte die Herleitung von Argumenten dargestellt werden, die ›Storylines‹, wie Volker Kefer einmal sagte: d.h. die technische Gesamterzählung und der innere Zusammenhang des Vorhabens – und das vor einem Millionenpublikum.« (Schlichterspruch)

Aber diese Maßgabe, Teilaspekte in der Auseinandersetzung um S 21 dem Zwang zu einer Gesamtargumentation des »inneren Zusammenhangs des Vorhabens« zu unterwerfen, will Geißler für die Teilnachbesserungen von S 21 – und nichts anderes beinhaltet sein Schlichterspruch S 21 plus – nicht mehr gelten lassen. Und so antwortet der ehemalige Schlichter am Morgen danach im Gespräch mit Heribert Prantl bei Brezel, Kaffee und Süßstoff auf die Frage, ob bei dem Stresstest herauskommen kann, den Bahnhof nicht zu bauen, ganz ohne »Storylines« und fast im Gehabe einer Tanja Gönner: »Nein. Dieser Test soll nur feststellen, ob und welche Verbesserungen notwendig sind, um auf die von der Bahn versprochene Zahl von Zügen zu kommen.« (SZ, 2.12.2010) Das grenzt an »Basta-Politik«.3

Damit fällt der zentrale Teil des Schlichterspruchs hinter das argumentative Niveau der Schlichtung zurück. Das kündigte sich aber schon beim Zustandekommen des Schlichterspruchs selbst an, denn im Grunde fiel der Schlichter Geißler schon beim Übergang von Schlichtung zum Schlichterspruch in das alte Modell von Geheimdiplomatie zurück: Weder machte er seine eigenen »Storylines«, also die »Herleitung von Argumenten« zur Begründung seines Schlichterspruchs öffentlich und damit transparent, noch den Argumentationszusammenhang bei der Auslotung von Übereinstimmung und Zugeständnissen der jeweiligen Konfliktparteien.

Der eigentliche Höhepunkt der Schlichtung fand damit wie üblich »hinter verschlossenen Türen« statt. Dies wird Mappus, Grube und Co. – also einer Allianz aus DB, (Bau)Industrie und Teilen der politischen Klasse – ganz recht gewesen sein, kommt es doch ihrem gewohnten Politikstil entgegen. Die Vertreter des Protestbündnisses müssen sich dies allerdings gerade vor dem Hintergrund der gelaufenen Schlichtung sowie bei ihrer Angewiesenheit auf politische Kommunikation »nach draußen« als strategischen Fehler anrechnen. Sie hätten die Pflicht gehabt und haben sie immer noch, die Argumente und Sachzwänge wiederum öffentlich zu machen, die letztlich zu dem und keinem anderen Schlichterspruch geführt haben.4

Das holte jetzt nach Ende des Verfahrens der Schlichter Geißler selber in aller Offenheit nach. Hieß es noch in den Präliminarien seines Schlichterspruchs etwas verklausuliert: »Das Verfahren war als Fachschlichtung gedacht, wobei offen blieb, ob diese in eine Ergebnis­schlichtung verbunden mit einem Votum des Schlichters münden sollte. Es war klar, daß daraus keine rechtliche Bindung entstehen konnte...«, so spricht er jetzt über den eigentlichen Gegenstand des Schlichtungsverfahrens Klartext: »Bei kontradiktorischen Gegensätzen kann man nicht schlichten.« (SZ, 2.12.2010)

In der Tat beinhaltete schon die Ausgangskonstellation der Schlichtung ein strukturelles »Machtgefälle«: Die Projektbefürworter von S 21 waren von vorneherein in der Vorhand und in den Worten des Analytikers der »feinen Unterschiede« und der »Mechanismen der Macht«, Pierre Bourdieu, mit mehr rechtlich-legitimiertem, expertisengeprüftem und natürlich ökonomischem Kapital ausgestattet, das sie zwar vorübergehend einem öffentlichen Begründungszwang unterwerfen und der Kritik von Laienexperten mit dem symbolischen Kapital hoher sozialer Legitimation aussetzen mussten, aber immer mit rechtlich abgesicherten Planfeststellungsbeschlüssen und schon abgeschlossenen Verträgen im Rücken. So war die Faktenschlichtung politisch gesehen kein »herrschaftsfreier Diskurs« und konnte auch keiner sein. Aber hätte die Schlichtung durch den Schlichter Geißler in einen »herrschaftsfreien Diskurs« im Habermasschen Sinne transformiert werden können, wo nur »zwanglose« Argumente zählen?

 

 

»Postdemokratische« Parodie auf den herrschaftsfreien Diskurs

Mit dem kategorischen Imperativ Kants – »Aufklärung ist Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« – qualifizierte Heiner Geißler schon zu Beginn die Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 als »demokratischen Prototyp«, der auch einen Paradigmenwechsel im bisherigen Mischungsverhältnis von verwaltungstechnisch und lobbypolitisch geprägten Planfeststellungsverfahren und Bürgerbeteiligung einleiten sollte. Damit war neben den Erwartungen auf evtl. inhaltliche Annäherung oder gar Kompromissbildungen in der Sache auch eine demokratiepolitische Messlatte aufgelegt, an der sich Geißlers Schlichterspruch nun selbst messen lassen muss.

Nach acht Runden mit rekordverdächtigen Einschaltquoten öffentlich übertragener so genannter Fakten­schlichtung war klar: Einen Kompromiss konnte es nicht geben. Zu gegensätzlich sind auch die Gesamtkonzeptionen von infrastruktureller und städtebaulicher Modernisierung und insbesondere das (Selbst)Verständnis auf Seiten der Befürworter und Kritiker, was Modernität, Wachstum, lebenswerte städtebauliche Umwelt und Bürgerbeteiligung in Zeiten eines industriellen Kapitalismus mit Finanz-, Wirtschafts-, Klima- und Demokratiekrise bedeutet.

Letzteres wäre die politische Seite mit allen ihren rechtlichen Konsequenzen bestehender Willensbildung gewesen, also die das ganze Gemeinwesen (die »Polis«) – die BürgerInnen Stuttgarts, Baden-Württembergs und Deutschlands – betreffende Seite der zur Diskussion stehenden und abzuarbeitenden Agenda. Diese Dimension versuchte der Schlichter Geißler aber von Anfang an mit dem fragwürdigen Verdikt außen vor zu halten, erst gar keine politisch-weltanschaulichen oder demokratie- und rechtspolitischen Diskussionen aufkommen zu lassen, was er dann in seinem Schlichterspruch – es durfte und sollte »daraus keine rechtliche Bindung entstehen« – erstmals öffentlich nachträglich rechtfertigte.

Aber S 21 lässt sich eben nicht in bautechnische, geologische, verkehrsplanerische, kostenmäßige und ästhetische Frage- und Faktenabklärungsrunden separieren und dann in einer Schlussrunde bilanzieren, in der – bezeichnenderweise dann ohne Diskussion – bloße Statements mit jeweils unterschiedlicher Gesamtbewertung unverbindlich ausgetauscht wurden. Genau solche »medialen Statements« (siehe oben) wurden aber im Schlichterspruch als nicht-diskursiv und -argumentativ abgelehnt.

Bezogen auf dieses Spannungsverhältnis von Einzelfakten und Gesamtbewertung im Hinblick auf die Belange der »Polis« im bisherigen Rahmen von Planfeststellungsverfahren markieren die Bürgerproteste und das Schlichtungsverfahren um S 21 der Sache nach eine Soll-Bruch-Stelle, über die sich im Verlauf der Schlichtung ein politisch lagerübergreifender Konsens herausgebildet hat: Großprojekte bedürfen – in Zukunft – anderer Formen von BürgerInnenbeteiligung. Geißler regt dazu in seinem Schlussplädoyer eine Neufassung von §3 (Beteiligung der Öffentlichkeit) des Baugesetzbuches an und empfiehlt in Anlehnung an die Schweiz die Aufnahme plebiszitärer Beteiligungs- und Entscheidungsformen der BürgerInnen in allen Stadien der Zielfindung und Planung bis zur Realisierung solcher städtebaulicher Infrastruktur- und Großprojekte. Die allseitige konsensuelle Zustimmung dazu läuft aber Gefahr, die eigentlich brisanten politischen Implikationen dabei zu überspielen.

Eine Erweiterung und Öffnung demokratischer BügerInnenbeteiligung setzt nämlich voraus, dass insbesondere beim bisherigen Planfeststellungsverfahren dessen Gegenstand auch explizit als ein politischer, alle Facetten eines Gemeinwesens tangierender Sachverhalt gesetzlich und verfahrensrechtlich anerkannt wird, der nicht allein in verwaltungsrechtlicher und -technischer Engführung bei abgestuften Formen von Anhörung und Beteiligung der Öffentlichkeit abgearbeitet werden kann, sondern über dessen Ausgestaltung die BürgerInnen selbst in Alternativen demokratisch entscheiden können. Der in Aussicht gestellte Paradigmenwechsel bestehender Beteiligungsverfahren hätte der Sache nach also eine Grenzüberschreitung verwaltungsrechtlicher Bindungen und (Neu)Eröffnung demokratischer Entscheidungsverfahren bedeuten und nach sich ziehen müssen.

Zu diesem politisch innovativen Schritt konnte sich Geißler in den Empfehlungen seines Schlichterspruchs nicht durchringen, da er die politisch-rechtliche Seite von S 21 nicht selbst zum Gegenstand des Schlichtungsdiskurses machte. Und bezeichnenderweise wurde er in derjenigen Schlichtungsrunde, in der es um den vergleichenden verkehrlichen Faktencheck zwischen S 21 und K 21 ging, von den Projektbefürwortern süffisant darauf hingewiesen, dass die Abwägung dieser Alternativen mit dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 6.4.2006 eigentlich schon längst »sachkundig und auf Basis von Gutachtern« – natürlich der Bahn – entschieden sei.

Dass Geißler dieses Urteil nicht kannte, illustriert, dass er sich der Begrenztheit seines intendierten Paradigmenwechsels in Sachen Demokratie im Spannungsfeld zwischen Schlichtungsdiskurs und verwaltungsrechtlich sanktioniertem Planfeststellungsbeschluss nicht wirklich bewusst war: Gegen das im verwaltungsrechtlichen Verfahren legitimierte Projekt S 21, die »Faktizität«, können in einem wenn auch neuartigen Diskursverfahren nur begrenzt neue »Geltungen« (Habermas) geschaffen werden.

Zu Grenzüberschreitungen des Bestehenden bedarf es mehr als Diskurse, es bedarf im ersten Schritt eines dezidierten politischen Willens. Zumindest dessen Bekundung – als Empfehlung in seinem Schlichterspruch – hätte Geißler ganz im Sinne seines Paradigmenwechsels möglich sein müssen. Und einem solchen Paradigmenwechsel steht das Recht, auch das Planfeststellungsrecht, nicht prinzipiell entgegen. Auch wenn es sich in seiner zum Teil selbstreferentiellen Verselbständigung gegen rechtspolitisches Hinterfragen abzuschotten versucht, ist das, »was unter bestimmten historischen Bedingungen als Recht gesprochen wird, nicht durch das Rechtssystem selbst vorgegeben, sondern Ergebnis eines ins Recht eingeschriebenen ›Weltanschauung‹«,5 deren erneute rechtspolitische Hinterfragung bezogen auf eine mögliche Volksbefragung oder Volksabstimmung zuzulassen Geißler nicht wagte.

Aber nur wer wagt, gewinnt.6 Das Recht hat »immer einen Kampf erfordert, um sich durchzusetzen, und ist in Wirklichkeit Kampf für die Schaffung einer neuen Gewohnheit« (Antonio Gramsci, Gefängnisheft 6, §98: Die Gewohnheiten und die Gesetze). Und eine solche neue Gewohnheit für BürgerInnenbeteiligung bei Planungsverfahren hatte sich Geißler mit seinem »Prototyp plebiszitärer Demokratie« doch auf sein Schlichter-Panier geschrieben. Er hätte sich also ganz gramscianisch für den »erzieherischen, kreativen, bildenden Charakter des Rechts« (ebd.) stark machen können.

Mit Kantischem Imperativ und etwas »politischer Phantasie und Ungehorsam« hätte man also der repräsentativen Demokratie mit ihren teilweise passivierenden und repressiv-toleranten postdemokratischen Strukturen durchaus konstruktiv »in die Parade fahren« (Schlichterspruch) können: Wenn die Vorhabensträger von S 21 die gegenüber den Zeiten des zurückliegenden Planfeststellungsverfahrens erhöhte Bürgernähe und -beteiligung als Ergebnis der Schlichtungsgespräche selbst begrüßen, hätte man sie auch auf eine neue Legitimierung durch Volksbefragung oder einen Volksentscheid verpflichten können.

Die dann fälligen (Ausstiegs-)Kosten aus vertraglichen Bindungen und verwaltungsrechtlichen Rückabwicklungen hätte man als eine sinnvolle Investition in die Wiederbelebung passiver demokratischer Strukturen legitimieren können – was sagte doch Geißler zu den erforderlichen Mehrkosten seiner Schlichterempfehlung zur Nachbesserung von S 21: der Finanzmarktkapitalismus hat »Geld wie Heu« (Geißlers Erläuterung zu seinem Schlichterspruch). In der Tat: Was sind 1,6 Mrd. Ausstiegskosten zur Stärkung der Demokratie gegenüber dem Mehrfachen zur Rettung von LBBW, anderen (Landes)Banken und privaten Vermögenstiteln?

 

Wie weiter beim »Oben bleiben!«?

Bezeichnenderweise sind die Elitenvertreter nach dem Schlichterspruch in alte Handlungsmuster zurückgefallen und versuchen, die insbesondere durch die Auflagen des Stresstestes neu aufgeworfenen Fragen einer transparenten Öffentlichkeit zu entziehen: Dass bei einer Nachbesserung von S 21 ein zusätzliches neuntes und zehntes Gleis auf unterirdische örtliche Schwierigkeiten stoßen wird – im Norden stören die Fundamente der Landesbank, im Süden das unter die Erde reichende geplante Technikgebäude –, wird nicht öffentlich erörtert; geologische Gutachten der Bahn sind auch für den Bundestags-Verkehrs­ausschuss nach wie vor nicht einzusehen; und nach Allgemeinem Eisenbahngesetz müsste die DB Netz AG als Eigentümerin der Infrastruktur ihre Stilllegungsabsicht bekannt machen und die freiwerdenden Anlagen zur Abgabe öffentlich ausschreiben, auch die Konsequenzen hieraus bleiben rechtlich ungeklärt.

Aber die charakteristischste Probe auf durch den Finanzmarkt geprägte »postdemokratische« Gepflogenheiten lieferte zwischenzeitlich der Ministerpräsident höchtspersönlich ab. Anlässlich des »hälingen« getätigten Rückkaufs der Landesanteile am heimischen Energieversorger EnBW, was zunächst allgemein als ein Schritt in Richtung Re-Kommunalisierung interpretiert und begrüßt wurde, dann aber wegen des Verfahrens auf Kritik stieß, äußerte Mappus im pluralis majestatis: »Wir haben gehandelt, bevor Unsicherheiten und Spekulationen geblüht hätten. Die Forderung, eine solche Transaktion öffentlich auszuschreiben, ist arg naiv. Natürlich haben wir diskret verhandeln müssen und diskret verhandelt. Ein vorzeitiges Bekanntwerden hätte gravierende Auswirkungen gehabt, zum Beispiel an der Börse...« (FAZ, 15.12.2010) Mappus rechtfertigt das Ausschalten von Parlament und Öffentlichkeit mit den Sachzwängen des Finanzmarktes und der Systemrelevanz von Infrastruktur und lässt es sich dann nicht nehmen, auch die Systemrelevanz von S 21 einmal mehr mit den hybriden Worten »Wachstum braucht Wege« (ebd.) zu rechtfertigen. In beiden Fällen wird die demokratisch-öffentliche Auseinandersetzung um das »Was, Wie und Wozu« dieser Vorhaben amputiert, bleibt auf der Strecke und wird eine bornierte Vorstellung von Wachstum und gesellschaftlicher Modernisierung allgemein gesetzt.

Aber wie im Zentrum gesellschaftlicher Reproduktion die finanzmarktkapitalistische Deformierung von Arbeitsverhältnissen (Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen) eine wirtschaftsdemokratische Re-Artikulation des »Was, Wie und Wozu« der Produktion von Seiten der abhängig Beschäftigten erfordert, bleibt auch die Wiederaneignung kupierter Öffentlichkeit, städtischer Räume und infrastruktureller Mitbestimmung auf der Tagesordnung. Gelingt es der Protestbewegung gegen S 21, den Kampf um städtischen Raum und gesetzliche wie verfahrenstechnische Anerkennung erweiterter demokratischer Bürgerentscheide als Soll-Bruchstelle einer emanzipatorisch gewendeten »Transformation der Demokratie« wachzuhalten, Zusammenhänge mit der Qualität und dem »Was, Wie und Wozu« öffentlicher Infrastruktur insgesamt herzustellen und diese Lernprozesse (vgl. den Beitrag von Jürgen Stamm in diesem Heft) an andere sozial-emanzipatorische Akteure weiterzugeben, wäre dies auch für betriebliche Kampffelder ein konstruktiver Beitrag, die Trennung von Produzent und Bürger tendenziell aufzuheben und damit das »kapitalistische Ganze« bei einer weitergehenden »Demokratisierung der Demokratie« ins Blickfeld zu rücken.

 

 

1 Für diesen gegenwärtigen Zustand liefert die neueste Langzeitstudie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sozialer Abwertung und Ressentiments erschreckende Ergebnisse, vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010.

2 Dies ist kein Zufall, stellt dies doch nach jetzigem Stand des weiteren Verfahrens für beide Seiten den letzten Kasus knaxus dar und bietet doch nur diese Nachbesserungsempfehlung ein Zeitfenster, in dem über Protest und Kritik das Verfahren erneut geöffnet und die Alternative K 21 wieder ins Spiel gebracht werden kann. Alle anderen Nachbesserungsauflagen im Schlichterspruch bieten diese Chance nicht. So beinhaltet beispielsweise die Forderung: »Im Bahnhof selber wird die Verkehrssicherheit entscheidend verbessert. Im Interesse von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren und kranken Menschen müssen die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfeststellung verbreitert, die Fluchtwege sind barrierefrei zu machen« (Schlichterspruch), die aberwitzige Paradoxie, dass der Bahnhof S 21, der bei den unterirdisch-örtlichen Gegebenheiten nur mit einem Gefälle von 6m Höhenunterschied, also abschüssig und schief und damit notwendigerweise von vornherein nur behindertenunfreundlich gebaut werden kann, nicht durch wie auch immer geartete Auflagen eines S 21 plus behindertengerecht werden kann, sondern nur dadurch, dass man ihn ebenerdig baut, also oben lässt. Aber diese Argumentation leuchtete dem Schlichter Geißler wohl schon beim Faktencheck nicht ein. In der öffentlichen Diskussion spielt diese »nachgebesserte Fehlplanung« schon wieder keine Rolle mehr. Umso mehr sollte man die Befürworter von S 21 beim Wort nehmen und in der Öffentlichkeit dann auf der korrekteren Bezeichnung vom »schiefen Stuttgart 21« bestehen – gemäß einer nicht zu vernachlässigenden »Politik der Nadelstiche« (Gramsci) im gegenhegemonialen Stellungskrieg.

3 Geißler billigt also diesem »Stresstest« nicht den Status einer weiteren Schlichtungsrunde zu, was er der Sache nach aber wäre, und lehnt daher auch die Verlängerung der »Friedenspflicht« mit Bau- und Vergabestopp auf Seiten der DB bis zur Klärung dieses Stresstests ab.

4 Diese Aufgabe der öffentlichen Interpretation und Deutung nach Abschluss einer jeden Schlichtungsrunde gegenüber der eigenen Anhängerschaft hatte auch zuvor schon bestanden, wurde aber nicht konsequent gehandhabt.

5 Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano, Hegemonie im globalen Recht – Zur Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie, in: dies. (Hrsg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007, S. 94.

6 Hierfür hätte sich Geißler gegen seine rechtspolitischen Bedenken vom Schriftzug eines berühmten Sohnes der Schwabenmetropole an ihrem noch bestehenden Kopfbahnhof inspirieren lassen können: »...dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist...« (G.W.F. Hegel). Aber er hielt es in diesem Fall lieber mit dem späteren Versöhnler mit dem preußischen Verwaltungsstaat als mit dem frühen Staatskritiker. Geißler: »Wir können die Austragung des Konfliktes harmonisieren und humanisieren.« (SZ, 2.12.2010) Wahrscheinlich erklärt dies auch mit die überwiegend positive Aufnahme des Schlichterspruchs in der Bevölkerung, nach der Devise – Hauptsache wir haben mal miteinander geredet: »Nun muss der Geist aber wieder in die Flasche, das heißt, die Diskussion muss wieder zurück in die Parlamente und weg von der Straße.« (FAZ, 2.12.2010)