Wiederkehr der deutschen Frage?

 

Die Zeitschrift Merkur ist eine derjenigen, in denen ein eher konservativer Teil des deutschen Bürgertums – oder was sich dafür hält – mit sich selber und für sich denkt. Ihr Untertitel lautet: „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, nicht aber „Denken für ein deutsches Europa“. Gleichwohl eröffnete der Jahrgang 2012 mit einem Text unter der Überschrift: „Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union“.
Der Autor, Christoph Schönberger, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Konstanz, ist Jahrgang 1966. Das ist alt genug, um in dieser „Berliner Republik“ eine Rolle spielen zu wollen, und jung genug, um Helmut Kohls frühere Staatsraison, die Europäische Union habe etwas mit dem Frieden in Europa zu tun, für antiquiert zu halten. Und als Jurist muss er sich natürlich auch nicht ernsthaft damit befassen, was in Deutschland zwischen der vorigen Jahrhundertwende und 1918 respektive 1933 und, sagen wir, 1943 schon über deutsche Hegemonie gedacht und diskutiert worden ist – hier meine ich nicht, was die jeweilige Reichsleitung in ihren Konzeptpapieren über Krieg und Nachkrieg und Neuordnung Europas stehen hatte, sondern was ein eher konservativer Teil des deutschen Bürgertums so meinte. Insofern ist die heutige Welt dieses bürgerlichen Meinens Ausdruck eines ahistorisch frohgemuten Dahinschwadronierens: scheinbar kennt man die Geschichte, tut so, als gehe man verantwortlich mit ihr um, ist aber tatsächlich völlig unbelastet von historischer Belehrtheit, gar Verantwortung.
Bei Schönberger liest sich das so: „Nichts von den mühsam-kunstvollen Konstruktionen, die Westeuropa nach 1945 entwickelt und der wiedervereinigte Kontinent nach 1989 bestätigt und vertieft hat, erscheint in der europäischen Staatsschuldenkrise noch selbstverständlich. Diese grundlegende Verunsicherung trifft die Bundesrepublik besonders, war doch der erstaunliche Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Eingliederung in ein verdichtet integriertes europäisches Staatengefüge untrennbar verknüpft. Zugleich zeigt sich jetzt deutlicher denn je, wie sehr die Bundesrepublik zur Hegemonialmacht Europas geworden ist. Sie muss führen…“ Dann folgt der inzwischen oft obligate Hinweis auf die vorgebliche Unfähigkeit der politischen Führung dieses Landes: „Die Anforderungen, die sich aus der deutschen Hegemonialstellung innerhalb der Europäischen Union ergeben, sind groß; die Bundesrepublik wird ihnen aber nur unzureichend gerecht. Dabei verketten sich mentale und institutionelle Faktoren auf unglückliche Weise.“ Das war zwar 1914ff. und 1939ff. auch so. Den Vergleich aber würde der Autor weit von sich weisen.
Aber vielleicht ist es ja das deutsche Schicksal, sich zur Hegemonie berufen zu fühlen, und ihre Realisation schließlich doch zu verfehlen? Am Ende spürt Schönberger selbst die Analogie: „Die Hegemonie in der Europäischen Union fordert von den deutschen Eliten und der deutschen Öffentlichkeit etwas, das Deutschlands Lage in der Mitte Europas von ihnen schon immer verlangt hat: den Verzicht auf nationale Introvertiertheit; die aufmerksame Kenntnis, Beobachtung und Beeinflussung der europäischen Nachbarn; die Definition der eigenen Interessen unter Einbeziehung der Interessenlage der Partner; das Voraus- und Mitdenken für Europa insgesamt.“ Die Pointe schließlich lautet: „Ein mentales und institutionelles Sich-Einkrümmen, ein selbstbezognenes Verwalten der eigenen Besitzstände… kann sich die Bundesrepublik nicht erlauben. Sie muss die Bürde der Hegemonie tragen, auch wenn sie diese schmerzhafter auf ihren Schultern spürt.“ Damit meint er gewisslich nicht die Erträge, die das deutsche Kapital aus der Einführung des Euro und der Art und Weise der Integration innerhalb der EU in den vergangenen zwanzig Jahren gezogen hat, sondern eher die Augenringe der Kanzlerin und die durchgearbeiteten Nächte der Beamten aus Kanzleramt und Auswärtigem Amt bei der Exekution dieser vorgeblich schwer zu tragenden Bürde der Hegemonie.
Texte, wie dieser von Schönberger, sind nicht über Nacht aus der Kiste gesprungen, sondern haben eine auch diskursive Vorgeschichte. Der Schweizerische Journalist Eric Hujer (Jahrgang 1962) veröffentlichte bereits 2007 in der Editionsreihe der Körber-Stiftung einen Band unter der Überschrift: „Schluss mit der Heuchelei. Deutschland ist eine Großmacht“. Darin heißt es. „Die Bundesrepublik steht nicht mehr unter Kuratel und ist nicht mehr existenziell auf den Schutz ihrer Verbündeten angewiesen.“ Die Umbrüche von 1989/1991 nennt er eine „Revision der Nachkriegsordnung“. Deren Folge ist, sie „brachte Russland, aber auch den alliierten Siegermächten Frankreich und Großbritannien einen Bedeutungsverlust. Die Bundesrepublik zählt hingegen zu den Gewinnern der neuen Weltordnung. Sie zieht ihre Stärke nicht mehr wie im Kalten Krieg allein aus ihrer wirtschaftlichen Potenz. Gemeinsam mit einer Handvoll anderer Staaten hat sie die kritische Größe, um internationale Politik zu gestalten. Das wiedervereinigte Deutschland ist zu einer Großmacht herangewachsen, und sie beginnt, die Möglichkeiten zu nutzen.“ Das war vor dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise geschrieben. Und die hat Deutschland genutzt, um eben diese beschworene Großmachtpolitik zu realisieren.
Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Hamburger Die Zeit und deren Ressortchef für Politik (Jahrgang 1960), publizierte 2011 ein Buch mit dem Plädoyer, dass dieses großmächtige Deutschland endlich auch (wieder) entsprechende Kriegsführungsfähigkeiten entwickeln sollte: „Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss“. Dieser Kriegswunsch soll hier nicht weiter erörtert werden. Aber auch dieses Buch enthält eine Reihe von analytischen Aussagen. Die hier für uns zentrale lautet: „ Deutschland ist eine Mittelmacht, das heißt stärker als die meisten Länder in Europa, aber längst nicht so stark wie die USA oder heute China.“ Und weiter: „Bis zur Einheit und noch darüber hinaus lag es im deutschen Interesse, die eigene Stärke nicht zu zeigen, um nicht die historischen Vorbehalte zu mobilisieren.“ Als sei es in all den Entscheidungen zur EU-europäischen Integration seit 1950 lediglich um machtpolitische Mimikry gegangen, die die Kontinuität (west-)deutschen Vorherrschaftsstrebens nur tarnen sollte – hier wird der Autor wohl weder Adenauer und Kohl, noch Brandt und Schmidt gerecht. Weiter meint Ulrich: „An diese Maxime hielt sich jede Regierung, auch die jetzige. Allein, so funktioniert es nicht mehr. Schon in der Finanzkrise, erst recht mit der europäischen Währungs- und Schuldenkrise, wurde von Deutschland als wirtschaftlich gesundester Macht Führung verlangt, und spätestens hier ließ sich die Stärke nicht mehr camouflieren. Damit aber verändert sich die Rolle Deutschlands insgesamt.“
Der im Vergleich zu den bisher zitierten Autoren jüngere Hans Kundnani vom European Council on Foreign Relations (London) stellte Ende 2011 in der Zeitschrift Internationale Politik ebenfalls fest: „Die Euro-Krise hat eine neue, bestimmende Bundesrepublik hervorgebracht. Die einstige Zivilmacht Deutschland wird zu einer geoökonomischen Macht.“ Seine Pointe aber ist eher Sorge: „Die Nachbarn können nicht mehr mithalten, aber Deutschland ist auch nicht groß genug, um Hegemon zu sein. Eine neue geoökonomische Variante der deutschen Frage steht im Raum.“ In derselben Zeitschrift folgerte er Mitte 2012: „Berlins Politik führt zu keinem deutschen, sondern einem chaotischen Europa.“ Der EU-Gipfel vom 28. Juni brachte genau dies: Die weitere Chaotisierung der EU, weil die deutsche Hegemonialpolitik nicht zu diesem Europa passt.Der Spiegel (27/2012) resümierte schließlich: Deutschland sei „Geisel des Südens… Die Machtarchitektur Europas hat sich verschoben – zum Nachteil der Deutschen“.
Deutschland war Hauptnutznießer der Euro-Einführung, es wäre auch der Hauptleidtragende seines Zusammenbruchs. Die Rettung geht aber nicht über Hegemonie, sondern über Kooperation. Die größte Unfähigkeit in dieser Lage liegt bei jenen bürgerlichen Phantasten, die sich eine deutsche Hegemonie herbeireden. Die EU, wie sie institutionell seit 1950 geschaffen wurde, steht einer Hegemonialpolitik grundsätzlich entgegen. Versuche, sie informell auszuüben, scheitern an ihrer gesatzten Ordnung, die Institutionen verhindern es. Wenn die EU der Versuch war, innerhalb der Institutionen jene Widersprüche zwischen den Staaten friedlich und satzungsgemäß auszutragen, die zuvor in mehreren Kriegen in Schützengräben ausgetragen worden waren, bewährt sich dies eben jetzt – der Streit über Schuldentilgung, Eurobonds und die Rolle der EZB kostet keine Kriegsopfer in Europa. Es ist doch ziemlich beruhigend, das zu wissen.