Neues deutsches Gedenken?

Bedarf es eines neuen Gedenktages der Vertriebenen in Deutschland?

Bedarf es eines neuen Gedenktages der Vertriebenen in Deutschland? Die deutsche  Regierung meint Ja. Auf ihre Initiative hin wurde die Entschließung „60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden“ im Februar 2011 angenommen. Darin spricht man von einem bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung. Dieser
Gedenktag soll der 5. August sein, also jener Tag, an dem 1950
die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ in Stuttgart
angenommen wurde. Der Entschluss traf im Bundestag auf
den Widerstand der Opposition – aber auch auf scharfe Kritik
in Polen. 68 Historiker aus Deutschland, Polen, Tschechien,
Israel, USA und weiteren Staaten erklärten in einem offenen
Brief, dass „dieser Entschluss ein falsches Signal aus Sicht von
Geschichte und Politik“ ist. Sie erinnerten daran, dass die
„Charta“ weder ein Wort über den von Deutschland begonnenen
Weltkrieg noch über seine jüdischen, polnischen und sowjetischen
Opfer sowie jenen unter den Sinti und Roma verliert.
Dafür spricht man vom „Verzicht auf Rache und Vergeltung“.
Die Unterzeichner des Briefes betonen, dass die „Charta“ kein
„wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zur Integration und
Aussöhnung“ ist, wie in der Resolution des Bundestages zu lesen
war, sondern vielmehr ein Produkt des Kalten Krieges, das nicht
zur Versöhung mit Polen und Tschechen beitrug. Als ein solcher
versöhnender Akt sollte vielmehr das Memorandum der polnischen
Bischöfe von 1965 angesehen werden, das den berühmten
Satz enthält „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, oder der
Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal zu Ehren des Aufstands
im Warschauer Ghetto im Jahre 1970.
Auch das sollte nicht vergessen werden: Unter der „Charta“ sind
die Unterschriften vieler Nationalsozialisten, seien es Mitglieder
der SS oder Personen, die an der sogenannten Ostumsiedlung
beteiligt waren. In der „Charta“ ist die Rede vom „Recht
auf Heimat“, das seit Jahrzehnten nicht nur als Recht zur
Rückkehr auf das alte Territorium, sondern auch als Deklaration,
dass Nachkriegsdeutschland in den ungefähren Grenzen
aus dem Jahr 1937 existiere, interpretiert wird. Dieses „Recht“
ist – so der Bund der Vertriebenen (BdV) – weiterhin aktuell.
Damit bleiben auch weitere Forderungen: die Anerkennung
der „Vertreibung“ durch die polnische und tschechische Regierung
als Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit öffentlicher
Entschuldigung, die Aufhebung der rechtlichen Akte zur
Enteigung der Deutschen (Beneš- und Bierut-Dekrete) und die
Wiederherstellung des Rechts auf Entschädigung für das verlorene
Eigentum. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass der
BdV sich bis 1990 konsequent geweigert hatte, die polnische
Westgrenze an Oder und Neiße anzuerkennen und sich dem
Beitritt Polens zur EU 2004 entgegenstellte.
Im Warschauer Außenministerium ist man der Meinung,
dass dieser Beschluss des Bundestages „viele aus polnischer
Sicht beunruhigende Elemente“ enthält. Der Text beachtet
nicht die „Gesamtheit des historischen Kontextes des Zweiten
Weltkriegs“. Somit diene dieses Dokument „nicht der deutschpolnischen
Verständigung“. Es stellt sich die Frage, was die
Regierungskoalition zu einer solchen Deklaration bewegte.
Geht es um Sympathiepunkte beim konservativen Publikum?
Oder ist es die Angst vor dem BdV und seiner Vorsitzenden?
Versuchen nun die Politiker der Koalition, die Verantwortung
für den Weltkrieg von Deutschland zu lösen und die Opfer mit
Stillschweigen zu übergehen?
Im heutigen Europa negiert kaum jemand das Recht der
Deutschen, ihrer eigenen Opfer zu gedenken. Die Kritik an dem
Beschluss resultiert aus der Form des Gedenkens. Das Problem
ist die projektierte und verfestigte Form der Erinnerung, in
welcher der Mythos von „Millionen deutscher Vertriebener“
einen Platz gefunden hat. Sie werden zu einem Hauptopfer des
Zweiten Weltkriegs stilisiert, die einer „europäischen Gemeinschaft“
an Opfern angehören sollten. Es darf nicht vergessen
werden, dass der Kalender der deutschen Festtage bereits den
Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus enthält
sowie dass an Millionen von Vertriebenen auf der Welt an jedem
20. Juni eines Jahres im Rahmen des „Welttages der Migranten
und Flüchtlinge“ auf Grundlage einer Resolution der Generalversammlung
der Vereinten Nationen erinnert wird.