Capoeira, China, Concertina

In Rudolstadt ging das Tanz&FolkFest 2012 zuende

Letztes Wochenende trafen sich in Gera wieder Neonazis zum „Rock für Deutschland“. Neun Jahre beachtete kaum jemand diese Konzerte. Nach dem Auftauchen des Trios aus dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ kam nun sogar die Ministerpräsidentin zur Gegendemonstration nach Gera. Dabei gab es den radikaleren Widerspruch gegen Deutschtümelei nur wenige Kilometer entfernt in Rudolstadt, wo von Donnerstag bis Sonntag sich über 85 000 zu Deutschlands größtem Weltmusik-Festival „Tanz&FolkFest“ (TFF) mit 1200 Mitwirkenden aus 40 Ländern versammelten.

Rudolstadt, nein, nicht Rudol-f-stadt, kannten lange Zeit nur literarisch Vorgebildete als den Ort, an dem 1788 Schiller erstmals Goethe traf und 1943 Wolf Wondratschek das Licht der Welt erblickte. Zwar ist das Städtchen, das zu Wendezeiten noch etwa 30 000 Einwohner zählte, inzwischen auf grade mal noch 24 000 Einwohner geschrumpft, aber kreativen Köpfen ist es gelungen, mit jährlich wechselnden Länder-, Instrumente- und Tanzschwerpunkten hier jeweils am ersten Juliwochenende das Mekka der Weltmusik zu etablieren, zu dem von Jahr zu Jahr wachsende Besuchermassen pilgern. Ausgangspunkt des Spektakels war das „1. Fest des deutschen Volkstanzes“, das damals noch gesamtdeutsch orientierte Kommunisten 1955 in dem einstigen Residenzstädtchen veranstaltet haben. Jetzt fand das 22. TFF neuer Zeitrechnung statt, das inzwischen etliche ARD-Rundfunksender mit ihren Übertragungswagen ins Saaletal lockt.

Als Länderschwerpunkt war ursprünglich Kolumbien angekündigt, aber als sich abzeichnete, dass 2012 das chinesische Kulturjahr in Deutschland gefeiert wird, stand fest: „Made in China“ ist das Synonym für Globalisierung, und der Länderschwerpunkt ist überfällig. Also ließen sich die Festivalorganisatoren die Gelegenheit nicht entgehen, Staatshilfe bei Visaformalitäten und Reisekosten in den Festivaletat von 1,7 Millionen Euro einzuplanen. Dabei habe man sich, betonen sie, inhaltlich keine Vorgaben auferlegen lassen. Die Musikauswahl verantwortet vor allem der Komponist Robert Zollitsch, der seit zwei Jahrzehnten in China lebt.

Das Ensemble Yi Jia Ren (Die ganze Familie) ist tatsächlich eine Familienkapelle, die musizierend über die Dörfer zog. Zollitsch entdeckte sie per Internet im Video einer Hochzeitsfeier. Ekstatisch spielten die beiden weiblichen Gruppenmitglieder bisher kaum gesehene Blasinstrumente. Mit Suona, der Mundorgel Sheng und der aus einer Kokosnuß hergestellten zweisaitigen Geige Banhu verzückte die Combo ihr Publikum ebenso wie die in China längst populäre Rock-Band Er Shou Mei Gui („Used Roses“ wird das auf der CD übersetzt), die in ihrer Musik traditionelle Einflüsse hörbar macht. China-Musik ist nicht nur Lang Lang, wird sich mancher gedacht haben, der im Hof der Heidecksburg den Auftritt der Sängerin Gong Linna und ihres Chores DaBaiSang zusammen mit den Thüringer Sinfonieorchester Saalfeld-Rudolstadt erlebt hat. Ein temperamentvoller Grenzgang zwischen Kunstmusik und der Volksmusik ihrer Heimat Guizhou.

Wenig später wurde auf derselben Bühne diplomatisch via Indien der Bogen nach Tibet geschlagen. Mönche des südindischen Klosters Bylakuppe – mit Ursprung im Tashi-Lhunpo-Kloster in Tibet – präsentierten zum Geburtstag des Dalai Lama um Mitternacht ihr Programm „Power of Compassion“ mit Gesängen, ritueller Musik und Tänzen. Was allerdings manche einzuschläfern drohte, jedenfalls entschwanden viele dann doch lieber zur Party mit der kolumbianischen Gruppe Systema Solar im Heinepark. Am Rande des Festivals konnte man eine Konferenz besuchen, die sich unter dem Titel „Sketches of China“ traditioneller Musik im Reich der Mitte widmete – oder durch eine Ausstellung schlendern, die zum 100. Geburtstag Woody Guthries Michael Kleff, dessen Schwiegersohn und einer der TFF-Macher, mitgebracht hatte.

Eine Premiere war der Auftritt des nach dem Tod von Earl Scruggs und Barney McKenna wohl besten Banjo-Spielers Béla Fleck mit der Sängerin Oumou Sangare, mit der er sich bei der Suche nach den afrikanischen Wurzeln seines Instruments zusammengetan hat. My Sweet Canary, Musiker aus Israel, Türkei und Griechenland, erinnerte an die griechische Rembetiko-Legende Roza Eskenazi. Die Gruppe Pascuale Ilabaca y Fauna überraschte diejenigen, denen bei Chile nur Victor Jara,  Inti Illimani oder Quilapayun einfällt, mit neuer chilenischer Musik.

Typisch Rudolstadt war auch das Projekt "Strom & Wasser feat. The Refugees": Heinz Ratz (Strom & Wasser, erreichbar unter ratteratz@hotmail.com)) hat zwischen Januar und April letzten Jahres fast 8000 Kilometer mit dem Fahrrad Flüchtlingsunterkünfte und andere Orte abgeklappert, um Instrumente für Musiker zu sammeln und zu verteilen, die - oft auf Weltklasseniveau und bekannt in den Herkunftsländern -  hierzulande mit den üblichen Arbeits- und Reiseverboten ihre Verfahren abwarten. Rudolstadt bot ihnen für drei Auftritte die Bühne.

Während Alison Krauss mit dem Dobro-Guru Jerry Douglas im Burghof ihr erstes von nur zwei Deutschlandkonzerten der diesjährigen Europa-Tournee gab, trat anderswo Les Yeux d’la Tête (Foto: Platzdasch) auf – für viele die Entdeckung des Festivals. Ihr Sound erinnert an Les Negresses vertes, jedoch kennzeichnet das Pariser Sextett eine unverwechselbare, das Publikum ins Schwitzen bringende, fiebrige Mischung aus Chanson, Jazz und Musette, Flamenco und Maghreb.

Als „magisches Instrument“ des Jahres wurde die Konzertina vorgestellt. Der Reiz dieses Festivals ist, dass sich vor dessen Beginn Koryphäen verschiedener Länder treffen, um mit diesem Instrument eine Session zu erarbeiten. Dazu trafen sich der Engländer Alistar Anderson, die Burinnen Leonie Avenant und Mariaan Wiese, aus Irland Holly Geraghty und Matt Griffin, der Argentinier Juanjo Mosalini, der Franzose Olivier Sens und die deutschen Rainer Prüß und Horst Voit. Deren erster Auftritt musste jedoch abgebrochen werden, weil der fast achzigjährige Voit aus Plauen im Voigtland, nahezu der Letzte, der das Instrument in Deutschland noch beherrscht und der sich eigentlich schon länger aus dem Musikbetrieb zurückgezogen hatte, auf der Bühne zusammenbrach. Ärzte, auch aus dem Publikum, rangen um sein Leben, die Wiederbelebung gelang; noch liegt er auf der Intensivstation – auf Youtube gibt es ein bisher kaum beachtetes, älteres Video Blue Tango, das ihn im Wohnzimmer spielend zeigt. Bei einem späteren „Magie-Konzert“ ohne Voit in der Kirche klang der Tango noch trauriger als sonst.

Beim Tanz des Jahres standen diesmal „Straßentänze“ auf dem Programm, von englischen Morristänzen bis zum brasilianischen Capoeira. Da ging es sehr artistisch zu, so dass sich bei den angebotenen Tanzkursen oft zuerst nur Kinder auf die Dielen wagten.

Den Weltmusikpreis „RUTH“ bekam der gerade siebzig Jahre alt gewordenen Hannes Wader für sein Lebenswerk verliehen. Er trat zum ersten Mal in Rudolstadt auf. Ob er sich in der Heidecksburg an die Anfänge auf Burg Waldeck erinnert hat? Jedenfalls begeisterte sein Auftritt mit der - von ihm durch alle Zeiten durchgehaltenen - sanften Bosheit und Unberechenbarkeit. Sein Blick ging nicht zurück, sondern voraus: zum Tod. Zu dem, was er noch vorhat zu singen, frozzelte Wader, das „passt alles gar nicht auf die neue CD“, die Ende August erscheinen soll. Er trug „nur die ersten acht Strophen“ des „ersten Fortsetzungslieds der Kulturgeschichte“, das sich über mehrere CD erstrecken könnte, vor. Und der Widerborstige erschreckte sein Publikum mit der Ankündigung, auf einem Rentner-Event „Rock am Stock“ oder sonstwo, „in der Todesstunde“ der NPD beizutreten – er wolle nicht „abkratzen als ‚aufrechter linker Demokrat’“.

TFF-Länderschwerpunkt 2013 soll Italien werden, Instrument des Jahres die Flöte; der Festivaltanz wird noch gesucht – Vorschläge willkommen!

TFF zum Nachschauen und Nachhören:

·        Donnerstag, 12. Juli
23.40-00.40 Uhr / MDR-Fernsehen
Ein irrer Hauch von Welt – TFF Rudolstadt 2012

·        Sonntag, 15 Juli
23.05-24.00 Uhr / BR-Klassik Musik der Welt
Magic Concertina: Die Welt in Falten

·        Mittwoch, 1. August
20.03-21.30 Uhr / Deutschlandradio Kultur In Concert
Alison Krauss & Union Station feat. Jerry Douglas beim 22. TFF Rudolstadt

·        Mittwoch, 12. September
20.03-21.30 Uhr / Deutschlandradio Kultur In Concert
John Hiatt & Band beim 22. TFF Rudolstadt