Kolkata

In den Slums einer Megacity

Kolkata (ehemals Kalkutta) ist eine Stadt der Extreme, geprägt von vielschichtigen Gegensätzen und Widersprüchen. Fernab von Bollywood, Goa-Parties und Indien-Romantik stehen hier Überlebenskampf, Solidarität und Ignoranz eng nebeneinander.


Meditation auf einer Müllkippe

 

Im Randgebiet von Kolkata ist in Liluah an einer Mülldeponie ein weitflächiger Slum entstanden. Krähen kreisen über dem Gelände. Einige frei umherlaufende Schweine reißen eine Tüte mit einem schwer definierbaren Inhalt auseinander.

Beladene Laster rollen den un­befestigten Weg entlang und hinterlassen Sandwolken in der ohnehin schon völlig staubigen, schweratmigen Luft. Dazwischen suchen Kinder im Müll nach Plastik, Papier oder anderen noch verwertbaren Materialien, um sie dann zu einem Minimalbetrag an einen Zwischenhändler weiterzuverkaufen.

Wer eine Megacity wie Kolkata zumindest ansatzweise von In­nen heraus kennen lernen will, der sollte den Reiseführer mit den Beschreibungen der kolonialen britischen Prachtbauten zur Seite legen und sich auf die Suche nach den eigentlichen Gesichtern der Stadt machen.

Zweifellos entsprechen die Mülldeponien und die umgebenden Slums nur einer Seite der Stadt. Doch gerade hier finden auf einer lokalen Ebene ganz unmittelbar die globali­sierten Mechanismen sozialer Ausbeutung und ökologischer Zerstörung einen Ausdruck.

Für einen Außenstehenden gleicht ein bewusstes Eintauchen in die Atmosphäre der Mülldeponien und Slums einer urbanen Meditation, die keinen Tempel sucht und keinem imaginären Gott huldigt, sondern sich in die konkrete Erfahrung begibt. Eine Erfahrung, die für unzählige Menschen auf diesem Erdball der alltäglichen Re­alität entspricht.
Unter dem Staub ein Lächeln

Die Behausungen in den Slums bestehen zumeist aus Blech- und Holzplatten, über die an ei­nigen Stellen löchrige Planen gezogen sind. Alles ist von einer grauen Staub- und Schmutzschicht überzogen. An einer Hütte ist darunter noch ein Verkaufsslo­gan und ein breit lächelndes Gesicht zu erkennen, das klar macht, dass diese Abtrennwand einst zu einem großformatigen Werbebanner gehörte. Im Inneren befinden sich kaum mehr als ein Gestell mit einigen Tüchern als Schlafplatz, einige Gebrauchsgegenstände und als farbenfroher Gegensatz zur sonstigen Umgebung spirituelle Bilder. Es gibt weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom. Beißender Smog durchzieht die gesamte Stadt. Insbesondere in den ärmeren Vierteln von Kol­kata sind die Straßen von Müll übersät. Eine Entsorgung von Seiten der Stadt ist bestenfalls eingeschränkt gegeben. Öffentliche Müllbehältnisse sind nicht vorhanden, stattdessen bilden sich in den Straßen teilweise Müllhaufen, die dann wieder von SammlerInnen durchwühlt werden.

Offensichtlich ist, dass ein ökologisches Bewusstsein kaum vorhanden ist bzw. in Anbetracht der umgebenden Bedingungen gegebenenfalls auch nur eingeschränkt umgesetzt werden kann. Ein funktionierendes Wassersystem besteht in vielen Stadtteilen bestenfalls ansatzweise. Die künstlichen Rinnsale direkt am Straßenrand werden glei­chermaßen zur Hygiene, zum Waschen von Geschirr und Kleidung, teilweise auch als Toilette, sowie oftmals auch zur Abschöpfung von Trinkwasser genutzt. Entsprechend gehören vielfältige Erkrankungen zu den zwangsläufigen Folgen.

Auffallend ist immer wieder die Genügsamkeit, mit der in Indien zumeist derartige Lebenswelten angenommen werden. Verwurzelt ist sie in den religiösen Annahmen, dass das derzeitige Leben nur eines von vielen ist. Die besondere Ausgestaltung der derzeitigen Existenz sei wesentlich vom vorherigen Leben mitbestimmt und beeinflusse wiederum zukünftige Wiedergeburten. Diese Grundhaltung eröffnet zum Teil eine beachtliche Gelassenheit und innere Ausgeglichenheit. Sie führt jedoch zum Teil auch in eine Schicksalsergebenheit, die notwendige gesellschaftliche Veränderungen vernachlässigt bzw. die Möglichkeit eines besseren Le­bens auf einer persönlichen Ebene in nächste Inkarnationen verlagert. Inzwischen leben wohl weit über 15 Millionen Menschen in Kolkata und den diversen Randgebieten. Auf den ersten Blick gleicht die Stadt einem riesigen Chaos, wobei insbesondere die Slums unüberschaubar erscheinen. Doch gerade hier haben sich vielfältige gemeinschaftliche Strukturen herausgebildet. Getragen werden sie auf vielen Ebenen von gegenseitiger Hilfe und Solidarität, wie auch von Improvisation, Genügsamkeit und einer grundlegend positiven Lebenshaltung. Fließend sind jedoch die Übergänge zu Bereichen, in denen der ständige Überlebenskampf vom Recht des Stärkeren bestimmt wird.

Die verkaufte Revolution

In den ärmeren Vierteln findet sich vielfach das rote Hammer-und-Sichel-Symbol an den Hauswänden. In Kolkata bzw. im Bundesstaat Westbengalen mit seinen rund 90 Millionen EinwohnerInnen steht es jedoch nicht nur für Untergrund-Gruppen, sondern insbeson­dere für die „Communist Party of India (Marxist)", die dort über dreißig Jahre lang regierte. In keinem anderen Land gelang es einer kommunistischen Partei in freien demokratischen Wahlen über einen vergleichbar langen Zeitraum immer wie­der gewählt zu werden. Bei den Wahlen im April und im Mai 2011 erlitt sie nun jedoch eine klare Niederlage. Deutlicher Sieger wurde der „Trina­mool Congress" um Mamata Banerjee, der Eisenbahnministerin Indiens, die mit der reaktionären Parole „Maa, Mati, Manush" („Mutter, Land, Volk") angetreten war. Von der einstigen revolutionären Kraft der Kommunistischen Partei oder gar von der Vision einer tatsächlich gerechten Gesellschaft war jedoch schon lange kaum etwas übrig geblieben. Die Partei verwies zwar auf Fortschritte hinsichtlich einer gerechteren Landverteilung und der Bekämpfung der Armut, doch faktisch erinnerte gerade in Kolkata die reale Politik eher an sozialdemokratische oder neoliberale Positionen. So lag ein Schwerpunkt in der Entwicklung einer betont inves­titionsfreundlichen Atmosphäre, um über neue Arbeitsplätze und erhöhte Steuereinnahmen zu einem Aufschwung der Stadt bzw. des Bundesstaates beizutragen. Dies führte dazu, dass para­doxerweise die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei von multinationalen Konzernen ausdrücklich gelobt wurde, während sich sozial engagierte Basisgruppen von der Partei ausdrücklich distanzierten. Die gegenläufigen Entwicklungen fanden 2007 bei den Auseinandersetzungen um die Errichtung einer „Special Econo­mic Zone" in der Provinzstadt Nandigram einen tragischen Höhepunkt. Große Teile der Be­völkerung wehrten sich gegen Landenteignungen zugunsten eines Unternehmens, das unter anderem den Bau einer Chemiefabrik plante. Der Widerstand wurde auf Anordnung der Kommunistischen Partei durch bewaffnete Polizeikräfte gewaltsam niedergeschlagen. Vierzehn AktivistIn­nen der Potestbewegung kamen dabei zu Tode. Unabhängig von der politischen Ausrichtung der regierenden Parteien krankt das politische System in Indien in weiten Teilen an Machtmiss­brauch, Korruption und Vetternwirtschaft, sowie an einer Ignoranz gegenüber ökologischen Aspekten. Insbesondere die Veränderungsprozesse, die in den Slums eine Bedeutung erlangen, werden zumeist nicht von den Parteien angestoßen, sondern vielmehr von den Graswurzelprojekten, die an der Basis vor Ort aktiv sind.

sex-worker and street artists

Zu den größten Graswurzelgruppen gehört die in der Mitte der 1990er Jahre gegründete Organisation Durba, der in Westbengalen rund 65.000 Sex-ArbeiterInnen angehören. Inzwischen kann Durba auf eine Reihe von Erfolgen blicken. So gelang es durch AIDS-Aufklä­rungskampagnen und ein geschlossenes Auftreten, den lange von den meisten Freiern abgelehnten Gebrauch von Kondomen zu einer Selbstverständlichkeit zu machen. Eingerichtet wurden besondere Angebote für Sex-ArbeiterIn­nen in den Bereichen Gesund­heitsversorgung, Kinderbe­treuung und Kultur, sowie unter anderem auch zur Geldver­waltung. Zudem förderte der Zusammenschluss eine grundlegende Soli­darisierung, wie auch die Entwicklung eines gestärkten Selbstbewusstseins. So gehen Durba-AktivistInnen inzwischen im Rotlichtviertel von Kolkata auch militant gegen gewaltsame Freier oder Zu­hälter vor. Zentral für die Entwicklung Kolkatas ist der Bereich der Bildung. Hier spiegeln sich be­sonders deutlich die sozialen Gegensätze, die für ganz Indien charakteristisch sind, wider. Während Kolkata inzwischen zu den führenden Städten der IT-Branche in Indien zählt, haben viele Slum-BewohnerIn­nen kaum Rechen- und Schreibkenntnisse.

Die Analphabetenrate liegt bei rund 20 Prozent.

Solange das staatliche Schulsystem nur einen begrenzten Teil der Bevölkerung erreicht, sind gerade in den Armenvier­teln der Stadt Bildungsprojekte von großer Bedeutung, die von Basisgruppen und Hilfsorgani­sationen getragen werden.

So konzentriert sich das Projekt „H.E.L.G.O. - Help for Education and Life Guide Organisation" auf Kinder, die zum Teil schon ab dem achten Lebensjahr arbeiten müssen. Das Projekt erstattet den Familien den geringen, aber lebensnotwendigen Lohn unter anderem in Form von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern unter der Bedingung, dass die Kinder nicht mehr arbeiten müssen und stattdessen regelmäßig zur Schule gehen. Unter dem Motto „Art for Positive Change" organisiert Magic Wallrush in Kolkata kulturelle Projekte, die in den öffentlichen Raum eingreifen. So organisierte die Gruppe eine Ausstellung mit Werken junger, engagierter KünstlerInnen, die direkt in einer Straße an Zäumen, Absperrungen und Hauswänden aufgehängt wurden. Die Mitglieder von Magic Wallrush gehören auch zu den Initi­atorInnen des Ujaan-Festivals, das dem Erhalt der für das Ökosystem äußerst wichtigen Sun­darbans-Mangrovenwälder gewidmet ist. Neben Auftritten von Bands stehen auch gemeinsame Entmüllungsaktio­nen in stark verunreinigten Ab­schnitten, sowie die Unterstützung von lokalen Gesundheits- und Bildungsprojekten auf dem Programm. Das Festival zielt dabei im Sinne von „Party and Politics" auf die Stärkung des öffentlichen Bewusstseins hinsichtlich ökologischer Aspekte unter der Berücksichtung so­zialer Fragen. Wie alle anderen Megacitys der Gegenwart beheimatet Kolkata unzählige soziale und ökologische Abgründe. In den vielfältigen Graswurzelprojekten finden sich jedoch auch immer wieder die Visionen der Veränderung.

Wolfgang Sterneck

Kontakt: www.sterneck.net

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 360, 40. Jahrgang, Sommer 2011, www.graswurzel.net