neue Formen von dissidenz entwickeln!

Simon Critchley im Interview

prager frühling: Simon, dein Buch „Unendlich fordernd: Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands“ beginnt mit dem Befund, dass ein Motivationsmangel in der Politik zu beobachten ist.

Simon Critchley: Ich beginne mit einer Zeitdiagnose. Aktuell sind die liberalen Demokratien durch ein Motivationsdefizit gekennzeichnet. Die Menschen empfinden eine wachsende Entfremdung von der Staatspolitik und traditioneller Parteipolitik. Die Zahl der Parteimitgliedschaften nimmt ab. Ich beginne mit dem Befund, dass die Institutionen und Praktiken liberaler Demokratien oberflächlich verbindlich sind, aber nicht von innen her Bindungen produzieren. Es gibt einen Mangel an Verbindlichkeit. Das Ergebnis: Wir erleben eine wachsende Unzufriedenheit mit normaler Politik. Dies führte zu einer Reihe von Phänomenen: Auf der Rechten führte es zu neuen Formen einer atavistischen, rückwärtsgewandten, reaktionären Politik, die sich auf die Feindschaft gegenüber Migrant_innen gründet. Da gibt es eine starke Welle beispielsweise in den Niederlanden und in Dänemark und neuerdings wieder in Deutschland. Auf der Linken sind Motivationsmangel, aber auch motivierte Leute zu beobachten, die auf die nicht-gouvernementale direkte Aktion setzen. Ich denke da vor allem an die globalisierungskritische Bewegung. Der Motivationsmangel ist also zweischneidig: Wir haben wachsende Entfremdung auf der Ebene des Staates und der Regierung, aber das öffnet ebenso neue Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit für neue Formen politischer Praktiken in Distanz zum Staat.

pf: Was meinst du mit diesen neuen Formen der Politik?

Critchley: Für mich geht es bei Politik um die Herstellung einer interstitiellen Distanz. Aber ich plädiere nicht für einen Rückzug aus der Politik.

pf: Also kein Exodus?

 Critchley: Exakt. Wegrennen geht nicht. Der Motivationsmangel der Menschen in Bezug auf den Staat geht Hand in Hand mit einer sich verschärfenden Sicherheitspolitik. Der vorherrschende Signifikant in der gegenwärtigen Politik ist die Sicherheit. Der Staat wird immer allgegenwärtiger. In diesen Zeiten muss es linker Politik darum gehen, neue Formen der Dissidenz und des Ungehorsams zu entwickeln. Sie sollte neue Möglichkeitsräume durch gemeinsames Handeln eröffnen. Wenn wir eine Gesellschaft ohne Staat haben könnten, wäre ich dafür. Wir brauchen neue Vokabulare der Dissidenz und des zivilen Ungehorsams.

pf: In deinem Buch beziehst du dich aber durchaus auch auf Kämpfe innerhalb des Staates. Wie stellst du dir eine Überwindung des Horizonts traditioneller Staatspolitik vor und was ist unendlich fordernd daran?

Critchley: Der Staat ist eine Realität. Eine Realität, die das Alltagsleben prägt. Eine Begrenzung menschlicher Existenz. In diesem Sinne bin ich ein altmodischer Anarchist. Was mich politisch interessiert, sind Bewegungen, die mit einer partikularen, endlichen Forderung beginnen. Sagen wir Bildungsfragen: Sollen die Leute Studiengebühren zahlen oder nicht? Bei der Herausbildung einer solchen Bewegung kommt nun etwas Unendliches ins Spiel. Denk an den Mai 1968 und den Prager Frühling. Was damals artikuliert wurde, war eine Politik, die die Situation in Frankreich oder Deutschland überschritten hat und die Möglichkeit einer transnationalen Koalition unterschiedlicher Gruppen eröffnete. Aus meiner Perspektive ist es unendlich fordernd, die Bereitschaft unter Aktivisten herzustellen, gemeinsam zu handeln. Man braucht ein Gespür dafür, was pragmatisch möglich ist, aber gleichzeitig das Gespür dafür, etwas Unendliches, potentiell Revolutionäres zu schaffen. Ein Beispiel, das mich interessiert, ist in welcher Weise Riots und Proteste in einem Land auf andere Länder übergreifen. In Griechenland beispielsweise gibt es einen direkten Konflikt zwischen dem Staat, der unter dem Imperativ des internationalen Kapitals steht, und den Protestierenden. Und es ist die Frage, inwieweit sich das griechische Beispiel ausweitet und andere Bewegungen daran anknüpfen.

pf: Neuerdings spekulierst du über den Rückgang der globalisierungskritischen Bewegung und eine neue Phase sozialer Kämpfe. Worauf zielst du dabei?

Critchley: Das ist wirklich nur Spekulation. Die globalisierungskritische Bewegung wollte neue Formen der Sichtbarkeit produzieren. Sie war nicht um einen klaren ideologischen Entwurf organisiert. Die unterschiedlichen Gruppen sammelten sich um den Befund, dass der globale Kapitalismus falsch ist. Da steckt eine gewisse Vagheit drin. Politik besteht für mich darin, – und hier bin ich Schüler Antonio Gramscis –unterschiedliche Gruppen zusammenzuführen, Gruppen mit unterschiedlichen Interessen. Beispielsweise Gruppen, die für höhere Löhne kämpfen mit migrantischen Grupppen. Das ist das, was Gramsci „Hegemonie“ nannte. Es scheint mir so, als ob sich etwas verschoben hat. Ich denke an das „comité invisible“ und die Politik der Neo-Insurrektionisten. Die globalisierungskritische Bewegung nutzte das Internet als Befreiungsinstrument. Aber die neuen politischen Ansätze kultivieren keine Sichtbarkeit, sondern Unsichtbarkeit, Anonymität, Undurchsichtigkeit, eine Politik der Sezession und der Sabotage. Vielleicht macht das zum gegenwärtigen Zeitpunkt Sinn. Das Risiko ist natürlich damit im Nirgendwo zu enden.

pf: Auf der anderen Seite sagst du: Wir brauchen eine Art Organisation. Wie lässt sich Unsichtbarkeit organisieren?

Critchley: Ich beobachte eine Rückkehr der politischen Pamphlete. Studentische und aktivistische Gruppen stellen nicht mehr all ihren Kram einfach ins Internet. Das Internet ist ein Sicherheitsapparat. Es macht alles sichtbar. Diese neuen Gruppen sagen: OK, wir beginnen wieder damit, billig hergestellte Flugblätter zu produzieren und geben sie von Hand zu Hand weiter. Generell sind wir so besessen von Zahlen: Je größer die Zahl, desto besser. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle mehr über unsere Praktiken nachdenken. Vielleicht sind wenige Leute, die quasi unsichtbar, an den Rändern des Staates arbeiten, zurücktreten und nachdenken, die bessere Herangehensweise.

pf: Wie würdest du diese staatsferne Politik auf die staatsnahe Linke beziehen. Gibt es Möglichkeiten von Kooperation und Resonanzen?

Critchley: Ich glaube, dass es sie gibt. Es gibt natürlich eine Linke, die eine dauerhafte Liebesbeziehung zum Staat unterhält. Ich denke an Bakunin zurück. Als er und die Anarchisten aus der ersten Internationalen ausgeschlossen wurden, entwickelte er eine ernstzunehmende Kritik am Marxismus. Er sagte, dass Marx und die Marxisten „Krypto-Bismarckianer“ seien, gute Deutsche. In einem gewissen Sinne war die deutsche Linke immer „krypto-bismarckianisch“. Wenn ich so rumreise, nicht nur in Deutschland, auch in Dänemark, den Niederlanden oder Schweden, stelle ich eine Unfähigkeit fest, außerhalb des Staates zu denken: Die Welt ist nicht perfekt, aber es gibt Errungenschaften und wir sollten mehr oder weniger glücklich damit sein. Aber das hängt davon ab, welche politische Geographie und welches Geschichtsverständnis man hat. Die dominante Tradition in Westeuropa und den USA ist sozialdemokratisch und marxistisch geprägt, aber es gibt auch andere. Da ist eine slawisch-russische-südeuropäische Tradition des Anarchismus, die beispielsweise bei den Anarcho-Syndikalisten im spanischen Bürgerkrieg stark gewesen ist. Wenn man eine andere Sicht auf die Geschichte hat, kann man eine starke Traditionslinie identifizieren. Sie beginnt im Mittelalter und zieht sich über die englische und französische Revolution, die utopischen Linken des 19. Jahrhunderts bis hin zu Gandhi und Martin Luther King. Da ist eine starke anarchistische Traditionslinie.

 Das Interview führte Kolja Möller.