Warum sind Krisenzeiten selten Erkenntniszeiten?

Ein Gespräch mit Oskar Negt über blockierte Lernprozesse, gesellschaftliche Urteilskraft und Demokratie als Lebensform

in (08.04.2011)

Die in dieser Zeitschrift geführte gewerkschaftliche Strategiedebatte kommt immer wieder auf einen Punkt zurück: Was kann aus den ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisenprozessen gelernt und wie können kollektive Lernprozesse organisiert werden? Für politische Bildung sind Gewerkschaften ein unverzichtbarer sozialer Raum – und ohne politische Bildung ist gewerkschaftliche Revitalisierung nicht zu denken. Ohne politische Bildung im Sinne gesamtgesellschaftlicher Urteilskraft drohen Zivilgesellschaft und Demokratie zu zerfallen.»Im normalen Alltagsmilieu herauszufinden, wo sich Entscheidungen zu kollektivem Unglück zusammenziehen, ist zentrale Aufgabe politischer Bildung. Nicht zu warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralischen Verkrüppelungen der Herrschaftseliten ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen haben, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach auch aussichtslos werden lässt« – das ist das Erkenntnisziel des neuen Buches von Oskar Negt: Der Politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Ein Plädoyer wider den autoritären Kapitalismus, für die Rückkehr des Politischen in die Gesellschaft.    

Sozialismus: Unsere Zeitdiagnose: Seit 2007 sind wir mit einer manifesten Systemkrise des kapitalistischen Akkumulationszusammenhangs konfrontiert. Das war vorhersehbar – wir haben darüber und über die Notwendigkeit einer »Ökonomie des Ganzen Hauses« anlässlich des Erscheinens Deines Buches »Arbeit und menschliche Würde« (2001) diskutiert.1 Umso verblüffender ist, dass diese zweite Große Krise seit der »Great Depression« in den 1930er Jahren nahezu keine tiefergehenden gesellschaftlichen Lernprozesse ausgelöst hat. Wie ist das zu verstehen?

Oskar Negt: Ich würde die Frage einschränken: Lernblockaden konzentrieren sich zunächst einmal in der politischen Klasse. Dort ist »weiter so« angesagt. Lernunfähigkeit erstreckt sich aber auch auf einen Großteil der Medien, die sich nachfragender, kritischer, gar aufklärerischer Berichterstattung weitgehend entsagt haben. In diesen Kreisen herrscht purer Pragmatismus, mittlerweile auch die Unfähigkeit, über gesellschaftliche Projekte nachzudenken.

Es sind einzelne, die quasi aus der Reihe fallen. Mahner wie Dietrich Hoppenstedt, bis 2006 Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, der in der diesjährigen Dresdner Rede über die Notwendigkeit der »Wiederentdeckung der Moral« gesprochen hat. Die Politik der Agenda 2010 ist aus seiner Sicht der Anschluss Deutschlands an die von den Finanzmärkten getriebene Umwälzung der Weltwirtschaft gewesen – eine »Demutsgeste gegenüber der Macht des Faktischen«, eine Kapitulation gegenüber Kapitalformen, die nur suggerieren, es werde irgendetwas produziert, die tatsächlich aber rein auf Umverteilung gründen. Stimmen wie die von Hoppenstedt aus dem Zentrum des bürgerlichen Lagers haben ein anderes Gewicht als Kritik, die von außen kommt. Offenkundig ist ein Restbestandteil bürgerlicher Tugenden in der Gesellschaft noch vorhanden. Es ist doch bemerkenswert, das die FAZ im Fall Guttenberg von Anfang an eine ganz klare Linie gegen die Verletzung des Wertekanons des bürgerlichen Kosmos durchgehalten hat – bis hin zum Aufruf, den Minister zu entlassen. Möglicherweise ist dies sogar das Wirksamste am Fall Guttenberg: dass der politisch reflektierte Teil des Bürgertums den Status und die Würde des Citoyen verteidigt hat.

Dennoch ist es von hier aus noch ein weiter Weg bis zu dem Aufruf des Resistancekämpfers Stéphane Hessel: »Empört Euch!«

 

Wir sind in diesen Wochen Zeitzeugen des globalen Aufbrechens ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Widersprüche: von den kapitalistischen Metropolen im Westen über die arabische Welt bis nach Ostasien. Krise ist genau dies: Das Aufbrechen der inneren Widersprüche dieser Produktionsweise, der Usurpation von Reichtum und gesellschaftlicher Macht, die den sozialen Zusammenhalt und die Fortschrittsfähigkeit der Gesellschaft über Grenzen hinaus strapaziert hat. Also Krise doch als »Lernwerkstatt«?

Die politische Mehrheitsklasse betreibt den Versuch der Normalisierung der Verhältnisse, ohne dass die aufgelaufenen Probleme abgenommen hätten. Der mal offene, mal latente Krisenzusammenhang bleibt. Dabei zeigt die Katastrophe in Japan einmal mehr, dass es nicht um einzelne Bereiche des gesellschaftlichen Ganzen geht. Die nach dem Beben und dem Tsunami einsetzende Kernschmelze in Fukushima kann möglicherweise eine Zäsur bedeuten – und in Bezug auf die Kernkraft hoffen wir das. Aber im Grunde ist der ganze Begriff des Fortschritts tangiert. Fortschritt bedeutet für mich heute die Aufarbeitung der ausgegrenzten und liegengebliebenen Probleme unserer Gesellschaft und nicht einfach fortschreitende Modernisierung. Dieser sture Fortschrittsglauben ist die »Idio­tie« der Sozialdemokratie, die in Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« (1940) zurecht als »konformistisch« kritisiert wurde – mit der immer noch bedenkenswerten Schlussfolgerung eines veränderten Fortschritts- und Revolutionsbegriffs: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Notbremse finde ich ein treffendes Bild für das, was heute Fortschritt sein könnte. Beschränkte sich dieser lediglich auf Technologie, Exzellenzuniversitäten und naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinne, ist für mich die Haltbarkeit unserer Zivilgesellschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen absolut in Frage gestellt.

 

Der Stuttgarter »Wutbürger« hat sich punktuell über einen technokratisch eingezwängten, systemisch gefesselten Fortschrittsglauben hinweggesetzt. Aber warum keine breitere zivilgesellschaftliche Empörung? Gewerkschaften haben es nicht unversucht gelassen, sondern stellenweise mobilisiert – auch in den letzten Wochen gegen fortschreitende Prekarisierung der Arbeit im Ausgang der Krise.

Meine These: Erkenntniszeiten können Krisenzeiten nur dann sein, wenn die Menschen Alternativen zum Bestehenden wahrnehmen. Wenn gewissermaßen eine Kraft oder Organisation vorhanden ist, die ihnen signalisiert, dass das Lernen aus der Krise Folgen haben könnte für die Bekräftigung dieser Alternative. Wenn die Gewerkschaften keine politische, kulturelle und moralische Alternative zum bestehenden System sichtbar machen, dann können an die krisenhafte gesellschaftliche Situation auch keine Lernprozesse anknüpfen, obwohl viele Menschen durchaus von deren Notwendigkeit überzeugt und keineswegs gleichgültig gegenüber dem Ausbleiben eigener wie gesellschaftlicher Lernprozesse sind.

Die Frage der Alternative ist der entscheidende Punkt bei Lernprozessen anlässlich einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

 

Wie kommen wir zu Alternativen? Du sprichst von einer Wirklichkeitsspaltung. Einerseits eine Elite, die mit Macht ihre Bastionen retten will. Nach Heitmeyer2 eine »rohe Bürgerlichkeit« der Sarrazin, Sloterdijk, Bohrer etc., die jeden sozialen Kompromiss aufkündigen. Andererseits Kritik an einem Fortschrittsbegriff wie bei S 21, die gesamtgesellschaftlich aber nicht wirkungsmächtig wird. Es scheint: In dieser Konstellation entsteht kein sozialer Raum für die Herausbildung neuer politischer Urteilskraft – ein Befund, den wir auch im Zusammenhang der Krise der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften diskutiert haben.3

Angesichts einer so beschriebenen Konstellation ist die Leninsche Formulierung gar nicht so schlecht, dass es eine »revolutionäre Situation« dann gibt, wenn die »oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen«.

Wichtig scheint mir in der Tat der von euch angesprochene fehlende Raum für Verständigung, für Reflexion und damit für mögliche Lernprozesse. Dieser Raum ist in den letzten Jahrzehnten in einer Art und Weise geschrumpft, dass in gesellschaftlichen Diskursen die realitätsprüfende Instanz sich immer mehr auf eine bloß betriebswirtschaftliche Rationalität bezieht und eine Normalität, wenn nicht gar Normierung schafft, die einen erschrecken lässt. Dafür steht z.B. das so genannte Maultaschen-Urteil, bei dem die unterste Gerichtsinstanz die fristlose Entlassung einer Pflegerin wegen des »Diebstahls« von sechs Maultaschen für gerechtfertigt hält, die nächste Instanz es relativiert und die dritte das Urteil schließlich kassiert. Glücklicherweise! Aber was mich erschreckt hat: Diese Verfahrensrationalität im Rechtssystem täuscht eine Normalität vor, die sich über elementare soziale Probleme hinwegsetzt und zu einer postdemokratischen Berufungsinstanz der politischen Klasse – vom Umgang mit Hartz IV-BezieherInnen bis zur »Legitimation durch Verfahren« gegen die Kritiker von Stuttgart 21 – geworden ist.

Demoskopische Umfragen zeigen: Rund zwei Drittel der Bevölkerung halten die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse für ungerecht. Es ist im Grunde hier wie bei der Marxschen Analyse der Mehrwertproduktion: Es gibt keinen Betrug beim Äquivalententausch – aber am Ende werden die einen immer reicher und die anderen immer ärmer. Wie kommt so was zustande? Das ist klassische Ideologie, die Verschränkung von wahr und falsch, und hier steckt das große Problem, gesellschaftliche Verhältnisse durchsichtig zu machen.

Dieses Problem ist umso größer, weil sich die Intellektuellen aus ideologiekritischen Analysen mehr und mehr zurückgezogen haben. Hier ist die Verarmung des gesamten Reflexionsspektrums – von kapitalismuskritischen Verlagen bis zu politischen Interventionen – derart groß, dass man in der politischen Aufklärungsarbeit teilweise wieder von vorne anfangen muss.

 

Wir können die demoskopischen Befunde noch zuspitzen: nicht nur Kritik an sozialer Ungerechtigkeit, sondern Kritik an dem Systemzusammenhang Finanzmarktkapitalismus, der Ungerechtigkeit, Prekarität, Armut, Entfremdung und Entwürdigung menschlichen Lebens gemäß seiner inneren Logik erzeugt.

Ich sehe das genau so. Diejenigen, die in den geschrumpften Reflexionsräumen noch kritisch dagegenhalten, halten die Krisenprozesse keineswegs für Randphänomene, sondern sind der Überzeugung, dass das systembedingt etwas mit der Plünderung des Sozialstaats zu tun hat und die Wirtschaftslogik des Kapitals weiter freisetzt. Es ist doch so: In der Realität entgrenzender Globalisierung ist das Kapital, wie es im »Kommunistischen Manifest« beschrieben wurde, zum ersten Mal seinem Begriff gerecht geworden. Der »zivilisierte Kapitalismus« einer Gräfin Dönhoff war gestern, die das Kapital domestizierenden Schichten sind weggebrochen. Umso dringender stellt sich mir die alte Frage nach Wirtschaftsdemokratie neu, weil sonst gewissermaßen die Enteignungsprozesse eine solche klassenspezifische Richtung einschlagen, dass die von jeder politischen Kontrolle befreiten großen Wirtschaftsverbände und Unternehmen beginnen, sich ihren eigenen Staat zu schaffen. Der Berlusconismus in Italien ist ein solches Projekt.

Tatsächlich zeigen Umfragen: Die gegenwärtige Ohnmacht politischer Interventionsfähigkeit gegenüber ökonomischer Macht macht Menschen wütend. Was Stéphane Hessel artikuliert, ist diese erfahrene Ohnmacht, die Kränkung des Citoyen, die Verletzung von Menschenwürde.

 

Wie stark gewichtest Du die Gefahr des Umkippens der Wirklichkeitsspaltungen in eine anomische Situation, in der rechts­populistische Bewegungen das Erbe von Teilen des Bürgerblocks antreten?

Ich halte diese Gefahr deshalb für groß, weil sie mit dem grassierenden Angstrohstoff in der Gesellschaft zusammenhängt. Soziale Enteignungserfahrungen werden immer stärker. Daraus entstehen politische Mentalitäten, die ich mit dem Begriff »Schwarzmarktphantasien« umreiße, die an Stammtischen grassieren: die immer schon latent vorhandene Sehnsucht nach einem »Erlöser«, die Erwartung von schnellen Entscheidungen, das Ausspielen rücksichtsloser Macht, das Bedürfnis nach Unterwerfung unter einen »charismatischen« Entscheidungsträger – was auf den »Tatenmensch« Guttenberg bereits projiziert worden war. Wenn wir nach Frankreich, zu den Niederlanden, nach Belgien, Österreich und eben auch auf die skandinavischen Länder schauen, können diese längst zur Realität gewordenen Gefahren überhaupt nicht überschätzt werden.

 

Damit sind wir erneut bei der Frage nach der Zukunft der Demokratie als Lernprozess. »Demokratie«, so schreibst Du im »politischen Menschen«, ist »jene gesellschaftliche Lebensform, die sich nicht von selbst herstellt, sondern gelernt werden muss. Deshalb ist die Frage nach lebenslangem Lernen, nach Erwachsenenbildung, die über die enge berufliche Qualifikation hinausgeht, Existenzbedingung einer demokratischen Gesellschaftsordnung.« In den 1970er Jahren war Bildungsarbeit eine der Antworten der Gewerkschaften auf das Aufbrechen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisenprozesse. Wie siehst Du das heute?

Im Rückblick ist das ein eher trauriges Kapitel. Emanzipatorische Ansätze wurden bald wieder zurückgeschlagen, wohl auch aus einem falschen Verständnis von Krise als Rezession und Arbeitslosigkeit, auf die dann bald ein neuer Konjunkturaufschwung folgt. Auf die zugrundeliegenden Gesteinsverschiebungen hatte man keinen Blick. Und später arbeitete man Lernprozesse in Bildungsmodulen klein, die Zusammenhangswissen gar nicht mehr entstehen lassen. Dass Bildung dann immer mehr zu einer nahezu entpolitisierten Funktionsschulung von Betriebsräten geworden ist, kann ich nur als Drama bezeichnen.

Es gibt aber Anzeichen, dass sich etwas ändert. Vielleicht hat das mit jüngeren FunktionärInnen zu tun. Vielleicht auch mit der Erkenntnis, dass die Erfolge aus dem so genannten tarifpolitischen Kerngeschäft geringer werden. Und der Erkenntnis, dass das gesamte Tarifgeschehen eingebunden ist in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge – in Sprache, Symbole etc. –, die bisher als »weiche Materie« eher ausgegliedert worden sind. Hier setzt ein Umdenken ein, den Gesamtbereich auch der Arbeitsformen, der Arbeitsgestaltung, der Partizipationsbedürfnisse in der Arbeit, nicht nur der so genannten Stammbelegschaften, sondern auch der tendenziell Ausgegrenzten – also das ganze Subjekt der »lebendigen Arbeit« im Sinne »guter Arbeit« – wieder stärker in das gewerkschaftspolitische Blickfeld zu nehmen. Ich kann das nur sehr begrüßen.

 

Ausbau der Menschenrechte – durchaus im Sinne Hessels – und Gestaltung der Arbeit sind für Dich die beiden Schlüsselprojekte.

In der Tat. Es gibt verschiedene emanzipatorische Arbeitsuto­pien: Arbeitszeitverkürzung, gute Arbeit, Partizipation und Selbstbestimmung, solidarische Ökonomie. Aber wir produzieren verkürzt verstandenen Fortschritt nach wie vor durch erhöhte Fremd- und zunehmend auch Selbstausbeutung. Genau hier muss Systemkritik ansetzen.

 

Kurzes Zwischenfazit: Einerseits registrieren wir wachsende Sensibilität für Systemwidersprüche, die in den vielfältigen Verletzungen der Versprechungen der bürgerlichen Gesellschaft – soziale Gerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Verhinderung von Armut etc. – zum Ausdruck kommen. Andererseits stecken wir in einer Krise ohne mächtige Alternative – eine Situation, in der »die unten« nicht mehr wollen, aber auch (noch) nicht anders können. Wo siehst Du den Ausweg?

Zunächst gilt für mich, dass sich auch die Linke für ein »zivilisatorisches Minimum« einsetzen muss. Das ist noch nicht die Veränderung der Gesellschaft. Aber wo das in der Linken nicht Thema ist, läuft etwas fehl. »Tugenden« wie Kompromissfähigkeit, Kooperation und Vertrauen müssen auch Eingang in eine Politik der Systemveränderung finden, also Kategorien, die einen über den linken Rand hinausgehenden Wertehorizont bezeichnen. In dieser Hinsicht sind kritische Bürger wie Hoppenstedt Bündnispartner, bei gleichzeitiger immanenter Kritik der Selbstwidersprüchlichkeit des bürgerlichen Lagers von links. Dabei muss nicht in erster Linie die Marktwirtschaft als solche attackiert werden, sondern die (kapitalistische) Verkehrung, dass die Gesellschaft zum Anhängsel der Ökonomie geworden ist, wie dies in den 1940er Jahren schon Karl Polanyi in seiner »Great Transformation« weitsichtig analysiert hat.

Fortbestehende Lohnabhängigkeit schließt nicht aus, bei der Frage politischer Mündigkeit oder Unmündigkeit, der schleichenden Aushöhlung des Status des Citoyen die bürgerlichen Tugenden und Grundwerte in Anschlag zu bringen. Von daher spitze ich meine Analyse der Demokratie im »Politischen Menschen«, die gelernt werden muss, auf das Problem der »politischen Urteilsfähigkeit« zu.

Und dies wiederum schlägt den Bogen zu der sozialen Wirkmächtigkeit falscher Sichtweisen, die politische Lernprozesse blockieren: die sozialen Topoi. Das sind zum einen die Stammtischparolen, die zunächst harmlos erscheinen, aber an irgendeinem Punkt bittere Wirklichkeit werden. Das ist zum zweiten die »Gewalt« der Vorurteile, wobei es irritieren muss, dass hierzulande – sieht man von der Bielefelder Forschungsgruppe um Heitmeyer ab – im akademischen Bereich so gut wie keine Vorurteilsforschung mehr existiert. Und drittens das Wurzelgeflecht der Ideologien, bei denen die Mischung von wahr und falsch, von bürgerlichem Selbstanspruch und Desavouierung von zentraler Bedeutung ist.

Wenn in dem Auseinanderdriften der Gesellschaft zwischen den arbeitenden Menschen als abhängige Produzenten und Konsumenten und der zerbrechlichen Schicht repräsentativer Demokratie keine Dialektik Platz greift, in der lebendige politische Arbeit, Vermittlung und Verständigung zwischen allen Ebenen stattfindet, ist eine weitere Spaltung der Gesellschaft unvermeidlich. Die Realität wird dann dahingehend entpolitisiert, dass sich die jeweiligen Individuen oder Gruppen nicht mehr auf das Gemeinwesen beziehen, sondern nurmehr um die Bewahrung ihrer Statusprivilegien bemüht sind.

 

In diesem Erneuerungsprozess zerbrechlicher Repräsentationsstrukturen und der Zivilgesellschaft insgesamt könnte die Wirtschaftsdemokratie eine hervorgehobene Rolle insofern spielen, als sie an einem strukturell zentralen Punkt gesellschaftlicher Reproduktion – nämlich in der Beziehung von Arbeit und Kapital – demokratische Mitwirkungs- und Gestaltungsstrukturen ausbildet, die auf die anderen Lebensbereiche ausstrahlen können – bis zur Erringung des politischen Mandats.

Wirtschaftsdemokratie würde in der Tat Veränderungs- und Lernprozesse anstoßen, die auf vielen gesellschaftlichen Ebenen immer noch tabuisiert sind. Darauf müsste ein wirklicher, von den Gewerkschaften forcierter Kurswechsel abzielen. Unter dem Gesichtspunkt von Autonomie, Mündigkeit und politischer Urteilsfähigkeit ist es gerade für die arbeitenden Menschen eine Zumutung, über lange Zeiträume kulturelle und politische Erosionsprozesse und Spaltungstendenzen in ihren Lebenswelten auszuhalten. Das befördert die angesprochenen Schwarzmarktphantasien und Tendenzen in Richtung eines autoritären Kapitalismus.

In diesem Zusammenhang halte ich es für erwähnenswert, dass stabile demokratische Verhältnisse selbst für die Privilegierten von Vorteil sind. Einkommens-, Verteilungs- und Chancengerechtigkeit sowie die Idee der Gleichheit haben eine zentrale Bedeutung für die Gesamtproduktivität und Haltbarkeit einer Gesellschaft, wie die angloamerikanischen Sozialforscher Pickett/Wilkinson in ihrer Untersuchung »Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind« (2009) nachweisen.

 

Das neue Nachdenken über Wirtschafsdemokratie greift den Abendrothschen Befund auf, dass Demokratie verfällt, wenn sie sich nicht zur sozialen Demokratie weiterentwickelt.4 Und sie setzt an Systemwidersprüchen dadurch an, dass sie das Bedürfnis nach demokratischer Arbeit wieder ins Spiel bringt. Kein apartes Thema von Gewerkschaften allein, sondern gleichsam neue Grundlegung von Zivilgesellschaft.

Unter diesem Blickwinkel der Aktualität von Wirtschaftsdemokratie zur Stärkung von Zivilgesellschaft und politischer Demokratie erweisen sich im nachhinein Habermas’ Thesen vom Auszehren arbeitsgesellschaftlicher Utopien und einer Trennung von System und Lebenswelt als schiefe und kurzsichtige Zeitdiagnosen, die das gewachsene Spektrum von Arbeit und gesellschaftlichen Tätigkeiten nicht angemessen einfangen und bearbeiten. Habermas spricht jüngst von den utopischen Gehalten der Grund- und Menschenrechte, wohingegen Axel Honneth wieder verstärkt Arbeit thematisiert. Mit »Geschichte und Eigensinn« zusammen mit Alexander Kluge versuchte ich immer an dieser Dimension gesellschaftlicher Arbeit mit all ihren Veränderungen in den Arbeitsprozessen selbst und deren Bedeutung für die Stellung der Subjekte festzuhalten.

Die Entfremdung von lebendigen Arbeitsbedürfnissen, die Angriffe auf menschliche Würde, fehlende politische Anerkennung und die Verweigerung wirtschaftsdemokratischer Mit- und Selbstbestimmung nimmt umso schlimmere Züge an, als kein wirkmächtiges Kollektiv vorhanden ist, dies im Namen der enteigneten Individuen anzuklagen und zu stoppen. Insofern müsste die Frage der Wirtschaftsdemokratie auch von der Individualitätsseite her aufgezogen werden.

 

Also im Sinne des Marx der »Grundrisse«: »In einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne.«

Letzte Frage: Am Schluss Deines Buches, im Sozialismuskapitel, sprichst Du von der gegenwärtigen historischen Phase als »Vorrecht des Besonderen«. Zu Beginn unseres Gesprächs sprachen wir angesichts der Systemkrise von der Notwendigkeit von gesamtgesellschaftlichen Alternativen. Wir brauchen beides: Gegen die systemische Delegitimierung müssen wir systemische Alternativen erarbeiten und gleichzeitig müssen wir die Perspektive von unten stark machen – beides! Im Buch machst Du das »Besondere« sehr stark.

Das hat sehr viel mit der politischen Urteilskraft zu tun. Kant sagt, Urteilskraft ist das Vermögen des Besonderen – eine sehr gute Formulierung. In professionellen Zusammenhängen gehört Urteilskraft zur üblichen Kompetenz, beispielsweise bei Naturwissenschaftlern; aber diese können – wie Kant wörtlich bemerkt – in Weltangelegenheiten oft Dummköpfe sein. D.h. sie können in Lebensangelegenheiten ihr individuelles Vermögen oft nicht auf ein Allgemeines in kompetenter Weise beziehen. An diesem Punkt will ich meinen Aufklärungsbegriff noch einmal spezifizieren. Aufklärung bedeutet, dass ich in persönlichen Lebensangelegenheiten mit dem Allgemeinen umgehen lerne in Bezug auf meine eigene lebendige Erfahrung. Für dieses Allgemeine steht der Weltbegriff, wie ich ihn im ersten Kapitel des Buches von den geopolitischen Machtkonstellationen über den europäischen Weltentwurf bis hin zu den zentralen aktuellen Krisenherden der europäischen Zivilgesellschaft entfaltet habe. Er ist also nicht einfach die Summe des Besonderen. Um dieses Allgemeine wiederum zu verlebendigen, geht es auch nicht nur um die Anwendung des Allgemein auf das Besondere, sondern eben auch umgekehrt. Dies ist die dezidierte These meines Buches: Die Gewichtung des Vermögens des Besonderen, also der politischen Urteilskraft eines Individuums, ermöglicht ihm eine aufgeklärte Orientierung in der Welt. Die Reflexionskategorien Orientierung, Wissen Lernen, Erfahrung bilden ja auch den roten Faden des »politischen Menschen« – getragen durch die Strukturen lebendiger Öffentlichkeit, weiterentwickelt zur Wirtschaftsdemokratie –, befördern schließlich Urteilen und Charakterbildung und befähigen dadurch den politischen Menschen, Demokratie als Lebensform zu lernen.

 

Oskar Negt, Jahrgang 1934, war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität in Hannover. Ende 2010 veröffentlichte er das Buch »Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform«, dessen zeitdiagnostisches Potenzial im vorliegenden Gespräch ausgelotet werden soll. Für Sozialismus diskutierten Richard Detje und Christoph Lieber.

 

1»In die Kraft des Gegners eindringen.« Gespräch mit Oskar Negt über »Arbeit und menschliche Würde«, in: Sozialismus 3/2002.

2Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010.

3»Soziale Fragmentierung, Realitätsverlust und neue politische Urteilskraft.« Ein Gespräch mit Oskar Negt über die Realitätsverkennung in der SPD, die Notwendigkeit der Gewerkschaften und Knotenpunkte von Krisenlösungen, in: Sozialismus 12/2007. »Den Gewerkschaften fehlt eigenständige politische Urteilskraft.« Wozu noch Gewerkschaften? – Gespräch mit Oskar Negt, in: Sozialismus 4/2005

4Wolfgang Abendroth: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1968.