Von Wisconsin lernen...

Über ägyptische Verhältnisse in den USA

in (08.06.2011)

Wisconsin war der Bundesstaat in den USA, der hiesigen Sozialstaatsreformern als Vorbild diente: Ganze Delegationen von Politikern fuhren nach Wisconsin, um sich bei den dortigen »Workfare«-Programmen Anregungen für hiesige Arbeitsmarktreformen zu holen. Im Frühjahr dieses Jahres fuhren andere Delegationen mit anderen Intentionen nach Wisconsin: Über zwei Monaten hielten »ägyptische Verhältnisse« den Bundesstaat in Atem, nachdem wilde Streiks gegen ein Haushaltssanierungsgesetz (»budget repair bill«) der regierenden Republikaner ausbrachen, mit dem diese die Bewältigung der Krisenlasten (ein aktuelles Defizit von 136 Millionen Dollar zzgl. eines prognostizierten Defizits von 3,6 Mrd. für die nächsten zwei Jahre) vor allem der lohnabhängigen Bevölkerung aufzubürden versuchten – mit rund achtprozentigen Lohnkürzungen für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes und Kürzungen bei Renten und Arbeitslosenversicherungen für alle. Besonders umstritten: die gesetzliche Einschränkung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie, mit der – wie in elf weiteren Bundesstaaten seit den letzten Wahlen 2010 – den Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes ihre auf dem »closed shop«-Prinzip basierende Form der Organisierung und das Recht auf regierungsunabhängige Lohnfindung beschnitten werden sollte, einschließlich einer staatlich verordneten Vorgabe, Lohnerhöhungen nur im Rahmen des Inflationsausgleichs zu dulden und bei Zuwiderhandlung die Nationalgarde gegen die Gewerkschaften einzusetzen. Damit hätten dann, wenn sich ähnliche Vorhaben in anderen Bundesstaaten durchsetzen, insgesamt 33 Bundesstaaten in den USA die »right to work«-Gesetzgebung eingeführt, nach der Beschäftigte das Recht haben, an der Gewerkschaft vorbei einen auf individueller Basis ausgehandelten Job in einem gewerkschaftlich organisierten Unternehmen anzunehmen. Das senkt die Kosten für die Unternehmen und zersetzt mühsam errungene gewerkschaftliche Kollektivvereinbarungen. Eben dieses liberal interpretierte »Recht auf Arbeit« wurde, allen Protesten zum Trotz, mit einem juristischen Trick nun auch in Wisconsin verabschiedet. Aus der Phase kurz vor dieser Entscheidung dokumentieren wir den folgenden Beitrag von Jane Slaughter, Arbeitswissenschaftlerin und Redakteurin der Labor Notes. In der nächsten Ausgabe werden wir mit der Frage: »Was bleibt vom Wind of Change in Wisconsin?« anschließen:

In Wisconsin herrscht aktuell bei Einheimischen wie Besuchern das Gefühl vor: »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Die dortige Revolte ist die beeindruckendste Antwort der US-amerikanischen Beschäftigten auf die Offensive der Arbeitgeber seit deren Beginn vor rund 30 Jahren – bemerkenswert aufgrund ihrer hohen Beteiligungszahlen, ihrer Dauer und aufgrund der spontan entstandenen Koalition zwischen Beschäftigten, StudentInnen und BürgerInnen. Die riesige Unterstützung von Seiten nicht gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter unterscheidet sie von den meisten anderen Arbeitskämpfen. Mit dem Beharren der Be-schäftigten auf dem Recht mitzureden, wenn es um ihre Arbeitsbedingungen geht, kommt in dieser Revolte die Existenzbasis der Gewerkschaftsbewegung zum Ausdruck. Streik und Demonstrationen für ImmigrantInnenrechte am 1. Mai 2006 hatten eine höhere Beteiligung, aber die aktuellen Aktionen waren nachhaltiger. Die Revolte von Wisconsin hält für die GewerkschafterInnen, die im ganzen Land unter Druck stehen, jede Menge Lektionen bereit.

Was gemacht wurde

Am Anfang stand die Macht eines Streiks. Der illegale zweitägige Streik der LehrerInnen im Bundesstaat bereitete die Bühne für alles, was danach geschah. Der Streik hat nicht bloß Massen in das Kapitol, den Regierungssitz von Wisconsin in der Hauptstadt Madison geführt, sondern von Anfang an gezeigt, wie massiv der Widerstand gegen die Attacke von Gouverneur Scott Walker auf die Gewerkschaftsrechte ist. Hunderte von Highschool-SchülerInnen traten in Madison in Streik. Großdemonstrationen bevölkerten wiederholt die Hauptstadt. An den zwei wichtigsten Samstagen waren jeweils über 100000 Menschen auf der Straße.

Diese Demonstrationen und Hunderte anderer Aktionen gaben 14 Abgeordneten der Demokraten das Rückgrat, den Staat zu verlassen und drei Wochen wegzubleiben.[1]

Eine beeindruckende Menge von Gewerkschaftsmitgliedern aus dem privaten Sektor schloss sich ebenso an wie von Walkers Gesetz nicht betroffene Feuerwehrleute und PolizistInnen. Ihre Beteiligung entspricht der Definition von Solidarität.

Die Besetzung des Kapitols von Wisconsin, organisiert von der Gewerkschaft des Lehrpersonals, hat einen befreiten Raum geschaffen. »Mich hat Ehrfurcht ergriffen vor diesem mächtigen Aufbrausen der Demokratie. Das hat auch mich verändert«, sagten Besucher wie Miya Williamson, Beschäftigte im öffentlichen Sektor von Michigan.

Es war nicht nur Madison. Demonstrationen blühten überall im Bundesstaat auf. In Gays Mills, einem Ort mit nur einer Straße und nicht mehr als hundert Menschen, strömten die BewohnerInnen zahlreich zur Versammlung in ein Restaurant, um ihren Senator mit ihren Protesten zu konfrontieren. In Black River Falls (3366 Einwohner) ließen es sich die Gewerkschafter nicht nehmen, Transparente von einer Brücke zu hängen und die Autofahrer zum Hupkonzert aufzufordern, immer 150 auf einmal. Ältere BewohnerInnen organisierten sich als Graue Panther und veranstalteten Flashmobs, am ersten Tag 50 Leute, vier Tage später 150. In den ersten Tagen nahmen die DemonstrantInnen Slogans der Freiheitsbewegungen in Nordafrika auf und verglichen Walker auf Plakaten mit Mubarak. Ägypter nahmen den Ball an und schickten Geld für Pizza.

Quer durch die Vereinigten Staaten versammelten sich Zehntausende in den jeweiligen Hauptstädten, um Wisconsin mit Kundgebungen zu unterstützen. Im weit entfernten Richmond/Kalifornien bezog z.B. der Stadtrat für die eigenen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst Stellung und beschloss, die Rechte der Beschäftigten in Wisconsin auf Kollektivverhandlungen zu unterstützen. Delegationen strömten nach Madison, um an den Geschehnissen und der Atmosphäre teilzuhaben. Gleichzeitig demonstrierten Beschäftigte wiederholt zu Tausenden in und vor den Parlamentsgebäuden von Indiana und Ohio.

Die Öffentlichkeit reagierte mit Sympathie. Eine Bloomberg-Umfrage ergab landesweit 64 Prozent Unterstützung für das Recht der Beschäftigten im öffentlichen Sektor auf Kollektivverhandlungen. 72 Prozent der Befragten gaben außerdem an, eine gute Meinung von den Staatsangestellten zu haben.

Es scheint, dass die meisten Menschen nach Jahrzehnten von Lohnkürzungen, Entlassungen, Kürzungen bei Dienstleistungen und zunehmender Öffnung der sozialen Schere für gewerkschaftlich organisierte wie für nicht organisierte Beschäftigte einfach froh waren zu sehen, dass sich jemand wehrte.

Total Recall: die totale Absetzung

Die Beschäftigten von Wisconsin sind stolz auf ihr Engagement, ihre Energie, ihr Durchhaltevermögen und die Friedlichkeit ihrer Proteste. Bemerkenswert ist auch, dass die Gewerkschaftsführungen in den ersten Wochen nicht versucht haben, den Kampf einzugrenzen. Selbst die Engstirnigsten haben scheinbar gemerkt, dass Beschäftigte, die selbstbewusst für ihre Anliegen einstehen, den Gewerkschaften wieder zu mehr Popularität verhelfen. Angesichts nachlassender gewerkschaftlicher Macht konnten sie sehen, dass es mit der umfassenden Mobilisierung gelungen ist, Republikaner und Demokraten in Atem zu halten. Als die AFL-CIO eine Petitionsinitiative[2] zur Absetzung von acht republikanischen Senatoren startete, versuchten die Funktionäre nicht, alle Aktivitäten auf diese Kampagne zu verlagern – was zweifellos auch schwierig gewesen wäre. Die Mobilisierung für die Sammlung der erforderlichen Unterschriften rückte nur deshalb stark in den Fokus, weil die Basis dafür sorgte.

Karl Gartung, Vertrauensmann des Teamsters-Locals 344 in Milwaukee, berichtet, die Leute hätten sich massenhaft selbst für die Kampagne »rekrutiert«, und zwar in einer Stimmung, die er als«reine freudige Wut« beschreibt. Inzwischen bedienen sich die Republikaner nach Informationen der Demokraten der Gelder der milliardenschweren Koch-Brüder, um ihre Stimmenwerber zu bezahlen.

Bis zum 14. März hatten die Unterstützer der Recall-Kampagne in drei Senatsbezirken über die Hälfte der benötigten Unterschriften eingesammelt; und die Frist endet erst am 1. Mai.[3] Der Recall-Initiative folgten bald Druckkampagnen gegen diejenigen Banken und Unternehmen, die in Wisconsin das rechte Lager finanzieren. Feuerwehrleute bilden die Speerspitze der Kampagne »Move Your Money«, die Kunden dazu aufruft, ihr Geld von der Bank M&I abzuziehen, einer zentralen Walker-Unterstützerin (die diesem sogar gestattet hatte, ihren privaten Tunnel zu benutzen, um sich vor der Menschenmenge am Kapitol zu verdrücken).

»Nukleare Option«

Nachdem sich der Senat des Staates Wisconsin am 9. März für die »nukleare Option«[4] entschieden und eine entsprechend auf diesen Kernpunkt reduzierte Version des Gesetzes zur »Budgetsanierung« verabschiedet hatte, schien dennoch niemand auf Gewerkschaftsseite bereit, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Mary Bell, Vorsitzende der staatlichen Lehrergewerkschaft WEAC, die ihre Mitglieder drei Wochen zuvor zum Ausstand aufgerufen hatte, beschied diesen nun, wieder arbeiten zu gehen.

Eine Gewerkschaftsbewegung ohne Erfahrung mit offenem Widerstand hatte bemerkenswerte Schritte gewagt – aber jetzt entschied sie sich doch für Vorsicht, da sie die Konsequenzen nicht abschätzen konnte und den Verlust der öffentlichen Unterstützung nicht riskieren wollte. Niemand war auf diesen Moment vorbereitet gewesen. Würde Walker, der selbst ernannte Nachfahre von Ronald Reagan, Streikende feuern? Würde sich die öffentliche Meinung abwenden? Jim Cavanaugh, Vorsitzender der Madison’s South Central Federation of Labor, sagt: »Um es richtig zu machen, ist eine sorgfältige Vorbereitung nötig. Man setzt die Leute der Möglichkeit von Arbeitsplatzverlusten und weiteren Folgen aus, wenn man nicht die erforderlichen Schritte unternimmt.«

* Jane Slaughter ist Mitgründerin der US-Zeitschrift Labor Notes, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Fragen der Gewerkschaftsbewegung und hat das Troublemaker’s Handbook II veröffentlicht.

Übersetzung: Anne Scheidhauer

Kollektivverhandlungsrechte: Eine Frage des Geldes[5]

Die Abgeordneten der Regierung von Wisconsin haben es nicht deshalb auf die Kollektivverhandlungsrechte abgesehen, weil sie die arbeitende Bevölkerung hassen. Ach was, manche ihrer besten Dienstmädchen gehören zur arbeitenden Bevölkerung. Nein, sie wollen die Tarifverhandlungsrechte der staatlichen Beschäftigten loswerden, um Geld zu sparen. Sie wollen die Staatsausgaben und die Steuern für Unternehmen und Reiche senken – in anderen Worten: den Beschäftigten Geld aus der Tasche ziehen und es den Reichen geben.

Allerdings behaupten Gewerkschaftsführer in Wisconsin häufig, Tarifverhandlungsrechte seien gar keine Frage des Geldes. Sie sagen: Die Mitglieder würden Lohnkürzungen hinnehmen, um dem Staat auszuhelfen, solange sie ihre Tarifverhandlungsrechte behalten dürfen, was wiederum gar nichts kosten würde.

Das ist falsch. Tarifverhandlungen haben die Steuerzahler im Laufe der Jahre Geld gekostet. (Wenn auch nicht allzu viel: Studien zeigen übereinstimmend, dass Beschäftigte der öffentlichen Hand etwas weniger verdienen als Beschäftigte im privaten Sektor mit ähnlicher Erfahrung und Ausbildung.)

Ein Tarifvertrag kostet den Arbeitgeber Geld, denn in normalen Zeiten sorgt er für höhere Löhne und Leistungen. Dienstalter kostet auch Geld. Z.B. müssen Arbeitgeber bei Entlassungen die dienstälteren, besser bezahlten Beschäftigten behalten. Bei Entlassungen müssen sie die Verdrängung jüngerer Beschäftigter durch ältere erlauben, was Umschulungskosten für die älteren Beschäftigten mit sich bringt.

Scott Walker denkt, dass Errungenschaften der Gewerkschaften wie ergonomische Arbeitsplätze und Regelungen über erlaubte Temperaturen am Arbeitsplatz absurd sind. Er kann keinerlei Einmischung in die individualisierte, gemeine Pfennigfeilscherei ertragen, von der die Bosse nur die Finger lassen, wenn ihnen die Gewerkschaften darauf klopfen.

Wenn Gewerkschaftsführer sagen, dass Tarifverhandlungen keine höheren Kosten verursachen, bestätigen sie damit, dass Konzessionen in Ordnung sind – oder Gewerkschaften ohnmächtig.

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/11

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express


[1] Ein Gesetzgebungs- bzw. Gesetzänderungsverfahren kann im Parlament von Wisconsin nur begonnen werden, wenn zu Beginn 75 Prozent der Abgeordneten anwesend sind. Nach der »Flucht« von 14 demokratischen Abgeordneten über die Staatsgrenze, wo sie für die Polizei von Wisconsin nicht mehr erreichbar waren, wurde diese Quote um genau eineN AbgeordneteN unterschritten.

[2] Gegenstand der Petition ist die Durchführung eines Volksentscheides, in diesem Fall zum Thema Absetzung von Abgeordneten. Um zu erreichen, dass ein solcher Volksentscheid durchgeführt wird, muss die Petition von einer bestimmten Anzahl BürgerInnen des jeweiligen Bezirks unterschrieben werden (25 Prozent der bei der letzten Wahl abgegebenen Stimmen).

[3] Aktuell sind sechs Recall-Petitionen erfolgreich beendet. Es konnten jeweils Tausende Unterschriften mehr als benötigt gesammelt werden, siehe: http://wisconsinrecall.net/blog/

[4] Die »nukleare Option« nutzten Scott Walker und seine republikanischen Senatoren, um das Gesetz auch ohne die vorgeschriebene Anwesenheitsquote von 75 Prozent der Senatoren und damit komplett ohne demokratische Senatoren durchzupeitschen. Der Trick bestand darin, die Regelungen zu den Gewerkschaftsrechten von den restlichen Bestandteilen des Sparpakets zu trennen und zu behaupten, sie seien nicht fiskalischer Natur. Denn damit reichte die einfache Mehrheit im Senat, um das Gesetz zu verabschieden.

[5] Sind Kollektivverhandlungsrechte eine Sache des Geldes und damit »fiskalischer Natur« – oder nicht? Das spielt (auch) eine Rolle bei der Beurteilung der Frage, ob die »nukleare Option« des Senats von Wisconsin (siehe vorangegangene Fußnote) formal zulässig war oder nicht.