Sicherheitsfragen

Die „Münchner Sicherheitskonferenz“ hat eine lange Tradition. Sie entstand 1962 als „Wehrkundetagung“, auf der wichtige Einschätzungen der internationalen Lage und für die NATO-Politik zu ziehende Schlussfolgerungen formuliert werden. Hochrangige Militärs und Politiker diskutieren, beschlossen wird nichts, aber doch an Positionen gearbeitet. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde der Titel in internationale „Konferenz für Sicherheitspolitik“ verändert und die Teilnehmerliste um hochrangige Personen aus Russland, China und jüngst auch aus arabischen Ländern ergänzt. Das politische und Themenspektrum im Feld zwischen Politik und Militär blieb, und so auch der Protest der Friedensbewegung gegen diese Art von Veranstaltung.
Das Magazin Focus hat die diesjährige Konferenz, die immer Anfang Februar stattfindet, mit einiger Ironie darzustellen versucht. Unter der Überschrift: „Hummer und Lachs für eine sichere Welt“ wurde mitgeteilt, dass es allerlei Überraschungen gegeben habe: Außenminister wurden ohne Bodygards gesichtet, zugleich mussten Minister, wie der für das Militär in den USA seit kurzem zuständige Leon Panetta, in der Schlange warten, weil sie von dem bayerischen Sicherheitspersonal nicht erkannt wurden. Zur Protestdemonstration waren 5.000 Demonstranten angemeldet worden, gekommen waren 800, als der Protestzug am Marienplatz ankam, waren es noch 50. Liedermacher Konstantin Wecker sei nach dem dritten Lied frustriert verschwunden. Kurzum, nichts sei mehr wie früher, weder die Sache als solche noch der Protest. Aber immerhin sei es um „eine sichere Welt“ gegangen, vor allem bei denen, die sich an Hummer und Lachs labten.
Aber kann die mediale Banalisierung des Geschehens bereits Anlass sein, friedenspolitisch Entwarnung zu geben? Der vorherige Militärminister der USA, Robert Gates, hatte im Juni 2011 in einer „Abschiedsrede“ an die NATO in Brüssel erklärt, die Allianz sehe einer „trüben, wenn nicht gar trostlosen Zukunft“ entgegen. Die Militärorganisation habe Schwierigkeiten, trotz zwei Millionen „nichtamerikanischer Soldaten“ 25.000 Mann in Afghanistan im Einsatz zu halten. Bald nach Beginn des Libyen-Krieges sei bei vielen Kriegsteilnehmer-Staaten die Munition knapp geworden. Die USA hätten weiter gerüstet, die europäischen NATO-Staaten jedoch ihre Potentiale nicht vergleichbar ausgebaut, so dass die USA während des Kalten Krieges etwa 50 Prozent der „Verteidigungsausgaben“ der NATO bestritten hätten, während es jetzt etwa 75 Prozent seien. Und Gates warnte, es würden künftige US-Führer kommen, für die die Erfahrung des Kalten Krieges nicht mehr prägend sei und die „die amerikanische Investition in die NATO nicht länger als lohnend ansehen“.
Im Grunde beschrieb Gates hier nicht die Zukunft, sondern das, was bereits im Gange ist. Unter Politikwissenschaftlern ist die Rede von einer „Jacksonian“ Denkschule der Außenpolitik in den USA. Das meint die Vorstellung des früheren US-Präsidenten Andrew Jackson aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der der Auffassung war, die USA sollten nur dann im Ausland machtpolitisch aktiv werden, wenn es um „vitale Interessen“ geht. Es heißt, Barack Obama sei gerade dabei, „Jacksonian“ zu werden. Er geht davon aus, dass die Kriege seines Vorgängers in Irak und Afghanistan die US-amerikanischen Steuerzahler während der vergangenen zehn Jahre insgesamt etwa 1.260 Milliarden Dollar gekostet haben, die besser im Inland eingesetzt worden wären. Den Irak-Krieg hielt Obama seit Beginn seiner Präsidenten-Wahlkampagne nicht für „vital“, den Afghanistan-Krieg seit der Erlegung Osama bin Ladens offenbar auch nicht mehr.
Stattdessen wurde eine strategische Bewegung eingeleitet, die darauf zielt, die Streitkräfte kleiner und zugleich „effektiver“ zu machen. Beim Heer und der Marine-Infanterie – die hauptsächlich gebraucht werden, wenn es um größere Landkriege geht – wird gekürzt, während die anderen Waffengattungen und Waffensysteme weiter ausgebaut werden. Bei der Vorstellung seiner neuen Militärdoktrin am 5. Januar 2012 im Pentagon hat Obama erklärt, es würden in den nächsten zehn Jahren im Budget des Pentagons 487 Milliarden Dollar strukturell „eingespart“, der Verteidigungshaushalt bleibe jedoch dauerhaft höher, als ihn Bush hinterlassen hatte. Die Veränderung des strategischen Planens besteht darin, dass die „vitalen Interessen“ der USA nicht am Hindukusch „verteidigt“ werden, sondern im pazifischen Raum. Der Krieg gegen den „islamischen Fundamentalismus“ sei in der Sache ein Nebenkriegsschauplatz, während es eigentlich und strategisch gegen China gehen müsse. China wurde uneinholbar zum „Exportweltmeister“ und hat Devisenguthaben von über 3.000 Milliarden US-Dollar angesammelt, die es gegebenenfalls auch gegen die Interessen der USA als Wirtschafts- und Finanzmacht einsetzen kann. Das sehen die USA als gegen ihre Interessen gerichtet an, und sie reagieren auf die wirtschaftliche und finanzkapitalistische Herausforderung militärisch. Dazu sollen nun die neuartigen Allianzen mit Australien und Neuseeland, mit Chile, Indien und Vietnam dienen. Dazu braucht es die NATO in ihrer bisherigen, real-existierenden Gestalt allerdings nicht mehr.
So war die diesjährige Münchner Tagung eigentlich vor allem dazu da, den alten Geist unter neuen Bedingungen zu beschwören: die transatlantische Allianz sei unverzichtbar, werde weiter gestärkt, habe sich bewährt – „von den Bergen Afghanistans bis zu den Küsten Tripolis’“, wie Panetta sagte. Und Außenministerin Hillary Clinton erklärte, „Europa“ sei und bleibe „die erste Wahl als Partner der Vereinigten Staaten“. Wie sich der Widerspruch dazu auflösen soll, dass die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts in der Pazifik-Region gesehen wird, blieb offen. Der frühere deutsche Diplomat und jetzige Macher der Münchner Konferenz, Wolfgang Ischinger, echote demgemäß: „Die neue Verteidigungsstrategie der USA ist keine Abkehr von Europa, sondern reflektiert weltpolitische Veränderungen, auf die auch wir Europäer eine Antwort finden müssen“.
Thomas de Maizière, der in Deutschland für das Militär zuständige Minister, verwies auf die angespannte Haushaltslage beiderseits des Atlantiks und mahnte zur Gelassenheit: „Old Europe“ sei alt, kulturell alt und alt an Rechtstraditionen, erfahren in Streit und Versöhnung, und „Lastenteilung“ in der NATO hätten schon 1962 US-Präsident John F. Kennedy und der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara gefordert. De Maizière hielt eigentlich die Eingangsrede zu einem Panel, das sich mit der Rolle Deutschlands in der Welt von heute beschäftigen sollte. Dazu hat er in der Sache nichts gesagt, außer dass sich Deutschlands Rolle seit der Vereinigung 1990 verändert hat, aber zumindest zugegeben: „Wir nehmen aus guten Gründen schon jetzt mehr internationale Verantwortung wahr, als wir es manchen unserer Bürger vermitteln können.“ „Verantwortung“ meint hier Kriegseinsätze, und de Maizière gestand ein, dass die Regierenden dabei nach wie vor gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung handeln. Gleichwohl geht es immer um Einsätze an den „Rändern“ der EU oder in dem aussichtslosen Krieg am Hindukusch. An dem neuen großen Spiel der USA gegen China wird sich Deutschland nicht beteiligen. Deutschlands „vitale Interessen“ sind andere. Das hat de Maizière so nicht gesagt, aber gemeint. Anders ginge es auch schlecht, hat doch die Kanzlerin gerade in China um finanzielle Unterstützung für die Euro-Stabilisierung gebeten.
Konstantin Wecker sang am 11. Februar in „Kanzleramt Pforte D“, einer Polit-Satire des MDR-Fernsehens, ein Loblied auf das Lächeln der Kanzlerin. Sein Text mündete in die Aussage, er werde nie wieder die Linken wählen. Ob das eine Retourkutsche dafür war, dass bei seinem frierenden Auftritt in München der Gesang vor dem nicht-anwesenden Protest-Publikum verhallte, oder tatsächlich Ironie, ließ sich bisher nicht ermitteln. Und der Focus hat wieder nur die halbe Wahrheit gesagt: Hummer und Lachs hat es gegeben, mehr Sicherheit mit Sicherheit nicht.