Politikum Schokoladen

 

Vier Stunden musste Ephraim Gothe, der SPD-Staatssekretär für Stadtentwicklung beim Berliner Senat und einstige Baustadtrat des Bezirks Mitte, nochmals mit dem Hauseigentümer der Ackerstraße 169 geduldig und diplomatisch verhandeln, bis er endlich den Durchbruch verkünden konnte: Der „Schokoladen“ ist gerettet.
Dass die drohende Räumung des Kulturprojekts in letzter Minute abgewendet werden konnte, war auch ein Politikum für Berlin: Denn seit längerem rumort es kräftig in der Stadt, in der die Mieten explodieren, Kommerz und Tourismus beständig zunehmen und immer mehr Off- und Alternativkultur aus der Innenstadt verschwindet. In Alt-Mitte ist der Schokoladen eines der letzten noch verbliebenen Hausprojekte der unmittelbaren Nachwendezeit. In dem 1990 besetzten, längst legalisierten und im Kiez verwurzelten Haus gibt es – neben etlichen Wohnungen – den Club „Schokoladen“, der vor allem jungen Künstlern und Bands Auftrittsmöglichkeiten bietet und ein wichtiger Treffpunkt ist; es gibt dort außerdem das „Theater im Schokoladen“, den „Club der polnischen Versager“ (zuvor hatte hier 13 Jahre lang die unabhängige Stadtzeitung scheinschlag ihre Redaktionsräume), bezahlbare Ateliers und Werkstätten für Künstler. Seit 20 Jahren bereichern sie das Kulturleben der Stadt, subventionsfrei, kreativ und ohne viel Aufhebens von sich selbst zu machen.
Doch Anfang der Neunziger, als die erste Spekulationswelle über Ostberlin rollte, hatte ein Fliesenfabrikant aus Trier den Altbaukomplex erworben – und jetzt, da die Nachfrage nach Berliner Immobilien besonders hoch ist, wollte er endlich luxussanieren. Das Angebot des Schokoladens, mit Hilfe einer gemeinnützigen Stiftung den Gebäudekomplex selbst zu erwerben, hatte er lange abgelehnt und per Gericht eine Räumung der Gewerberäume durchgesetzt. Doch mit einer so starken Protest- und Solidaritätskampagne hatte der Trierer nicht gerechnet: Nicht nur das eigene Engagement des Schoko-Hausvereins, sondern auch eine bemerkenswert breite und vielfältige Unterstützergemeinschaft – Initiativen und Institutionen, Politiker aller Fraktionen, Presse aller Art und zahllose Einzelpersonen – erreichten schließlich, dass der Eigentümer dann doch an die Stiftung verkaufte. Als Ausgleich erhält er das Kaufrecht für ein Grundstück aus dem stadteigenen Liegenschaftsfonds.
Es war ein monatelanger Nervenkrieg – und wäre der Schokoladen geräumt worden, hätte es mit Sicherheit Aufruhr gegeben, nicht nur in der Ackerstraße, sondern in ganz Berlin. Vergleichbar ist das eigentlich nur mit der Rettung des „Haus Schwarzenberg“ am Hackeschen Markt vor einigen Jahren, ebenfalls ein tapferes, unsubventioniertes Kultur- und Geschichtsprojekt; damals konnte die Immobilie bei einer Zwangsversteigerung dank einer engagierten Solidaritätskampagne finanziell durch das Land Berlin und den Bund gesichert werden.
Bemerkenswert ist an solchen Vorgängen vieles. Erstens hat sich die Stimmung in der Stadt deutlich gewandelt: Rasant steigende Mieten verursachen inzwischen selbst in der Mittelschicht Angst vor Verdrängung, Gentrifizierung ist längst nicht mehr nur eine Fachvokabel von Soziologen, sondern in der Stadt derzeit heiß diskutiert. Aber nicht nur bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper – mit zunehmenden Verwertungsbegehrlichkeiten wird auch der Raum für kulturelle Projekte und Gewerbe immer enger. All das ist längst bekannt, gewinnt aber neue Brisanz, weil es inzwischen den gesamten Innenstadtbereich betrifft: Von den vielen Kulturprojekten, die es noch vor 15 Jahren in Ostberlin gab, blieben nur wenige – sie wurden von Hotels, Coffeeshops, Designern, Modelabels und großen Ketten verdrängt. Doch längst geht es nicht mehr nur um die bereits völlig überteuerten und aufgewerteten Stadtteile Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain – auch in den einstigen Arbeitervierteln Moabit, Wedding, Kreuzberg oder Neukölln steigen die Immobilienpreise und Mieten unablässig. Damit ist für viele die Schmerzgrenze erreicht – die bemerkenswerte Solidaritäts- und Verteidigungskampagne für den Schokoladen ist ein Zeichen dafür.
Bemerkenswert ist auch das Aufschrecken des Berliner Senats: Zehn Jahre lang hatte die rot-rote Koalition über die SPD-Senatorin für Stadtentwicklung Ingeborg Junge-Reyer gebetsmühlenartig verkündet, es stünden 100.000 Wohnungen in Berlin leer, der Wohnungsmarkt sei somit „entspannt“. Die Aussage beruhte jedoch auf völlig veralteten und unzuverlässigen Zahlen. Weil der Leerstand nicht direkt erfasst wird, zog man völlig veraltete Angaben von BEWAG/Vattenfall zu abgeschalteten Bestandstromzählern heran. Jetzt ist bezahlbarer Wohnraum knapp, aus dem einstigen Mietermarkt ist ein Vermietermarkt geworden, was zu exorbitanten Mietsteigerungen führt. Nachdem die Berliner Mieten- und Wohnungspolitik jahrelang kein Thema für den rot-roten Senat war (auch die Linke profilierte sich damit nicht), sucht die große Koalition nun händeringend nach Auswegen, um die Not zumindest etwas zu lindern.
Ebenso groß ist die Not bei der öffentlichen und kulturellen Infrastruktur: Der Immobilienverwertungsdruck durch private Eigentümer ist das eine – die andere Seite ist der radikale Sparkurs des Landes Berlin und der Versuch, durch Immobilienverkäufe immer wieder frisches Geld in die Landeskasse zu spülen. Zahlreiche landeseigene Grundstücke und Gebäude wurden verkauft. Auch die Bezirke wurden dazu angehalten, Mietobjekte oder eigene Objekte aufzugeben: mit fatalen Folgen. So wurden Bezirke gezwungen, nicht ausgelastete Grundschulen umgehend zusammenzulegen und die leeren Gebäude über den Berliner Liegenschaftsfonds verkaufen zu lassen – Reserven wurden dabei nicht vorgehalten. Im Bereich Kultur sah es nicht viel anders aus: Im Bezirk Mitte und auch in Pankow wurden ein kommunaler Bibliotheks- , Schul- oder Kulturstandort nach dem anderen aufgegeben. Jetzt sucht man angesichts steigender Schülerzahlen händeringend nach neuen Schulstandorten.
So naiv, um sich in Sachen infrastruktureller Grundversorgung auf private Investoren oder Glück und Zufall zu verlassen, kann kein Politiker sein. Doch erst jetzt dämmert es einigen politischen Beteiligten, dass sie sich viel zu lange auf den „freien Markt“ verlassen haben, der inzwischen dermaßen frei ist, dass er praktisch die Stadt regiert.
In Sachen Kultur und Bildung konnte man in den letzten Jahren eine klare Erfahrung machen: Geblieben sind jene Standorte, bei denen die Immobilie gesichert wurde – über den Bezirk, das Land Berlin, Stiftungen oder Eigenerwerb durch die Projekte.
Zwar wird oft und gern mit der kulturellen Vielfalt und der Berliner Kreativwirtschaft in Berlin geworben – aber dafür braucht man die Sicherung bezahlbarer Räume, Areale wie das Ex-Rotaprint-Gelände oder auch „Christiania“ in Wedding.
Der Liegenschaftsfonds des Landes Berlin, der über die landeseigenen Grundstücke verfügt und sie verkauft, wäre deshalb ein umso wichtigeres Steuerungsinstrument. Dass der Geschäftsführer des Liegenschaftsfonds, Holger Lippmann, auch zu einem Pressegespräch im Schokoladen erschien, war ein wichtiges Zeichen. Über die Vergabe ausgeschriebener Grundstücke entscheidet ein fünfköpfiges Politikergremium.
Vor einigen Monaten hat die „Initiative Stadt Neudenken“ zu einem Liegenschaftsmoratorium aufgerufen: Ein breites Bündnis aus Kulturschaffenden, ArchitektInnen, WissenschaftlerInnen, Initiativen und Verbänden formuliert in einem Positionspapier Anforderungen für eine grundlegende Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik. Die Entwicklung und Vergabe öffentlicher Liegenschaften solle künftig als Instrument zur Förderung sozialer und kultureller Vielfalt eingesetzt werden. (Lesen und unterzeichnen kann man das Positionspapier unter http://stadt-neudenken.tumblr.com) Die Initiative ist inzwischen ein breites Bündnis und lädt seitdem zu Netzwerktreffen ein. Angestrebt wird ein Runder Tisch mit Politik und Verwaltung. Eine politische Neuausrichtung der Liegenschaftspolitik des Landes Berlin ist dringend notwendig, das weiß auch Staatssekretär Ephraim Gothe, der anregte, Grundstücke verstärkt in günstiger Erbbaupacht zu vergeben.
Der Schokoladen immerhin kann erstmal feiern.

Mehr Informationen unter www.stadtneudenken.net