Die Politische Ökonomie des Sarrazynismus

Vom Kampf gegen migrantische Unterklassen

in (25.02.2011)

Die Sarrazin-Debatte ist zugleich ein groteskes Abbild des geistigen Zustandes der Bundesrepublik wie ein Lehrstück über die öffentlich-medialen Mechanismen, mit denen der Rassismus als Ordnungsinstrument für eine ökonomisch günstige Zuwanderungs- und Integrationspolitik nutzbar gemacht wird.

In jeder auserwählten Stadt der Republik überfüllte Säle und Besucherschlangen, um dem durch das Land tourenden Erfolgsschriftsteller zu huldigen; kein Blatt mehr, das sich dem neuen Sarrazynismus verweigert; von der FAZ bis zur taz, von der Rentnerin bis zum Vorzeige-Intellektuellen sind sich alle einig: Der alimentierte Staatsdiener und Banker Thilo Sarrazin ist zum rebellischen Volkshelden mutiert. Die via Bild und Spiegel vorab verbreiteten kulturrassistischen Kampfansagen Sarrazins wurden öffentlich zu Offenbarungen gleich dem Anschlag der Luther’schen Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hochstilisiert. Unter dem Gewand der Meinungsfreiheit gedeiht ein Rassismus, der kulturalistisch und religiös aufgeladen wird: „Man mag es einen Kulturbruch oder auch anders nennen: Wenn die beschriebenen Trends sich fortsetzen, dann wird die säkulare und aus unserer Sicht kulturell vorzuziehende Lebensform Europas letztlich unterlaufen durch die höhere Fertilität der muslimischen Migranten“. Dieses Zitat aus der Feder eines „der profiliertesten politischen Köpfe der Republik“, wie es im Klappentext von „Deutschland schafft sich ab“ heißt, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der hierzulande heiß geführten Integrationsdebatte.
Der Skandal, dass im Jahr 2010 in Deutschland ein Sachbuch zum Bestseller wurde, dessen Autor für eugenische Züchtungs- und Selektionstheorien wirbt, um gesellschaftliche Prozesse zu steuern, wurde im Laufe der Debatte überlagert von einem wesentlich größeren Problem – der medialen und politischen Vermarktung solcher Thesen. Als wirklich fatal offenbarte sich nicht nur der Sarrazin’sche Rassismus, sondern auch sein kulturindustrieller Resonanzkörper. Der öffentliche Widerhall bezog sich nicht auf Sarrazins eugenische Zuchtphantasien, sondern auf die in der Bild-Zeitung und anderen Medien in verdauliche Häppchen verpackten Hau-Ruck-Parolen über die angeblich Faulen, Dummen, Schwachen, Fremden und Verschleierten und ihre angebliche Bevorzugung durch „die da oben“. Das ehemalige Bundesbankvorstandsmitglied spielte dabei die Rolle des medialen Durchlauferhitzers, der die angestaute Angst und Wut über politische Fehlentwicklungen mit rassistischen Phrasen in eine reaktionäre Richtung kanalisierte.
Zum Kristallisationspunkt der Anfeindungen ist dabei das späte und mit erheblichen Mühen ins öffentliche Bewusstsein transportierte Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft geworden. Sarrazins Kampfansage – kulturalistisch verpackt – speist sich zwar inhaltlich aus der ideologischen Mottenkiste der extremen Rechten, erscheint jedoch im Gewand der Meinungsfreiheit und der „Enttabuisierung“. Das rassistische Ressentiment, verkleidet als Kritik am Establishment, mutiert damit zum Vehikel allgemeiner Wut auf die politischen Eliten. Auf diese Weise sind die laut Sarrazin „zuviel produzierten kleinen Kopftuchmädchen“ zum Symbol einer Enttabuisierung angeblich verordneter Sprechverbote geworden. Was vorher noch im öffentlichen Sprachgebrauch als faschistoid, als „Lingua Tertii Imperii“ galt, wurde im Laufe der Sarrazin-Debatte unter dem Slogan „Recht auf Meinungsfreiheit“ medial vermarktet.

Die populistische Lücke


Ein Ausdruck des politisch wie medial gepushten Kulturkampfes ist das Aufkommen des europäischen Rechtspopulismus. Dessen Anziehungskraft speist sich aus der Bündelung unterschiedlicher Feindbilder und Bedrohungsszenarien: Die bürokratische EU, der Terrorismus und der Islam, die Zuwanderung, das Verschwinden von Sicherheiten und Orientierungsmaßstäben – all dies wird populistisch in ein Feindbild von Globalisierung, Entfremdung und Unsicherheit gepresst, gegen das sich der Kampf des Volkes und seiner aufrechten Tribunen richtet. Die kulturalistische und religiöse Prägung der Feindbilder ist charakteristisch für den Tenor des rechtspopulistischen Aufschreis in Europa: Das Schreckgespenst vom kulturellen und demografischen „Untergang des Abendlandes“ ist sein Inhalt. Der Untergang drohe wegen der „kulturfremden Zugewanderten“ und werde sogar eigenmächtig betrieben durch die „politische Klasse“, willige Vollstrecker, die mit ih-ren „Multi-Kulti-“, „Toleranz“- und „political correctness“-Verordnungen die „nationale Identität“ zerstörten. Die Volksabstimmungen in der Schweiz gegen den Bau von Minaretten und zur „Ausschaffung krimineller Ausländer“ zeigen die Wirkungsmächtigkeit des sich basisdemokratisch gebenden Rechtspopulismus.
Als Star des antiislamischen europäischen Rechtspopulismus wird gegenwärtig Geert Wilders herumgereicht, der mit seinem plumpen Hetzfilm „Fitna“ exemplarisch vorexerziert hat, wie das Spiel mit den Medien erfolgreich betrieben werden kann. Der Kopf der Partei für die Freiheit hat die Früchte geerntet, die in den Niederlanden – lange schon vor der Sarrazin-Debatte in Deutschland – von Pim Fortuyn gesät wurden. Der kampagnenorientierte Kulturrassismus zielt auf die politische Mitte. Er benutzt mehrheitsfähige rassistische Diskurse, um die politische Achse nach rechts zu verschieben. Auf diesen Zug versucht auch in Deutschland die extreme Rechte aufzuspringen; nationalkonservative Organisationen wie die neu gegründete Partei Die Freiheit suchen sich als neuer rechtspopulistischer Block im bundesdeutschen Parteienwesen zu etablieren. Doch die entscheidenden politischen Grenzverschiebungen vollziehen sich hierzulande aktuell nicht an den politischen Rändern, sondern im Zentrum der Gesellschaft, nicht in randständigen Vereinigungen, sondern in mächtigen Organisationen: in den sogenannten Volksparteien, in den Leitmedien, im bürgerlichen Establishment.

Kulturrassismus als Ordnungsfaktor

Die größte Gefahr hierzulande liegt aktuell darin, dass die Integrationsdebatte zur Kulturkampfdebatte mit weit reichenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird. Denn das neue Feindbild „Muslime“ bündelt nicht nur Ängste und Ressentiments, es sortiert auch die Integrations- und Zuwanderungsdebatte neu: Sarrazin, der skandalträchtig in Szene gesetzte Beelzebub, setzt die Muslime mit den prekären Unterklassen unserer Einwanderungsgesellschaft in eins. Sie sind in seinem Sprachduktus Symbol für die zugewanderten Transfer-Empfänger, für die Bildungsfernen – oder schlichter ausgedrückt: für die Nutzlosen und die Schmarotzer.
Die Wirkungsmächtigkeit der Sarrazin-Debatte liegt in ihrem Nutzen für eine kapitalorientierte Krisenbewältigungsstrategie, in der Kulturrassismus als Kitt für kurz vor dem Aufbrechen stehende Klassenauseinandersetzungen dienen kann. Nachdem die Lohnabhängigen den Löwenanteil an der finanziellen Bewältigung der Finanzkrise geleistet haben, werden jetzt wieder unverhohlen Forderungen nach weiterer Umverteilung von unten nach oben, nach mehr (Eigen-)Leistung und weniger Sozialstaat, nach dem nationalen „survival of the fittest“ laut. Es wird „endlich eine gezielte Einwanderung“ verlangt und verkündet, eine „unkontrollierte Zuwanderung“ würde „unsere Sozialkassen“ plündern. Tatsächlich entlarvte sich die Mär von der „unkontrollierten Zuwanderung“ schon mit der regierungsoffiziellen Verkündung des ersten Anwerbestopps für die bis dahin dringend benötigten „Gastarbeiter“ im Jahr 1973 als Makulatur.
Zuwanderung war in der Bundesrepublik Deutschland nie unkontrolliert. Sie unterlag vielmehr immer einem kapitalkompatiblen Kosten-Nutzen-Kalkül, das regelmäßig flankiert wurde von einer für Arbeitgeber und Machteliten gleichermaßen politisch nützlichen Drohkulisse: „Die Ausländer“ dienten als sozial wie politisch strukturell benachteiligte industrielle Reservearmee und wurden gleichzeitig als „Sozialstaatsschmarotzer“ an den Pranger gestellt. Im Falle störender, weil keinen Profit bringender Asylbewerber gipfelte dieses Kalkül gar in einer indirekten Rechtfertigung der pogromartigen Ausschreitungen des rassistischen Mobs in Rostock 1992 durch den damaligen Innenminister Rudolf Seiters: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts“ und den „unkontrollierten Zustrom“ von „Ausländern“. Die rassistische Parole von der „Ausländer-“ und „Asylantenflut“ ist realpolitisch zugleich ein nützliches Instrument, um die Zuwanderungsquoten an kapital- und politikkonforme Anforderungen anzupassen. Die neue Selektion unter kapitalkompatiblen Nützlichkeitserwägungen wird heute unter der Chiffre „Integration“ ausgehandelt: Wer nützt uns und wer nutzt uns aus? In abgemilderter Begrifflichkeit bedienen sich aktuell auch diejenigen Sarrazin-Gegner, die den Bedarf an Arbeitskräften in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, solcher Selektionsmuster.
Von der Sarrazin-Front wird der Feind einer elitenkonformen Leistungs- und Selektionsideologie deutlich benannt: die Linken, die Gewerkschaften, die Verteidiger benachteiligter Minderheiten sowie Kritiker kapitalistischer Verwerfungen. „Drei linke Lebenslügen“ hat der Rechtsintellektuelle Norbert Bolz in einem taz-Beitrag (!) ausgemacht: den „Mythos der Ausländerfeindlichkeit“, den „Mythos des Multikulturalismus“ und den „Mythos von der Unmenschlichkeit des ökonomischen Arguments“. Letzeres deutet der aus öffentlichen Mitteln reichlich gesponserte Professor als „humanitaristisches Tabu über der einfachen Frage: Können wir die Leute, die zu uns wollen, brauchen?“ Hinter den kulturrassistischen Nebelkerzen kommen nun gesellschaftspolitische Kampfansagen zum Vorschein, die die Notwendigkeit, ganz klassisch zwischen Rechts und Links zu unterscheiden, verdeutlichen: Dabei geht es nicht um eine „richtige Zuwanderungsquote“ oder „nationale Integrationsanforderungen“; vielmehr muss die Universalität von Menschenrechten in den Vordergrund gestellt und gegen administrative Selektionsmechanismen auf dem Rücken von Menschenschicksalen offensiv Stellung bezogen werden. Der Sarrazynismus hat hierzu seine Duftnoten ausgiebig markiert.

Aus: Lotta - antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 41, Winter 2010/2011 http://projekte.free.de/lotta