Kalter Putsch in Paraguay

Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen bei einer Landbesetzung führt die Legislative ein eiliges Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Lugo durch

 

Schon lange lag der Verdacht auf der Hand, dass die liberalen Koalitionspartner von Fernando Lugo am liebsten selbst regieren wollen. Nun hat es Vizepräsident Federico Franco geschafft, er ist selbst Präsident. Die Agrarlobby kann sich freuen, nun steht ihren Interessen niemand mehr im Wege.

Paraguays Ausflug in die Demokratie ist nach kurzer Zeit beendet. Am 22. Juni enthob der Senat des Landes den 2008 gewählten Präsidenten, Fernando Lugo, durch einen politischen Prozess seines Amtes. Als Nachfolger bestimmten die Senator_innen den bisherigen Vizepräsidenten, Federico Franco, von der Radikalen Authentischen Liberalen Partei (PLRA), mit der Lugo lange koalierte. Franco galt intern schon länger als schärfster Widersacher Lugos. Francos Partei vertritt die Interessen der Großgrundbesitzer_innen; zu Lugos buntem Unterstützer_innenkreis gehören vor allem Arme, Landlose sowie Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
Begründet wurde das politische Gerichtsverfahren mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen Landbesetzer_innen und der Staatsmacht am 15. Juni in Curuguaty, nahe der brasilianischen Grenze. Dort besetzten Aktivist_innen ein Landstück des Großgrundbesitzers Blas Riquelme. Nach einigen Wochen der Besetzung ließ Riquelme Ende Juni „sein“ Grundstück mit Polizeigewalt räumen. In mehrstündigen Kämpfen starben dabei mindestens 17 Menschen, darunter sieben Polizisten, viele andere wurden verletzt. Woher die ersten Schüsse kamen, ist bislang ungeklärt. In einem Bericht der linken Nachrichtenwebseite Toward Freedom wurde beschrieben, wie die Polizei nach den Zusammenstößen Menschenrechtsgruppen nicht auf das Gelände ließen. Zahlreiche Beweise seien vernichtet worden. Augenzeug_innen berichteten davon, dass Scharfschützen die ersten Schüsse abfeuerten. Angesichts dieser Informationen wirkt es unglaubwürdig, dass die Gewalt wirklich von den Besetzer_innen ausging.
Der Jesuit Franco Oliva sprach im Interview mit der Agentur adital von einer „gut vorbereiteten Falle“, in die Lugo gelockt wurde. Die rechtskonservative Colorado-Partei Asociación Nacional Republicana (ANR) und die Liberalen hätten gespürt, dass sich in den sozialen Bewegungen zuletzt viel tat – und zogen die Reißleine, sagte der Befreiungstheologe.
Direkt nach den Vorfällen in Curuguaty hatte Lugo den Polizeichef entlassen, sein Innenminister Fillizola trat zurück. Landesweit protestierten Tausende gegen den Vorfall. Schließlich initiierte die Legislative das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo. Es wirkt so, als hätten seine Koalitionspartner, die Liberalen der PLRA, nur auf eine Gelegenheit gewartet, um mit ihren ehemaligen Erzfeinden, den Colorados der ANR, gemeinsame Sache zu machen, und ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.
Liberale und Colorados warfen Lugo unter anderem „schlechte Amtsführung“ vor. Die Verfassung Paraguays sieht tatsächlich seit 1992 bei schlechter Amtsführung ein politisches Gerichtsverfahren vor. Was das aber bedeuten soll, ist völlig unklar. Durchgeführt wurde das Verfahren niemals – es gibt nicht einmal ein Regelwerk dafür. Am Donnerstag, dem 21. Juni, stimmten 76 von 80 Kongressmitgliedern für die Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens. Tags darauf hatten zwei seiner Anwälte ganze zwei Stunden Zeit, ihn vor dem Senat zu verteidigen. Danach entschieden sich die Senator_innen mit 36 zu 4 Stimmen für die Amtsenthebung. Die Mehrheit in der Kammer hat die ANR, gemeinsam mit den Stimmen der rechtsliberalen PLRA kamen sie leicht auf die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Nur 24 Stunden nach der Eröffnung des Prozesses schwor der ehemalige Vizepräsident Franco seinen Amtseid.
Die Vorwürfe, die Lugo gemacht wurden, wirken zusammengeschustert und konstruiert. Angeblich habe der Präsident die Guerilla Paraguayische Volksarmee (EPP) unterstützt. Die EPP weist dies zurück, gegen die absurden Vorwürfe konnte sich Lugo nie richtig verteidigen. Die International Herald Tribune kommentierte, „das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo kam kaum auf das Niveau eines Schauprozesses.“
Nun regieren die Liberalen wieder das Land, zum ersten Mal seit 1936. Pikanterweise tun sie das mit dem Segen ihrer historischen Feinde, der Colorados. Die Colorados und die Liberalen hatten sich noch 1947 in einem Bürgerkrieg bekämpft. Unter der Diktatur des Colorados Alfredo Stroessner (1954-1989) war die PLRA lange verboten. Doch eigentlich vertreten beide Parteien vor allem die Interessen der mächtigen Agrarlobby.
Der Gegensatz zwischen der armen Landbevölkerung Paraguays und den Großgrundbesitzer_innen, die mit industrieller Landwirtschaft ein Vermögen verdienen, liegt allen politischen Konflikten des Lande zugrunde. Auch bei den Zusammenstößen in Curuguaty ging es um diesen Grundkonflikt. Die Proteste richten sich gegen den ehemaligen Funktionär der ANR Blas Riquelme, dessen Partei von 1947 bis zur Wahl Lugos mehr als 60 Jahre die Regierungsgewalt innehatte. Riquelme hatte den Landstrich in den 1970er Jahren, wie so viele andere Vertraute des Regimes von Diktator Alfredo Stroessner, erhalten. Diese Art der Besitzverteilung war lange normal in Paraguay. Schätzungen sprechen davon, das Stroessner während seiner Diktatur etwa 19 Prozent der Landesfläche an seine persönlichen Verbündeten verschenkte.
Nicht zuletzt wegen der engen Bindung der Agrarindustrie an die langjährige Stroessner-Diktatur besitzen heute weniger als drei Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Bodens. Obwohl seit 1989 die Stroessner-Diktatur beendet war, konnte man nicht von einer wirklichen Demokratisierung sprechen. Die Colorado-Partei regierte weiter im Interesse der Großgrundbesitzer_innen. Ihre zahlreichen Verbrechen wurden nicht geahndet, jeder Protest gegen sie aber kriminalisiert.
Fernando Lugos Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2008 basierte auf diesem Umstand. Lugo war Priester und seit 1994 Bischof der verarmten Diözese San Pedro. Stark beeinflusst von der Befreiungstheologie, die Katholizismus mit sozialistischen Positionen vereinbaren wollte, entschied er sich, sein Priesteramt aufzugeben und in die Politik zu gehen. Von der Hoffnung getragen, die bestehende Ungerechtigkeit im Land und die Herrschaft der Colorados zu beenden, wurde er 2008 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Doch bisher war er damit kaum vorangekommen. Gegen die Stimmenmehrheit der Opposition im Parlament und gegen die Liberale PLRA in der eigenen Regierung vermochten es Lugo und seine Getreuen nicht, eine Landreform durchzusetzen. Landbesetzungen sind an der Tagesordnung, Menschenrechtsgruppen sprechen von mehr als 100 Toten, die in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zu beklagen waren. Zunehmend waren auch die Unterstützer_innen Lugos von seiner Regierung enttäuscht, weil keine Landreform durchgeführt wurde. Für die Wahlen im kommenden April sahen Beobachter_innen schon vor dem Putsch eher einen Wahlsieg der Colorados voraus. Doch bis nächsten August, wenn der neue Präsident vereidigt wird, wollten Liberale und Colorados wohl nicht warten und fertigten den Präsidenten im Schnellverfahren ab.
Fast alle lateinamerikanischen Staaten verurteilten den Vorgang scharf. Selbst Kolumbiens Regierung, übermäßigen Sympathien für linke Regierungen völlig unverdächtig, sprach von einem „irregulären Verfahren“.
Deutschlands Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, hingegen gehört zu den wenigen, die den Umsturz begrüßten. Der FDP-Politiker war als erster europäischer Minister vor Ort und gratulierte dem Parteifreund Franco. Während mehrere Staaten ihre Botschafter_innen abzogen und von einem verkappten Putsch sprachen, sagte Niebel laut deutschen Medien:„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es bei dem Regierungswechsel verfassungswidrig zugegangen ist.“ Mit der Meinung stand und steht er ziemlich alleine da, sogar das Auswärtige Amt ruderte inzwischen zurück und will die Situation eingehend prüfen.
Lugo selbst akzeptierte die Entscheidung des Senats – zunächst. Auch, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Denn bereits am Tag des Prozesses hatten sich etwa 5.000 Demonstrant_innen am Parlamentsgebäude eingefunden. Viele beklagten, dass das Busunternehmen die Verbindungen eingestellt hatten. Die Lizenzen für die Busse werden meist an politische Mandatsträger_innen verteilt. Nach der Verkündung der Entscheidung schlugen Polizist_innen los. Tränengas und Schlagstöcke wurden eingesetzt und die Menge auseinander getrieben. Bis zum Redaktionsschluss wurde überall im Land von Protesten gegen das neue Regime berichtet. Die Aktivist_innen vernetzen sich über die Webseite paraguayresiste.com.
Zu Treffen des MERCOSUR und des UNASUR luden die Mitglieder Lugo ein, die Regierung Franco wurde ausgeladen. Der geschasste Präsident sagte sein Kommen beim MERCOSUR-Gipfel in Mendoza zunächst ab. Die Mitglieder schlossen Paraguay bei dem Treffen aus der Staatenvereinigung vorläufig aus und nahmen dafür Venezuela auf. Genau das Land, dessen Aufnahme die paraguayische Agrarlobby stets zu verhindern wusste.
„Wir bedauern die Situation, aber es gibt zur Zeit in Paraguay keine funktionierende Demokratie“, sagte der brasilianische Außenminister Antonio Patriota. Lugo begrüßte den Entschluss. Eliten des neuen Regimes wiesen ihn zurück und brachten eine Volkabstimmung über einen Verbleib Paraguays in der Gemeinschaft ins Spiel.
Als Retourkutsche für die internationale Isolierung des Landes sucht nun der neue Außenminister Francos, Juan Fernández Estigarribia, die Nähe Großbritanniens. Dieses befindet sich mit Argentinien im Streit um die Malvinen/Falkland Inseln im Südatlantik vor der argentinischen Küste. Das Außenministerium in London kündigte an, die seit 2005 geschlossene Botschaft in Asunción wieder zu öffnen. In der Colorado-eigenen Netzzeitung El Colorado wurde bereits die Botschaft der „befreundeten Nachbarn“ begrüßt, eine eindeutige an Argentinien gerichtete Provokation.
War das Amtsenthebungsverfahren nun ein Parlamentsputsch oder nicht? Dieser Frage ging das paraguayische Verfassungsgericht am Montag, dem 25. Juni, nach. Nein, alles sei verfassungsmäßig abgelaufen. Formaljuristisch mag das stimmen, doch wenn man sich die Anklagepunkte anschaut, nach denen Präsident Lugo verurteilt wurde, bekommt man an der Legitimität der Entscheidung seine Zweifel. Wenn man bedenkt, wie schnell Lugo abgefertigt wurde, erst recht.
Dies sah auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH so. Die unabhängige Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS schrieb in einer Pressemitteilung vom 23. Juni, dass „die Geschwindigkeit, mit der die Amtsenthebung durchgeführt wurde, unannehmbar“ sei. Die Kommission sehe die Rechtsstaatlichkeit in Paraguay gefährdet.
Die Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Iñigo Errejón und Alfredo Serrano attestierten im Fall Paraguay in der Zeitung El Ciudadano einen golpismo blando – einen „sanften Staatsstreich“. Dabei handele es sich um eine neue Form des undemokratischen Putsches. Zuletzt haben in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten staatliche Institutionen versucht, einen politischen Umsturz unblutig auf diese Art zu erzwingen, analysierten sie.
Berichten zufolge könnte der Parlamentsputsch von Akteuren aus der multinationalen Agrarindustrie gestützt worden sein. Saatgutunternehmen wie Monsanto und Cargill haben sich demnach mit Großgundbesitzer_innen und der Liberalen Partei verbündet, wodurch genmanipulierte Saat in Paraguay zunächst zugelassen wurde. Vertreter_innen eines von den Unternehmen dominierten Verbandes fuhren seit Längerem eine mediengestützte Hetzkampagne gegen Lugo-treue Regierungsmitglieder, hieß es.
Das hält auch Martin Almada, Träger des Alternativen Nobelpreises und Menschrechtsaktivist für plausibel. Er fordert eine rasche Untersuchung sowohl der tödlichen Kämpfe als auch der Amtsenthebung durch eine internationale und neutrale Kommission. „Wieder einmal wurden Recht und Gerechtigkeit ausgehebelt, wieder einmal auf dem Rücken der arbeitenden Klasse und der Kleinbauern“, sagte er. Almada fürchtet einen Rückfall in diktatorische Zeiten, etwa durch das Ausrufen eines Ausnahmezustandes und zunehmende politische Isolation des Landes.
Es sieht so aus, als könne die Agrarlobby nun wieder ungestört im Lande schalten und walten. Einige Agrarunternehmer_innen begrüßten bereits gegenüber der uruguayischen Zeitung El Observador die Ankündigung der Regierung Francos, Umweltstandards zu lockern. Künftig soll es wesentlich einfacher werden, Waldgrundstücke in Viehweiden umzuwandeln.
Allerdings könnte der Fall am Ende eine ganz neue Wendung nehmen. Der Widerstand gegen die Agrarlobby mehrt sich – und auch der Parlamentsputsch provozierte zahlreiche Proteste. So einfach wie zu Stroessners Zeiten wird sich nicht gegen die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit regieren lassen. Egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt.