Geschichtsbeziehungen in Bewegung

Erinnerungsbildung in postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaften

Erinnerung steht in einer Beziehung zu geschichtlichen Erfahrungen, zu etwas, das nicht mehr verbessert oder wieder hergestellt werden kann, zu einem Verlust, zu Opfern und Täter_innen und den Grauzonen dazwischen. Zugleich muss sich Erinnerungsarbeit auf gegenwärtige Dynamiken beziehen, will sie nicht zu einer Veranstaltung werden, bei der Geschichte als etwas erscheint, das einmal gewesen ist und nichts mit Heute zu tun hat. Ob also die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus zu einer kritischen Bewusstseinsbildung beiträgt, ist nicht durch den Gegenstand selbst garantiert, denn auch dieser historische Gegenstand kann vereinnahmt werden für ein Selbstbild, das sich im Kontrast zu einer verbrecherischen Geschichte seines eigenen Aufgeklärtseins versichert und Geschichte historistisch abschließt.
Für die Erinnerungsarbeit heißt das, den Umgang mit dem Nationalsozialismus nicht zu einer Angelegenheit nationaler Zugehörigkeit zu machen. Die Wissensvermittlung über den Holocaust - sein Ausmaß, die Art der Durchführung und seine ideologische Begründung - kann keiner Selbstbestätigung dienen über das eigene moralisch gefestigte Geschichtsbewusstsein oder über einen nationalkollektiven Konsens der Aufarbeitung. Pädagogische Erinnerungsarbeit hat zur Kritik an Gemeinschaftsvorstellungen beizutragen, in denen die Ideologie der Volksgemeinschaft und ihrer rassistischen und antisemitischen Begründungen nachwirken. Sie hat beizutragen zu einer Sensibilität gegenüber den Bruchstellen der Demokratie, die sich insbesondere im Umgang mit unerwünschter Migration, Flüchtlingen und jenen Migrant_innen zeigen, die nicht in das Erfolgskonzept des aktiven unternehmerischen Selbst passen. Es geht also um eine Erinnerungsarbeit, die sich auf die gesellschaftlichen und kulturellen Dynamiken der Gegenwart einlässt und aufmerksam bleibt für das Verschwinden von Kritik, das in der Pädagogik so attraktiv geworden ist.
Neuere Ansätze der historisch-politischen Bildungsarbeit beziehen sich auf vielfältige Zugänge zur Geschichte und ermöglichen, die NS-Geschichte als eine europäische und globale „Beziehungsgeschichte" zu repräsentieren (vgl. Kux 2006). Sie wirken der Tendenz entgegen, die Erinnerungsarbeit als exklusiv nationale Angelegenheit zu vermitteln, ohne dabei die spezifische Verantwortung der Gesellschaften in der Täternachfolge zu relativieren. Das bedeutet eine Gratwanderung im Bewusstsein für die Instrumentalisierbarkeiten geschichtlicher Narrative. Für die pädagogische Praxis zu empfehlen ist insbesondere die Materialsammlung Geschichte/n teilen, die von Miphgasch/Begegnung e.V. und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin herausgegeben worden ist (www.ghwk.de). Projekte, die den Kontext der Migrationsgesellschaft anerkennen, ermöglichen Anknüpfungen an die Aufarbeitung der NS-Verbrechen für Teilnehmende verschiedener nationaler und kultureller Hintergründe und eröffnen dadurch historisch bewusste Beziehungen zur gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft. Kennzeichnend für diese Ansätze ist das Bemühen um Perspektivenerweiterung, was den Bildungsarbeiter_innen in diesem Feld abverlangt, eigene Geschichtszugänge im Verhältnis zu anderen Sichtweisen zu reflektieren. Konfliktgeladene und kontroverse Geschichtsbilder können dabei zutage treten und machen die multiperspektivische Aufarbeitung von Verbrechensgeschichte besonders anspruchsvoll.
Die österreichische wie die bundesdeutsche Migrationsgesellschaft sind gekennzeichnet von einer langen Geschichte der Nichtakzeptanz von Migration. Bis heute sind Migrant_innen damit konfrontiert, dass ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit in Frage gestellt und zurück gewiesen wird. Entlang völkisch-rassistischer Kategorien folgen beide postnationalsozialistischen[1] Gesellschaften noch immer einem Selbstbild, in dem Österreicher_innen und Deutsche weder Schwarze noch Muslime noch Juden/Jüdinnen sein können. Wird auf die Nachwirkungen der ideologischen Rahmung von Selbstbildern durch den NS mit Integrationsforderungen geantwortet, kommt es erneut zu einer Verdrängung zeitgeschichtlicher Brüche unter dem Vorzeichen einer nationalen Homogenisierung. Solange von Migrant_innen nationale Integrationsbekenntnisse verlangt werden, wird sowohl die innere Heterogenität der jeweiligen Gesellschaft verdrängt, als auch ein „Wir-Phantasma" etabliert, dem ein „imaginäres ‚Nicht-Wir'" gegenüber gestellt wird (Stuve 2009, S. 258). Gegenüber diesem „Ganz-oder-gar-nicht-Prinzip" (ebd.) eröffnen Ansätze multiperspektivischer Erinnerungsarbeit Möglichkeiten einer zeitgeschichtlich reflektierten und gebrochenen (Nicht-)Zugehörigkeit - ein Konzept, das sich von Integrationserwartungen verabschiedet. Dieses Konzept geht aus der Geschichte von Kämpfen, von Verfolgung und Vernichtung hervor. Die Verneinungsform in der Bezeichnung von (Nicht-)Zugehörigkeit signalisiert die Beziehung zu einer unabgeschlossenen Geschichte, mit der kein Frieden zu machen ist, die verstörend bleibt und auf die mit keinem Versprechen einer besseren Zukunft geantwortet werden kann (vgl. Messerschmidt 2010).



Literatur

Gryglewski, Elke (2006): Neue Konzepte der Gedenkstättenpädagogik. Gruppenführungen mit Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/M./New York, S. 299-309.
Kux, Ulla (2006): Deutsche Geschichte und Erinnerung in der multiethnischen und -religiösen Gesellschaft. Perspektiven auf interkulturelle historisch-politische Bildung, in: Heidi Behrens/Jan Motte (Hrsg.), Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2006, S. 241-259.
Messerschmidt, Astrid (2010): Gegenwartsbeziehungen - Erinnerungsbildung auf der Suche nach zeitgemäßen Perspektiven, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 2. Jg., Nr. 4/2010, S. 16-21.
Stuve, Olaf (2009): Kein Wir, kein Nicht-Wir. Intersektionalität in der politischen Bildung, in: Dirk Lange/Ayca Polat (Hrsg.): Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag, Bonn, S. 257-269.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühjahr 2011, „smrt postnazismus".

 


[1] Die Bezeichnung signalisiert die Unabgeschlossenheit der nationalsozialistischen Welt- und Selbstbilder und deren ideologische Nachwirkungen. Dabei bleibe ich dabei, vom Nationalsozialismus und nicht vom Nazismus zu sprechen, da die völkischen Gemeinschaftsvorstellungen und die Sozialpolitik des NS wesentliche Bezugspunkte einer kritischen Aufarbeitung sind. Die Beschädigungen im Begriff des Sozialismus spiegeln sich darin wider. Demgegenüber erleichtert die Bezeichnung Nazismus aus meiner Sicht eine abgrenzende Repräsentation des NS, was insbesondere mit der in Deutschland und Österreich verbreiteten Rede von ‚den Nazis' zusammen hängt.