Unter den drei Halbmonden

Türkischer Rechtsextremismus, Ultranationalismus und Islamismus

in (15.07.2012)

Die extreme Rechte in der Türkei bezieht sich – wie entsprechende Organisationen in Deutschland auch – auf mythische Erzählungen wie auch reale historische Erscheinungsformen. „Rasse“, Nation oder Religion sind dabei sich ergänzende Konzepte.


Die Anfänge des türkischen Ultranationalismus fallen mit dem Ende des Osmanischen Reiches zusammen, in dem der Islam die hegemoniale Ideologie war. Die Frühtheoretiker des türkischen Ultranationalismus wussten gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht genau, wie sie mit der Religion umgehen sollten. Ziya Gökalp, der bedeutendste Theoretiker des türkischen Ultranationalismus, versuchte Anfang des 20. Jahrhundert, drei Elemente – Türkentum, Islam und Westernisierung – theoretisch in Bezug zu setzen und miteinander in Einklang zu bringen. Seine Ideen finden sich noch heute bei den extrem rechten Ülkücüs (Idealisten), zu denen die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) und die 1992 davon abgespaltene Büyük Birlik Partisi (BBP, Große Einheitspartei) gerechnet werden.

Herrschaft über drei Kontinente
Die BBP wie die MHP nutzten beide das Symbol der drei Halbmonde – mit dem Unterschied, dass sie bei ersterer in grün (der Farbe des Islam), bei letzterer in rot gehalten waren. Drei Halbmonde auf grünem Hintergrund trug auch die Fahne des Osmanischen Reichs. Für die Ülkücüs ist die Symbolik der drei Halbmonde wichtig, weil sie die türkische Vergangenheit und ihre imperialen Konnotationen verherrlicht.
Räumlich impliziert der Islam in diesem Denken die ganze Welt, da der Koran sich auf die gesamte Menschheit bezieht und somit für alle Menschen gültig sein soll. Geschichtlich gesehen bedeutet der Islam für die türkischen Ultranationalisten die Herrschaft der Osmanen in Teilen Asiens, Afrikas und Europas; die Symbolik der drei Halbmonde leitet sich von diesen drei Kontinenten ab. Nach Meinung der türkischen extremen Rechten habe im Osmanischen Reich auf drei Kontinenten Frieden und Wohlstand geherrscht; die ehemaligen Untertanen würden noch heute die osmanische Verwaltung vermissen. Gemäß dieser Vorstellung seien die Türken gerechte, tolerante und deswegen beliebte Herrscher über Völker, die sich selbst nicht vernünftig regieren könnten.
Obwohl die drei Halbmonde das Macht- und Überlegenheitsgefühl der osmanischen Vergangenheit symbolisieren, ist diese Vorstellung für türkische Ultranationalisten nicht immer frei von Widersprüchen. Sie beziehen sich auf Turan, eine Einheit, die nicht durch den Islam, sondern durch die türkische „Rasse“ konstituiert wird. Die zweite Schwierigkeit bezüglich der osmanischen Vergangenheit ist, dass der Kemalismus das Osmanische Reich eigentlich ablehnte. Je mehr die Ultranationalisten die osmanische Vergangenheit betonen, desto mehr müssen sie sich von der offiziellen Ideologie des kemalistischen Staats distanzieren. Die verschiedenen extrem rechten Gruppierungen und Organisationen pendeln mit unterschiedlicher Betonung und Ausformung zwischen den Ideologien des Türkentums und des Islam oder versuchen auch, diese zu vereinen (siehe dazu Kasten: Türkisch-Islamische Synthese). Solange es keine Führungskrise in der extrem rechten Bewegung gibt, überlagern die ideologischen Gemeinsamkeiten die Unterschiede und Widersprüche.

Zwischen Nation und Islam
Aufgrund ihrer ultrakonservativen Weltanschauung und ihres hierarchischen Führungsstils werden neben den „Grauen Wölfen“ auch islamistische Strömungen dem rechten türkischen Spektrum zugeordnet, so etwa die Milli Görüs-Bewegung, die in Deutschland als Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) etwa 25.000 bis 30.000 Mitglieder vertritt. Im Mittelpunkt steht nach außen hin zwar nicht die türkische Nation oder „Rasse“, sondern der Islam und die „Nizam Islami“ (Islamische Weltordnung). Doch hebt allein schon der Name Milli Görüs (Nationale Sicht) die Relevanz ultranationalistischer Elemente hervor. Wie bei den „Grauen Wölfen“ wird die Türkei als überlegene Nation imaginiert, die als Verbreiterin und Vertreterin des Islam fungieren soll. In dieser Vorstellung bildet das Osmanische Reich ein goldenes Zeitalter und stellt zugleich die Basis und Rechtfertigung für alle weiteren ideologischen Konstruktionen dar. Dabei beruft sich die Milli Görüs-Bewegung auf eine überhistorische Wir-Gruppe, die sich gegen ihre Feinde zu Wehr setzen müsse. So propagierte der im Februar 2011 verstorbene Begründer der Bewegung, Necmettin Erbakan, den Kampf gegen „den Westen“ und gegen „den Zionismus“.
Nicht alle Mitglieder von Milli Görüs wollen dieser Weltsicht folgen; auch Funktionäre der Bewegung in Deutschland fordern Veränderungsprozesse ein. Dennoch finden sich weiterhin inhaltliche Schnittmengen zu den „Grauen Wölfen“ – und auch praktische: So nahmen an der ersten „Gaza-Hilfsflotte“, die im Mai 2010 versucht hatte, eine von Israel verhängte Seeblockade vor dem Gaza-Streifen zu durchbrechen, neben Milli Görüs-Aktivisten auch Mitglieder der BBP teil.

Faschistische Elemente der »Grauen Wölfe«
Mindestens drei Elemente von faschistischen Bewegungen teilen die türkischen „Grauen Wölfe“: Mythos als wesentliche ideologische Ressource, Führerkult und Gewaltverherrlichung. Da die Ülkücüs selbst die Bezeichnung „Faschisten“ immer ablehnten und sich selbst als türkische Nationalisten bezeichneten, gab es bis Ende der 1990er Jahre eine Tendenz unter den MHP-kritischen Politikwissenschaftlern, die MHP als faschistische Partei zu bezeichnen. Bei den Wahlen in der Türkei 1999 erlangte die MHP 18 Prozent der Stimmen und konnte nicht mehr als marginal angesehen werden. Seitdem stellten liberale und konservative Sozialwissenschaftler und Journalisten vermehrt die Frage, ob die MHP sich verändert habe und eine „zentralrechte“ Partei geworden sei. Im Gegensatz zu Organisationen wie der NPD in Deutschland wird die MHP in der Türkei als Teil des etablierten Parteiengefüges wahrgenommen – und da tut man sich mit der Bezeichnung „faschistisch“ offenkundig schwer.
Die grundlegendste Gemeinsamkeit faschistischer Bewegungen ist eine ultranationalistische Weltanschauung, die die Idee der Nation als das zentrale und ursprüngliche Element für ihr politisches Konzept bestimmt. Geschichte wird als Verhältnis zwischen den Nationen, ihrer Kriege und ihrer Allianzen gedacht, wobei die eigene Nation als überlegen und als etwas Besonderes wahrgenommen wird. Der Ultranationalismus instrumentalisiert und bearbeitet die nicht hinterfragte Basis der Idee der „Herrschernation“ und mobilisiert auf diese Weise Massen. Eine logische Konsequenz dieser Vorstellung ist zumeist die politische Forderung nach einer territorialen Expansion des vorhandenen Staatsgebiets. Ultranationalisten wie die „Grauen Wölfe“ legitimieren ihre scheinbare Überlegenheit und die Politik der Expansion hauptsächlich mit mythischen Erzählungen.

Mythos
Das Symbol des „Grauen Wolfes“ basiert auf einer solchen mythischen Erzählung. Bozkurt („Grauer Wolf“) soll einst die türkischen Stämme vor der Unterwerfung gerettet und aus Zentralasien in das Gebiet der heutigen Türkei geführt haben. Damit symbolisiert der „Graue Wolf“ auch die Militanz der Bewegung. Es gibt zahlreiche Versionen dieses Mythos. Türkische Ultranationalisten, die sich auf den „Grauen Wolf“ beziehen, können diese Erzählung daher in ihrer Politik und in ihrem Alltagsleben relativ frei interpretieren. Da Mythen mündlich überlieferte Erzählungen über übernatürliche, zeitlose und magische Kräfte sind, können ihr exaktes Entstehungsdatum und ihre Ursprungsform nicht genau bestimmt werden vom „Grauen Wolf“-Mythos existiert keine schriftliche Urform.
Islamische Fundamentalisten hingegen müssen einen „heiligen Text“ als Fundament ihres politischen und alltäglichen Lebens zum Maßstab nehmen. Im Verhalten der „Grauen Wölfe“ hingegen sind nicht wie bei den Milli-Görüs-Anhängern Leserituale, eine fromme Lebensführung oder scholastische Diskussionen wesentlich, sondern eher pragmatische und handlungsorientierte Interpretationen zu beobachten. Da aber auch die türkischen Ultranationalisten den Koran als heiligen Text ansehen und dieser Text – wie andere religiöse Werke – eine große Zahl an Ursprungsgeschichten enthält, sollten die Differenzen zwischen den Milli Görüs-Anhängern und den „Grauen Wölfen“ in dieser Hinsicht nicht überschätzt werden.

Führerkult
Außer dem Symbol des „Grauen Wolfes“ basieren auch andere Begriffe, die von türkischen Nationalisten häufig politisch verwendet werden – etwa „Ergenekon“ (eine Legende, die vom Zerfall und Wiederaufbau des „Göktürkischen Reiches“ handelt), „Turan“ (die angebliche Urheimat der Türken) und „Basbug“ (Führer) –, auf ähnlichen mythischen Erzählungen.
Einer der wichtigsten Aspekte der ultranationalistischen Mythisierung ist es, einen Führerkult zu betreiben. Zwischen 1965 und 1970 bekam der türkische Ultranationalismus eine faschistische Massenbewegungsform, und Alparslan Türkes verkörperte als Kopf der MHP den entsprechenden Führerkultus (siehe dazu Kasten: Die Neun-Strahlen Doktrin). Türkes war ein ehemaliger Offizier und versuchte, mit seinen Anhängern Militärdisziplin in der Partei durchzusetzen. Jedes MHP-Mitglied musste ihn mit dem Titel „Basbugum“ („mein Führer“) anreden.
Nach Angaben der Ülkücüs stammt das Wort „Basbug“ aus der alten türkischen Geschichte in Zentralasien und bedeutete damals „Oberster Befehlshaber”.
Die Ülkücü-Organisationen in Deutschland (siehe Artikel von Kemal Bozay in dieser Ausgabe), die organische Verbindungen zu politischen Parteien in der Türkei unterhalten, laden stets Parteiführer zu ihren Jahresversammlungen ein. Das Erscheinen der Parteiführer in den Jahresversammlungen der Ülkücüs besitzt sehr starken Ritualcharakter: Die Parteiführer werden von ihren Anhängern wie Oberoffiziere empfangen. Beim Empfang des jeweiligen Führers stehen die Anhänger auf und jubeln verherrlichende Parolen. Da eine Truppe von Ülkücü-Jugendlichen den Führer schützt, ist es unmöglich, sich ihm zu nähern. Diese Art von Empfang erhöht die Unberührbarkeit und sakrale Aura des Führers.

Gewaltverherrlichung
Gewalt ist die von den Ülkücü-Jugendlichen am häufigsten erwähnte Lösung, um Verhaltensweisen und Ideen, die von ihnen als „unsittlich“, „dreckig“, „antitürkisch“ oder „schädlich“ wahrgenommen werden, zu beseitigen. Schläge und Prügel wurden von den Jugendlichen oft als die besten Methoden bezeichnet. Der deutsche Nationalsozialismus inspirierte etliche „Graue Wölfe“ in der Türkei bei der Verbindung vom Nationalismus mit Gewalt.
Auch viele „Graue Wölfe“ in Deutschland sind beeindruckt von der „Heimatliebe“ Hitlers und deutscher Ultranationalisten. In der antikommunistischen Stimmung der 1970er und 1980er Jahre war die deutsche Rechte für die türkischen Faschisten ein wichtiger Verbündeter gegen sozialistische Bewegungen. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und den neonazistischen Mordanschlägen auf türkische Familien wie 1992 in Mölln oder 1993 in Solingen begannen die türkischen Ultranationalisten in Deutschland, die deutsche Rechte mit größerer Distanz wahrzunehmen. Hinzu kam, dass sozialpolitische Faktoren und gesellschaftliche Hemmnisse wie beispielsweise Diskriminierungserfahrungen, kontroverse Diskussionen um die Staatsangehörigkeit, das Zuwanderungsgesetz, das Asylgesetz und Ähnliches die Trennlinien zwischen Mehrheits- und Einwanderungsgesellschaft vertiefen.
So wird inzwischen weniger die Gemeinsamkeit der Rechten (der antikommunistische Kampf) als vielmehr die eigene türkische Identität betont. Türkisch-rechtsextreme Organisationen haben neuen Aufwind für die Mobilisierung des „Europäischen Türkentums“ (siehe dazu Kasten: Das „Europäische Türkentum“) erhalten. Den Grundbaustein für die Politik und Ideologie des „ethnischen Nationalismus“ in der Einwanderungsgesellschaft bilden zugleich auch heimatorientierte parteipolitische Inhalte, Medien, Fernsehkanäle (über Satellit) und Ähnliches. Diese Mobilisierung schafft zweifelsohne eine neue Form von Rechtsextremismus auf bundesdeutschem Terrain.


Zum Autor
Dr. Emre Arslan ist als Lehrkraft für besondere Aufgaben für das Projekt „Mehrsprachigkeit” an der Universität Bielefeld beschäftigt
LOTTA empfiehlt: Emre Arslan: Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland, VS Verlag, Wiesbaden 2009, 266 Seiten, ISBN: 978-3-531-16866-1

Der Artikel erschien in LOTTA #48, Sommer 2012.