Verfolgt, verleumdet, verlassen:

Das Ende des Anarchismus auf Kuba. Und heute? Ein kritischer Blick auf Venezuela

Im Oktober 2012 finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt und Hugo Chávez könnte zum dritten Mal als Präsident bestätigt werden. Nach 13 Jahren an der Macht ruft er jedoch nicht mehr die gleiche Begeisterung hervor wie zu Beginn: Seine Pläne zur Reduzierung der Armut sind zum Stillstand gekommen; die Förderung von Gas, Öl und Mineralien durch transnationale Unternehmen hat zugenommen; strukturelle Probleme wie Gewalt oder die staatliche Bürokratie haben sich sogar verstärkt; er hat die Autonomie eines Großteils der sozialen Basisbewegungen beendet und eine zunehmende Militarisierung des Landes vorangetrieben.1 

 

Obwohl der Präsident noch im­mer große Popularität genießt, entwickelt ein ganzes Heer von Werbeleuten und Meinungs­macherInnen alle möglichen Strategien, um die Venezola­nerInnen und die Welt zu überzeugen, dass alle progressiven und revolutionären Gruppen die so genannte „bolivarische Revolution“ unterstützen.

Eine Strategie richtet sich dabei kurioserweise gegen den Anarchismus und ahmt mit Erfolg eine Kampagne nach, die in den 1960er Jahren auf Kuba geführt wurde. Dies ist ihre Geschichte.  

 

Den Anarchismus neutralisieren

Der Anarchismus als Möglichkeit hat viele Feinde. Einer seiner erbittertsten Feinde waren jedoch jene autoritären Regime, die den Sozialismus verzerrten und sich selbst als Inkarnation von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit feierten.

In jeder dieser Situationen haben die staatskapitalistischen Regierungen im Gleichklang mit der Säkularisierung des religiösen Denkens durch die Moderne den Konflikt als infantilisier­ten Kampf zwischen „Gläubigen“ – jenen, die sie unterstützten – und „Häretikern“ – jenen, die sei ablehnten – geführt. In dieser angeblichen Konfrontation zwischen zwei Zivilisa­tionsmo­dellen, einem in religiöser Sprache geführten Kampf zwischen „gut“ und „böse“, müssen die Autoritären behaupten, auch wenn es nicht wahr ist, dass alle revolutionären Männer und Frauen auf ihrer Seite sind und somit im Streit mit jenen Kräften, die sie angreifen. 

Wie wir heute wissen, haben die autoritären und nationalistischen Linken seit der russischen Revolution 1917, sobald sie an der Regierung waren, verschiedene Strategien entwickelt, um exakt jene restlichen revolutionären Organisationen zu zerschlagen, zu vereinnahmen oder zu zersplittern, die ei­ne andere linke Option als ihr Projekt verfolgten und Proteste gegen die Widersprüche und zunehmenden Zentralisierun­gen der Macht unternehmen konnten.

Im Fall des Anarchismus, einer Denktradition und Haltung, die gegen die bürokratische Ordnung der Macht und Autorität besonders resistent ist, gibt es zahlreiche tragische Beispiele.

In Russland – und später der Sowjetunion –, in China, Spanien und Dutzenden weiteren Fällen wurden die AnarchistIn­nen von den StaatsfetischistIn­nen systematisch verfolgt und ermordet.

Der Mord wurde da­bei jedoch von der Lüge, der Verdrehung und der angeblichen Unterstützung begleitet, um die internationale anarchistische Bewegung zu verwirren und zu lähmen.  

 

Kuba 1961

Wer die Geschichte des Anarchismus in Lateinamerika kennt, weiß, dass es in Kuba, ähnlich wie in Argentinien, Chile, Peru und Uruguay, eine bedeutende anarchosyndikalistische Bewegung gab, die an den Arbeitskämpfen jener Zeit teilnahm.

Das Buch „El Anarquismo en Cuba“ (Anarchismus auf Kuba) von Frank Fernández zeigt, dass die anarchistische Bewegung auf der Insel in verschiedenen Gewerkschaften organisiert war, Zeitungen und Zeitschriften zur Diskussion und Agitation druckte und mehrere Lokale besaß, wo man sich treffen und austauschen konnte.2

Wie Interessierte nachlesen können, schlossen sich der An­archismus und die kubanischen AnarchistInnen dem Kampf der Bevölkerung gegen den Diktator Fulgencio Batista an, und sein Sturz im Jahr 1959 weckte unter den Militanten ähnliche Hoffnungen auf die Zukunft der Insel, wie sie die übrige Bevölkerung hegte. Fernández schildert, wie die libertären Publikationen, Solidaridad Gastronó­mica und El Libertario, in den Ausgaben jener Zeit eine vorsichtig zustimmende und hoffnungsvolle Haltung zur neuen Regierung vertraten.

Ende 1959 begann die neue führende Klasse jedoch alle Kritiken, egal von welcher Seite sie kamen, als konterrevolutionär abzuqualifizieren.

Der Castroismus begann zu­gleich RepräsentantInnen aller globalen revolutionären Tendenzen auf die Insel einzuladen, um sie von den Wohltaten des neuen Regimes zu überzeugen. So besuchte im Sommer 1960 der Libertäre Augustin Souchy Havanna, um die Erfahrungen der Agrarreform kennen zu lernen. Das Ergebnis dieses Besuches war die Veröffentlichung eines ausführlichen Artikels, in dem der deutsche Anarchist der Welt über das Gesehene berichtete. Diese Broschüre mit dem Titel „Testimo­nios sobre la Revolución Cuba­na“ (Zeugnisse der kubani­schen Revolution)3 ging nicht durch die offizielle Zensur und war in einem anderen Ton gehalten, als die Behörden gehofft hatten: Sie nannte die autoritäre Wende der neuen Regierung beim Namen. Das Büchlein wurde von der Kommunistischen Partei Kubas zurückgezogen, aber es wurde dank einer Neuauflage durch den Verlag Re­construir in Buenos Aires doch bekannt. Die AnarchistInnen waren nicht so leicht zu beeindrucken, und so musste eine neue Strategie her. 

Ein Großteil der kubanischen AnarchistInnen jener Zeit war in der Asociación Libertaria de Cuba (ALC) organisiert.

1961 führte Manuel Gaona Sou­sa das Sekretariat für Beziehungen und kontrollierte die Kontakte der Organisation zur internationalen anarchistischen Bewegung.

Gaona hatte jedoch bereits früh Begeisterung sowohl für das Movimiento 26 de Julio (M26J) und auch für Fidel Castro gezeigt. Sein Prestige, seine Geschichte als Anarchist, seine zentrale Rolle in der externen Kommunikation und sein Wunsch, mit einer Regierung zusammenzuarbeiten, die er un­terstützte, wurden von den ku­banischen Autoritäten bis zum Äußersten genutzt. Gaona verfasste ein Kommuniqué mit dem Titel „Una aclaración y una dec­laración de los libertarios cu­banos“ (Eine Klarstellung und eine Erklärung der kubanischen Libertären)4 , in dem er behauptete, dass „beinahe alle libertären Militanten in den verschiedenen Organen der kubani­schen Revolution integriert sind“.

Dabei leugnete er, dass zur sel­ben Zeit Menschen wegen ihrer libertären Aktivitäten inhaftiert waren – eine Tatsache, die von den anarchistischen Publikationen auf der Insel beharrlich angeklagt wurde.              

Das Manifest von Gaona wurde an alle libertären Verlage der Zeit geschickt. Es enthielt fünf zentrale Ideen. Erstens gebe es keine AnarchistInnen, die wegen ihrer Überzeugungen verhaftet seien. Zweitens gebe es auf Kuba keine politische oder religiöse Verfolgung. Drittens unterstützten die AnarchistIn­nen die Regierung Castro.

Viertens repräsentiere der Cas­troismus die Ideale, für die die Libertären kämpften. Und der fünfte Teil plapperte unbeholfen und wortwörtlich die Propaganda des Regimes hinsichtlich seiner angeblichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wohltaten nach.

Das Dokument endete mit der Verlautbarung: „Wir möchten die Genossen der libertären Bewegung in Mexiko, Lateinam­erika und der Welt sowie die exilierten spanischen Genossen in Amerika warnen, damit sie sich nicht von den böswilligen und lügnerischen Informationen überrumpeln lassen, die sie von jenen erhalten, die bewusst oder unbewusst im Dienst der kubanischen Konterrevolution stehen.“

Der Text war von 25 Personen unterzeichnet, um als repräsentativ für den kubanischen Anarchismus zu gelten.

Später wurde bekannt, dass einige der Unterschriften von Ga­ona durch Betrug erlangt wurden. Einige Libertäre, die von ihm gefragt worden waren, aber ihre Unterschrift unter diese Abkehr von den grundlegenden Prinzipien des Anarchismus verweigert hatten, wie z.B. der bekannte Genosse Marcelo Salinas y López, wurden später verfolgt und ins Exil getrieben.  

 

Die Verlassenheit der AnarchistInnen

Gaonas Dokument hatte für die kubanischen AnarchistInnen verheerende Folgen. Zum einen spaltete es sie in zwei Flügel: Die in den Augen der kubani­schen Regierung guten” – das kleine Grüppchen, das Gaonas Haltung unterstützte – und die “bösen”, also alle anderen.

Des weiteren säte es Verwirrung in den anarchistischen Organisationen anderer Länder, insbesondere Lateinamerikas. In einer Zeit, in der die USA Kuba angriffen, der Guerrilla­kampf und seine Bezugnahme auf die Männer des Movimien­to 26 de Julio auf dem Kontinent ein enormes Prestige genossen und es nur spärliche Kommunikation mit den Akti­vistInnen auf der Insel gab, lähmte es buchstäblich die anarchistische Kritik und die anarchistischen Zweifel am neuen Regime. Die kubanischen An­archistInnen waren regelrecht verwaist, und dies begünstigte ganz konkret ihre Verfolgung und Vernichtung. Einige Namen: Augusto Sánchez, gefangen genommen und getötet; Rolando Tamargo und Ventura Suárez, erschossen; Sebastián Aguilar d.J., durch Schüsse ge­tötet; Eusebio Otero, in seiner Wohnung tot aufgefunden; Raúl Negrín, lebendig verbrannt. Verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden Casto Moscú, Modesto Pi­ñeiro, Floreal Barrera, Suria Lin­suaín, Manuel González, José Aceña, Isidro Moscú, Norberto Torres, Sicinio Torres, José Mandado Marcos, Plácido Méndez und Luis Linsuaín.

Einige Genossen überlebten die im Gefängnis erlittenen Qualen nicht: Francisco Aguirre wurde tot in seiner Zelle aufgefunden; Victoriano Hernández nahm sich, durch die Misshandlungen krank und erblindet, das Leben; und José Álvarez Mi­cheltorena starb wenige Wochen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis.

Manuel Gaona wurde zu einer treibenden Kraft bei der Verfolgung seiner früheren Genos­sInnen. Obwohl die Anschuldigungen gegen die echten Libertären ganz den stalinistischen Klischees entsprachen – eine der gängigsten war “Mitglied der CIA” -, verfehlten sie nicht ihre Wirkung. Fernández schreibt dazu: “Die Information oder vielmehr Desinformation der internationalen anarchistischen Bewegung über die Situation in Kuba wurde vom Propagandaapparat des kuba­nischen Regimes mit enormen finanziellen Mitteln, mit viel Ta­lent, Einfallsreichtum und politischem Geschick betrieben.” Selbst die Versuche der im Exil lebenden kubanischen Anar­chistInnen, sich zu organisieren, beispielsweise im Movi­miento Libertario Cubano en el Exilio (MLCE), wurden von An­archistInnen und Antiautoritären als konterrevolutionär denunziert, zum Beispiel von Da­niel Cohn-Bendit, der auf dem Internationalen Anarchistischen Kongress von Carrara 1968 unterstellte, der MLCE sei „von der CIA bezahlt“.

Der kubanische Anarchismus wurde international von seinen eigenen Leuten im Stich gelassen – einer der schlimmsten Fehler in der Geschichte der anarchistischen Bewegung.

Erst im Jahr 1978, als Sam Dol­goffs Buch „Die kubanische Revolution. Eine kritische Betrachtung“ erschien, begann die libertäre Welt zu begreifen, was wirklich auf der Insel geschehen war. Aber da war es bereits zu spät.

Ein halbes Jahrhundert später: Die Wiederholung als Komödie

Fünfzig Jahre nach Gaonas Ma­nifest wird nun versucht, die Strategie noch einmal anzuwenden. In einer Zeit, in der in mehreren Ländern Lateinameri­kas Regierungen an der Macht sind, die sich selbst als links und fortschrittlich bezeichnen, versuchen die neuen Bürokratien den Eindruck zu erwecken, alle RevolutionärInnen, einschließlich der AnarchistInnen, stünden auf ihrer Seite. Mit Hilfe einiger „bekehrter“ ehemaliger AnarchistInnen werden Scheinorganisationen ins Leben gerufen und über das In­ternet wird die Vorstellung verbreitet, die „wahren Anarchis­tInnen“ unterstützten die Regierungen unter Rafael Correa, Evo Morales, Cristina Kirchner, Hugo Chávez und anderen, während die „falschen Anar­chistInnen“ sie kritisierten und sich damit „abseits der Kämpfe der Völker“ stellten. Eines der schrillsten Beispiele ist eine lautstarke „Federación Anar­quista Revolucionaria de Venezuela“, die gleich in ihrer ersten Erklärung ihre Unterstützung für die bolivarische Regierung unter Hugo Chávez kundtat5  und die Auffassung vertrat, angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswah­len müsse man sich dem Wahlbündnis „Gran Polo Patriótico“ anschließen.6  

Allerdings gibt es einen großen Unterschied gegenüber der Zeit des Manuel Gaona. Dank der Informationstechnologie ist es praktisch unmöglich, eine Kommunikationssperre zu errichten wie die, mit deren Hilfe das Wesen der Regierung Fidel Castros verschleiert wurde.

Heute hat jeder Interessierte die Möglichkeit, die unterschiedlichen revolutionären Meinungen und Initiativen an der Basis kennenzulernen, welche die Widersprüche dieser Regierungen und ihren zunehmenden Anschluss an den glo­balisierten Kapitalismus unserer Tage ebenso aufzeigen wie die Kriminalisierung sozialer KämpferInnen und die Herausbildung eines neuen Bürgertums unter dem Schutz des Staatskapitalismus.

Die Geschichte wiederholt sich, zuerst als Tragödie und dann als Komödie.

 

Rafael Uzcátegui

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Heiko und Heike

 

Anmerkungen

 1 Darüber berichtet die Internetseite www.nodo50.org/ellibertario auch auf Deutsch

 2 http://bit.ly/kEkeac

 3 http://bit.ly/xCSeZy

 4 nachzulesen unter http://bit.ly/AtRLVI

 5 http://bit.ly/A2UG4M

 6 http://bit.ly/y8ZTJM

 

Anm. d. GWR-Red.:

Rafael Uzcátegui war bis 2006 Herausgeber von El Libertario. Jetzt ist er chief investigator der venezolanischen Menschenrechtsgruppe PRO­VEA. Er ist Aktivist der WRI (War Resisters’ International) und Autor des Buchs „La revolución como espectáculo“, einer anarchistischen Kritik der bolivarischen Regierung in Venezuela. Leider ist es nicht in deutscher Sprache erhältlich. Wir empfehlen die englische Ausgabe „Revolution as Spectacle“, da sie für nichtvene­zolanische LeserInnen nützliche Ergänzungen und Erläuterungen enthält. Interessant sind z.B. kritische Anmerkungen zu den Besuchen von Noam Chomsky und Mike Davis in Venezuela, die vor allem mit Regierungsleuten Kontakt hatten und den AnarchistInnen Venezuelas dann die Probleme Venezuelas erklären wollten - aus Regierungssicht.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 368. 41. Jahrgang, April 2012, www.graswurzel.net