Selbstorganisation

Begriff, Konzepte, Erfahrungen – ein deutsch-chinesischer Austausch, Teil II

Der folgende Veranstaltungsbericht geht auf eine Tagung des Projekts »Forum Arbeitswelten« im Oktober 2010 zurück, auf der die eingeladenen Gäste aus Deutschland, der Schweiz und China den nicht nur sprachlich, sondern historisch-kulturell anspruchsvollen Versuch unternahmen, sich über »Begriff und Praxis der Selbstorganisation« zu verständigen. In Teil I wurden die Selbstorganisations-Initiativen aus China vorgestellt, hier folgt nun die Präsentation der letzten und größten Initiative aus China, einer Reihe deutschsprachiger Ansätze aus dem Migrations-, Workers Center- und Gewerkschaftsbereich sowie die Dokumentation der anschließenden Diskussion.

Die Suche nach »Identität«, die für hiesige Vorstellungen irritierend wirken mag, ist auch ein Motiv, das die Arbeit des größten Projekts prägt: die »Heimstätte für WanderarbeiterInnen« in Beijing. Einer der Initiatoren und Hauptverantwortlichen des Projekts erläuterte, dass ohne Bewusstsein für die eigene Geschichte auch keine Organisierung der »neuen ArbeiterInnen« denkbar sei. Ebenso wie seine Mitarbeiterin wehrt er sich gegen den abwertenden Begriff »Bauernarbeiter« (Nongming gong), mit dem die ländliche Herkunft der Wanderarbeiter hervorgehoben werden soll: »Die chinesische Gesellschaft ist auf bäuerliche Produktion und ›Bauernarbeiter‹ gegründet«, so die Mitarbeiterin. Den neuen WanderarbeiterInnen etwas von diesem, mit dem Ende der Mao-Ära verloren gegangenen Selbstbewusstsein zurückzugeben, ist zentrales Anliegen der »Heimstätte«. Neben EDV-Kenntnissen und Arbeitsrecht stehen daher Geschichte und eigene kulturelle Produktion auf dem Lehrplan der zu dem Projekt gehörenden Abendschule für WanderarbeiterInnen. Die These von den »Verortungsschwierigkeiten« aufnehmend wurde auf die Notwendigkeit einer »Heimstätte« im wörtlichen und übertragenen Sinn verwiesen. Mit den rund 500 chinaweiten Konzerten und dem CD-Ver-kauf seiner »New Workers’ Art Troupe«, einer in 5000er-Auflage erscheinenden Zeitung, einem Museum für die »Kultur der WanderarbeiterInnen«, dessen von den WanderarbeiterInnen selbst beigesteuerte Exponate mittlerweile weltweit kuratiert werden, Schulungen, in denen jährlich 50-60 »Organizer« ausgebildet werden, einer eigenen Forschungsabteilung und sechs Second Hand-Läden, in denen die Erlöse gespendeter Gebrauchsgegenstände zur Finanzierung des Gesamtprojekts dienen, sei dies mit Abstand die größte »Selbstorganisation« Chinas. Sie habe einigen Einfluss auf die Wanderarbeiterorganisationen in anderen Gegenden, wie die Beteiligten festhielten, und werde mittlerweile von einer Reihe namhafter Sponsoren gefördert. Doch nach wie vor werde das Projekt »basisdemokratisch« geführt – alle Abteilungen treffen sich regelmäßig in einer Mitgliederversammlung und beraten über die Fortführung der gemeinsamen Arbeit.

Die Regierung duldet das Projekt. Zwar ist die angeschlossene, bis zur sechsten Klasse gehende Grundschule für die Kinder der WanderarbeiterInnen staatlich nicht anerkannt, doch die oft ehrenamtlich arbeitenden Lehrkräfte vermitteln ein Curriculum, das identisch mit dem des staatlichen Schulwesens ist, und die Abschlüsse berechtigen zur Aufnahme in die Mittelschule. Im Mai 2010 sei sogar die Genehmigung erteilt worden, eine kommunale, nicht betriebsbezogene Gewerkschaft als Untergliederung des ACFTU zu gründen. Sie habe mittlerweile 50 Mitglieder und diene als Labor für »konkrete Demokratie«.

Trotz dieser Erfolge hielten die MitarbeiterInnen der »Heimstätte für WanderarbeiterInnen« fest, dass die Fluktuation unter den WanderarbeiterInnen, deren mangelndes Geschichts- und damit Selbstbewusstsein das größte Handicap auf dem Weg zu einer stabilen Organisierung darstelle. Deren perspektivischer Flucht-punkt wiederum lag bei beiden nicht in der Entwicklung gewerkschaftlicher Strukturen, sondern in einem »das ganze Leben« umfassenden, die »Trennung von Arbeit und Leben aufhebenden Selbstorganisationsprozess«, der seine gesellschaftspolitisch-utopischen Bezüge offensichtlich vor allem aus der Negation der aktuellen Formen ökonomischer Entwicklung in China und einer Rückwendung zu maoistischen Ideen gewinnt. Im Zentrum der Liedtexte stehen etwa Heimweh, die Trennung von der Liebsten, romantische Erinnerungen an vergangene Zeiten und die ländliche Herkunft, daneben die Erfahrungen in der Stadt: Betrug am Arbeitsplatz und die Beschwörung gemeinsamer Stärke im Arbeitskampf.

Die kollektive Identitätsbildung der ›verlorenen Generation‹ der neuen WanderarbeiterInnen im Streik braucht offenbar zusätzlich eine große gesellschaftliche ›Vision‹, um wirkliche Selbstorganisation zu sein. Deren Orientierungspunkte mögen in diesem Fall in einer uminterpretierten Vergangenheit liegen, grundsätzlich stellt sich in dieser Perspektive aber das Problem, wie vom einen zum anderen zu kommen ist – vor allem, wenn dies selbstorganisiert stattfinden soll.

Deutlich wurde diese Ambivalenz zwischen de facto selbstorganisierter Praxis und langfristigen Perspektiven, in der Selbstorganisation einerseits als Reaktion auf akute Problemlagen, andererseits als Ziel im Sinne einer gesellschaftspolitischen Vision verstanden wurde, auch an anderen Beiträgen.

So berichtete ein Mitarbeiter eines Beratungszentrums für ArbeiternehmerInnen im Perlfluss-Delta, dass es zwar zahlreiche Arbeitskämpfe gebe, das Bewusstsein der Beschäftigten, insbesondere der »Bauernarbeiter«, in China aber noch nicht sehr entwickelt sei und die Kämpfe nicht zu einer entsprechenden Organisierung führten. Weder Partei noch Staatsgewerkschaft hielt er für relevante Bezugspunkte einer solchen Organisierung, er glaube vielmehr »an den Sozialismus«. Bei Marx gehe es um ein nicht-instrumentelles Verständnis von Produktion – »Produktion für das eigene Glück, nicht für das Kapital«. Das schließe Selbstbestimmung in Produktion und Verteilung sowie eine umfassende Mitbestimmung über die Gewinnverwendung ein – zusammengefasst bedeute dies »Wirtschaftsdemokratie«. Doch wie sei ein solcher Prozess denkbar?

Wenn Wissen vermittelbar sei, so sei Bewusstsein doch etwas, was nur selbst entwickelt werden könne, so Bodo Zeuners Anmerkung. Wie also gehe das Servicezentrum mit diesem Problem um? ›Beratung und Hoffnung‹, so die Devise des Mitarbeiters: Trotz aller Repressalien setzt sich seine, 2004 gegründete, Organisation dafür ein, die Verbreitung von Tarifverträgen zu fördern, bietet arbeitsrechtliche Beratung und Vertretung bei juristischen Auseinandersetzungen – allein 2009 rund 140 Mal – sowie Schulungs- und Bildungsveranstaltungen an. Letztlich, so sein Fazit, müssten die ArbeiterInnen selbst Verantwortung übernehmen.

Nonni Morisse, IGMler, Jugendauszubildendenvertreter bei Daimler Bremen, verlieh dagegen seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich aus den Defiziten der Gewerkschaften selbst neue Formen entwickeln würden. Am Beispiel des Hafenarbeiterkomitees, das sich anlässlich einer Entlassungswelle in Bremen und Hamburg gebildet habe, erläuterte er die Entstehung eines überbetrieblichen Solidaritäts- und Gesprächskreises, der auch in anderen Fällen aktiv werden wolle. Bei Daimler selbst sei das Problem der Leiharbeit akut, im Bremer Umland vor allem die Erwerbslosigkeit. Gemeinsam mit anderen, vor allem jugendlichen GewerkschaftskollegInnen, denke man darüber nach, eine neue, überbetriebliche und kampffähige Gewerkschaft »im Geiste der IWW« (»International Workers of the World«, Anm. KH) zu gründen, die sich explizit als Organisation für Erwerbslose und Beschäftigte verstehe.

Ebenfalls aus real existierenden Defiziten der bestehenden Gewerkschaften heraus sind die Initiativen, die Christian Frings, Florian Wegner und ein Rechtsberater aus der ostchinesischen Provinz Shandong vorstellten, entstanden.

Christian Frings berichtete über das regionale Unterstützungsnetzwerk, das sich Ende 2005 anlässlich des Arbeitskampfes der Beschäftigten von Gate Gourmet, einem Flughafen-Caterer, entwickelt hatte und zwischenzeitlich beim Autozulieferer TMD (dessen Interessenvertretung die chinesischen Gäste bereits in der Woche zuvor kennengelernt hatten), der Reinigungsfirma Klüh sowie zuletzt beim Obst- und Gemüsezulieferer Univeg tätig war. Anlass seien immer Proteste von – meist migrantischen – Beschäftigten gewesen, die sich von ihrer jeweiligen Gewerkschaft im Stich gelassen gefühlt und ihre Forderungen in den Verhandlungslinien der Gewerkschaften nicht aufgehoben gesehen hätten. Er konstatierte unter den Belegschaften eine zunehmende Bereitschaft zu Arbeitskämpfen und Streiks – doch letztere seien nur legal, wenn die Gewerkschaft zustimme. Angesichts eines ausgeprägten Kontrollbedürfnisses der Gewerkschaften suchten sich die Widerstandspotentiale daher andere Ventile – Selbstorganisation resultiere aus dem Fehlen gewerkschaftlicher Unterstützung, so seine These.

Ähnlich argumentierte Florian Wegner, der den Konflikt um die Arbeitsverhältnisse im Kino Babylon, einem aus öffentlichen Mitteln geförderten Alternativ-Projekt in Berlin, schilderte. Nach zahlreichen erfolglosen Versuchen, mit der zuständigen Gewerkschaft ver.di ins Gespräch zu kommen, habe sich die Belegschaft schließlich entschlossen, eine eigene Betriebsgruppe aufzumachen und sich dabei Hilfe von der FAU (»Freie Arbeiter Union«), einer betriebs- und branchenübergreifenden Gewerkschaft mit anarcho-syndika-listischem Hintergrund, geholt. Dieser sei zwischenzeitlich gerichtlich untersagt worden, sich als legitime Interessenvertretung der Beschäftigten auszugeben – bis hin zum Verbot, sich überhaupt Gewerkschaft nennen zu dürfen. Der Hintergrund: Gewerkschaften werden in Deutschland juristisch nur als solche anerkannt, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, u.a. müssen sie ihre branchen- und nicht nur betriebsweite Tarifmächtigkeit, d.h. Konfliktfähigkeit, beweisen.

Von Auseinandersetzungen mit den formal zuständigen Gewerkschaften wusste auch der als Rechtsberater tätige Kollege aus China zu berichten. Seine in Shandong ansässige Hotline für Arbeitsrechte war entstanden aus dem Konflikt mit einem in dänischem Eigentum geführten Unternehmen, einem Elektronik-Zuliefer-er, der hauptsächlich Lautsprecher für Handys produziert. Fehlende Lohnzahlungen, fehlende Arbeitsverträge und Abfindungsforderungen waren die Themen, die die Belegschaft dazu brachten, sich an den ACFTU zu wenden – zunächst ohne Resonanz. Nach mehreren, ebenfalls erfolglosen Anläufen, mit dem Unternehmen zu verhandeln, habe die Belegschaft schließlich selbst eine gewerkschaftliche Interessenvertretung im Betrieb gegründet und, u.a. durch einen selbstorganisierten Streik, den Unternehmer auch an den Verhandlungstisch und zu einem Kompromiss gezwungen. Nach wie vor fehle aber die formale Anerkennung durch den Arbeitgeber – und auch das Verhältnis zur regional zuständigen Abteilung des ACFTU sei angespannt. Vom Dachverband hingegen wurde die Betriebsgewerkschaft anerkannt, mittlerweile ist sogar ein Artikel in der monatlich erscheinenden, chinaweit vertriebenen Gewerkschaftszeitschrift erschienen. Die Notwendigkeit der Verbreiterung solcher, von den Beschäftigten selbst gewählter betrieblicher Gewerkschaftsvertretungen vor Augen, jedoch ohne Vorstellung, wie dies angesichts des fehlenden Bewusstseins vieler Beschäftigter zu realisieren sei, habe er sich zur Gründung der Arbeitsrechts-Hotline entschlossen.

Diese Plädoyers für »Gewerkschaften neuen Typs«, gewerkschaftliche Eigeninitiativen und Gewerkschaftsneugründungen provozierten Nachfragen. Wie solle verhindert werden, dass auch diese neuen Gewerkschaften den reformistischen oder bürokratischen Gang aller Dinge gingen? Schließlich seien auch die traditionellen Gewerkschaften am Anfang revolutionär gewesen, so die Mitarbeiterin der »Heimstätte für WanderarbeiterInnen«. Im Hintergrund stand bei ihr allerdings die Suche nach »ewigen«, »nicht korrumpierbaren« Organisationsformen im o.g. Sinne.

Dass sich diese Frage nicht notwendig anschließen muss, sondern die Herausbildung von selbstorganisierten Zusammenhängen eine eigenständige Bedeutung als Lern- und Bildungszusammenhang und zugleich politische Artikulationsform haben kann, machten die Beiträge von den Vertretern des neu gegründeten Workers’ Centers Leverkusen und aus der Schweiz deutlich:

Die »Bewegung für ein Bleiberecht« in der Schweiz bildet hier eine Zwischenform, insofern sie sich einerseits als Teil der linken »Bewegung für Sozialismus« versteht, andererseits aber auch eigenständig agiert, um mit MigrantInnen gemeinsam Forderungen und Aktionen zu entwickeln, die an deren Situation ansetzen. Als Hauptproblem beschrieb David Soofali die Spaltungen innerhalb der MigrantInnenszene der Schweiz, in der – bei 7,8 Millionen EinwohnerInnen – geschätzt allein rund 200000 Undokumentierte leben. Eine Vielzahl unterschiedlicher Aufenthaltstitel, u.a. die Unterscheidung zwischen »politischen« und »ökonomischen« Flüchtlingen, sowie die »Dynamisierung«, d.h. die teils wöchentliche Verlegung von Flüchtlingen, erschweren den Kontakt zwischen den MigrantInnengruppen und zwischen diesen und den UnterstützerInnen. Aus zahlreichen Gesprächen und Bekanntschaften, die sich aus den Besuchen in Notunterkünften heraus entwickelt hätten, sei daher die Forderung nach einer Legalisierung entstanden. Zwar sei man weit entfernt von der Durchsetzung dieser Forderung, doch eine Reihe von Kirchenbesetzungen und vor allem die gemeinsame Besetzung des Parlamentsplatzes mit dem rund einwöchigen Camp dort hätten einen wichtigen Kontrapunkt in der Öffentlichkeit gesetzt (»Die Schweiz steht diskursiv an der Spitze der Fremdenfeindlichkeit«) – und, nicht zu unterschätzen: das Selbstbewusstsein unter den MigrantInnen gestärkt.

Auch Nikolaus Roth und Ingo Radermacher, als (ehemalige) Betriebsräte des Chemieunternehmens Bayer Leverkusen die Initiatoren des Leverkusener Zentrums, verstehen ihren Ansatz als Reaktion auf zunehmende Spaltungen, die sie zwischen Beschäftigten, Erwerbslosen und prekär Arbeitenden (darunter auch undokumentierte MigrantInnen) ausmachten. Allein über betriebliche Gewerkschaftsarbeit ließen sich diese nicht mehr auffangen, so ihre Erfahrung. Ihr Versuch, diese »drei Welten« in dem Zentrum miteinander ins Gespräch zu bringen, basiert auf dem Prinzip der »wechselseitigen Selbsthilfe« – deren Name »Wechselwirkung« ist insofern Programm. Zwar gehe es auch um ein »anderes Leben« und eine »andere, solidarische und selbstbestimmte Gesellschaft«, doch dies soll sich »aus den Interessen und Aktivitäten der NutzerInnen des Zentrums entwickeln« – oder eben auch nicht. Darin drückt sich die Vorstellung aus, dass diese anderen Formen von Vergesellschaftung bereits Arbeitsgrundlage des Zentrums und der Beziehungen zwischen den NutzerInnen selbst sein können, ohne dass hier Vorgaben gemacht würden.

In der gemeinsamen Debatte über die unterschiedlichen Ansätze schälten sich drei größere Frageblöcke heraus.

Verständigungsbedarf gab es zunächst hinsichtlich der Frage, in welcher Gesellschaft wir – in China und in Deutschland – leben: Handelt es sich um einen »noch nicht vollständig ausgebildeten« Kapitalismus in China, und geht es entsprechend darum, zunächst bürgerliche Rechte durchzusetzen, das Hukou-System abzuschaffen, das Koalitionsrecht einzufordern? Geht es überhaupt um ein Begreifen des gesellschaftlichen Ganzen – oder eher um spezifische Erscheinungsformen und Krisensymptome, wie etwa die Abwälzung von Krisenlasten auf Beschäftigte, die Rücknahme sozialstaatlicher Leistungen, die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen? Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, ergeben sich, so zeigte die Diskussion, unterschiedliche politische und praktische Implikationen und Schlussfolgerungen.

Eng damit zusammen hängt der zweite Frageblock, der sich um die Rolle der Gewerkschaften in dieser Gesellschaft gruppierte: Können diese noch, noch nicht oder nicht mehr ein adäquater Ausdruck von Interessenvertretung der Arbeitenden sein? Oder können sie dies aufgrund prinzipieller Zweifel, etwa an zentralistischen Großorganisationen, am Bürokratismus oder aufgrund ihrer fehlenden Unabhängigkeit gegenüber Staat und Kapital grundsätzlich nicht sein? Und sind diese Einwände überhaupt prinzipiell formulierbar – oder nicht selbst letztlich historische bzw. Erfahrungsurteile? So kontrovers die Einschätzungen hier ausfielen, so auffällig war, dass gerade diese Frage quer durch die chinesische und deutsche Teilnehmergruppe unterschiedlich beantwortet wurde. Der Vorstellung, den ACFTU durch Gründung gewerkschaftlicher Betriebsgruppen ›von unten‹ neu zu beleben und zu bestimmen, stand die rigide Ablehnung des ACFTU gegenüber – aus ähnlich prinzipiellen Überlegungen, wie sie einige deutsche Kollegen hinsichtlich der DGB-Gewerkschaften formulierten. Doch diese Position wiederum fand sich selbst durchaus nicht im Widerspruch zu der Vorstellung, eine gesellschaftliche Großorganisation »neuen Typs« entwickeln zu wollen. Gerade hier zeigte sich aber, wie viel Diskussionsbedarf in der »Organisationsfrage« noch steckt, um diese vom Kopf auf die Füße zu stellen. Denn, womit der dritte Frageblock zu Begriff und Konzepten der Selbstorganisation benannt wäre, die Frage nach »adäquaten Organisationen« verweist zurück auf das »Wozu« und damit auf gesellschaftstheoretische und politische Bestimmungen einerseits und das »Wie«, also die »Bildung« von Organisationen andererseits.

Gerade die Vorstellung, dass Selbstorganisierung oft nur Ausdruck eines Defizits, sei es in rechtlicher, gewerkschaftlicher oder staatlicher Hinsicht, oder eines »nur« ökonomischen Problems sei und dass die vorgestellten Ansätze insofern lediglich eine »vorübergehende Notlösung« auf dem langen Weg zu »richtigen« Organisationen seien, geht dabei oft mit der These eines »fehlenden Bewusstseins der Lohnabhängigen« einher, das wiederum den Charakter dieser Notlösungen erklären bzw. rechtfertigen soll. Oder, in den Worten einer Teilnehmerin: »Selbstorganisation ist ein Effekt der Unzufriedenheit mit Parteien und Gewerkschaften, aber nicht die Lösung«. Doch woran soll Bildung und Demokratisierung in der Perspektive gesellschaftlicher Selbstbestimmung – oder emphatisch »Volkssouveränität«, wie Teilnehmer formulierten – ansetzen, wenn nicht am jeweils Vorhandenen? Wie sie das tut und welches Verhältnis zwischen den an diesen Prozessen Beteiligten hergestellt wird, daran unterscheiden sich in der Tat die Konzepte.

Von hier ergab sich einerseits das Bedürfnis, den Zusammenhang zwischen solchen theoretisch-politischen Fragestellungen und den praktischen Konzepten bzw. Organisierungsansätzen weiter aufzuklären, und insofern auch das Bedürfnis nach einem kontinuierlicheren Austausch, etwa in Form von weiteren Besuchen oder Publikationen. Andererseits wurden aber auch eine Reihe konkreter Verabredungen getroffen, die etwa den Informationsaustausch über bestimmte Unternehmen und deren Zulieferketten im Automobil-, Elektronik und Textilbereich betrafen.

 

Kirsten Huckenbeck

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/11

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