Do it yourself im griechischen Gesundheitswesen

Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen in Zeiten der Krise

in (27.08.2012)

Das griechische Gesundheitssystem war schon von der Krise von Korrup­tion und »Fakellaki« (eine griechische Verniedlichungsform für einen Um­schlag – in dem Geld steckt) geprägt. Ohne private Zuzahlung lief kaum etwas im Krankenhaus oder beim Arzt. Im Zuge der Krise hat sich die Lage aber noch mal extrem verschärft. Es gibt viele und hohe Zuzahlung, die im Zuge der Krise gesetzlich beschlossen worden sind. Für viele verarmte GriechInnen ist Gesundheitsversorgung unbezahlbar geworden. Darauf reagieren inzwischen Beschäftigte – nicht nur in Krankenhäusern – mit Eigeninitiative, die bis zu Besetzungen geht. Anna Leder stellt uns verschieden solcher Projekte aus dem Gesundheitswesen vor und unten findet Ihr die Ankündigung einer Solidaritätsreise nach Griechenland, um aktive und im Widerstand Beschäftigte zu treffen und mit ihnen über die aktuelle Lage und Perspek­tiven zu diskutieren.

 

Die Krankenhausbesetzung von Kilkis[1] be­gann am Vormittag des 13. Februar 2012, so wie es die Vollversammlung der Beschäftigten ein paar Tag davor beschlossen hatte. Die erste Gruppe besetzte das Büro des Direktors, die zweite die Verwaltungsabteilung, eine dritte die Finanzabteilung. Dem Direktor als verlängertem Arm des Gesundheitsministers sollte es nicht mehr möglich sein, irgendwelche Beschlüsse der Regierung umzusetzen. Es sollten keine Kündigungen mehr ausgesprochen werden können, die Kommunikation nach Außen wurde von den BesetzerInnen kontrolliert und auch das strategisch wich­tigste Ziel wurde erreicht: Die PatientInnen mussten von diesem Moment an keinen Cent mehr für irgendeine medizinische Leistung bezahlen. Mit der Feststellung, dass ›keine Gewalt‹ im Spiel sei, weigerte sich die herbeigerufene Polizei einzuschreiten.

Der medizinische Alltag selbst ging weiter wie bisher, nur eben unentgeltlich.

Unmittelbarer Anlass der Besetzung war die Forderung nach der Rücknahme eines Gesetzes, das vorsah, rückwirkend mit November 2011 die Grundgehälter der verschiedenen Berufsgruppen um nahezu ein Drittel zu kürzen. So kam es, dass im Januar einzelne Beschäftigte gerade einmal ein paar Euro, andere sogar ein Minus auf ihrem Gehaltskonto vorfanden.

Die politische Idee zu dieser Besetzung stammte von einer Gruppe um Leta Zotakis, Vorsitzende der Gewerkschaft der KrankenhausärztInnen von Kilkis und seit mehr als 25 Jahren als Ärztin dort tätig. Die Aktion sollte Auftakt zu einer landesweiten Welle von Be­setzungen sein, um nicht nur die Illegitimität der Regierungsmaßnahmen aufzuzeigen, sondern diese auch praktisch zu verhindern.[2]

Was 2009 unter der Regierung Papandreou mit drei Euro ›Eintrittsgebühr‹ bei der Inanspruchnahme ambulanter Leistungen begonnen hatte, ist bis heute zu einem System von unvorstellbaren Dimensionen gewachsen. So sind z.B. für einmaliges Röntgen etwa 15 Euro zu bezahlen, eine einfache Blutuntersuchung kostet zehn Euro. Hat eine Frau das Glück, ihr Kind auf natürlichem Weg zur Welt bringen zu können, so kommt sie mit 1000 Euro davon, ist ein Kaiserschnitt erforderlich, so werden 1500 Euro an Eigenbeteiligung fällig. Inzwischen sind sogar einige Fälle bekannt, bei denen das Neugeborene gleichsam als Geisel im Krankenhaus behalten wurde, bis die Mutter die Gebühr bezahlt hatte.

Dazu kommt, dass eine wachsende Zahl von Krankenhäusern, aber auch niedergelassenen ÄrztInnen und Apotheken, Vorleistungen von ihren PatientInnen verlangt, sei es in Form von Geld, der Mitnahme von Medikamenten o.ä., obwohl diese Leistungen eigentlich durch die staatliche EOPYY abgedeckt sind. Grund dafür ist, dass die EOPYY, die 2011 aus verschiedenen defizitären Krankenkassen entstandene staatliche Krankenversicherung, inzwischen kolportierte 3,7 Milliarden Euro Schulden bei ihren Vertragspartnern hat.

Zwei bis drei Mal wöchentlich fanden in Kilkis die Vollversammlungen der Beschäftigten statt, manchmal auch im Stadtsaal, um die örtliche Bevölkerung besser einbinden zu können. Doch die Drohungen, Anschwärzungen und die Verbreitung eines Klimas der Angst seitens der Krankenhausleitung wurden von Woche zu Woche massiver. Die Versammlungen erhielten immer weniger Zulauf. Vielen Beschäftigten, vor allem gering Qualifizierten, wurde mit Entlassung, AusbildungsärztInnen mit der Nichtanerkennung ihrer Dienstzeiten gedroht. Auch die Unterstützung durch die Bevölkerung beschränkte sich mehr und mehr auf Zustimmung unter vier oder sechs Augen. So ging nach drei Wochen die Besetzung zu Ende, ohne dass eine Vollversammlung dies überhaupt hätte be­schlie­ßen können.

In den nächsten Monaten folgte eine Reihe von Krankenhäusern in verschiedenen griechischen Städten dem Beispiel von Kilkis. Es waren dies unter anderem das Krankenhaus von Ieripetra auf Kreta, wo es gelang, zeitgleich mit dem Krankenhaus auch das Rathaus der Stadt zu besetzen. Doch diese Besetzungen konnten höchstens für zwei bis drei Tage aufrechterhalten werden, und ihre Bedeutung blieb im Unterschied zu Kilkis eher symbolisch. Jedenfalls ist mit diesen Besetzungen ein Netzwerk von Krankenhäusern, von dem auch in Zukunft Widerstand erwartet werden kann, geschaffen worden.

Ein Grund für neuerliche Proteste ist schon in Sicht. Seit kurzem sind Pläne der Regierung bekannt, im Spätherbst diesen Jahres 60 (!) der insgesamt 132 griechischen Krankenhäuser ›zusammenzulegen‹, was de facto deren Schließung bedeutet. Dabei würde schätzungsweise mindestens ein Drittel der Arbeitsplätze verloren gehen.

 Das ›Gesundheitszentrum der Solidarität‹[3]

 Im Januar 2011 fand ein Hungerstreik von 300 maghrebinischen MigrantInnen statt[4], 50 von ihnen waren in Thessaloniki interniert. Die sie betreuenden ÄrztInnen be­schlossen, nach dem Streikende weiterzumachen und nach dem Vorbild eines kleinen Zentrums in Rhetimon/Kreta ein selbstverwaltetes Gesundheitszentrum aufzubauen. Es war vorwiegend für migrantische PatientInnen ohne Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem geplant. Doch bereits mit der Eröffnung im November 2011 zeigte sich, dass die Nachfrage der griechischen Bevölkerung mindestens genauso groß war. Deren Anteil an den PatientInnen wird derzeit auf 50 bis 70 Prozent geschätzt, wobei von ca. einem Drittel medizinisch unterversorgter Menschen landesweit ausgegangen werden muss.

Im Zentrum sind inzwischen über 150 ÄrztInnen aller Fachrichtungen sowie Pflegepersonal und SozialarbeiterInnen tätig. Es gibt auch eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische Abteilung. Die in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Schule untergebrachte Einrichtung beherbergt zudem eine Apotheke, die von ihrer Ausstattung her mit einem mittleren Krankenhauses mithalten kann. Die Zahl der seit der Eröffnung behandelten PatientInnen lässt sich nur sehr ungefähr mit 2-3000 beziffern. Denn das ›Ge­ sundheitszentrum der Solidarität‹ hat in­ zwischen längst seine räumlichen Grenzen gesprengt. In der Stadt finden sich mehr und mehr ÄrztInnen, die bereit sind, Patientinnen in ihrer eigenen Praxis unentgeltlich zu behandeln. Auch immer mehr Abteilungen von Krankenhäusern schleusen unversicherte Menschen an den Verwaltungen vorbei, um sie umsonst zu behandeln. Außerdem sind inzwischen landesweit Kliniken nach dem Vorbild Thessa­lonikis entstanden.

Was seit der Eröffnung gleichgeblieben ist, sind die politischen Grundsätze: Gearbeitet wird auf Augenhöhe mit den PatientInnen in dem Wissen, dass die Seiten auswechselbar sind. Nicht Menschenliebe oder karitatives Engagement, sondern Solidarität ist Trieb­feder der Arbeit.

Die Arbeit geschieht ausnahmslos unentgeltlich, d.h. für die meisten in ihrer Freizeit. Gearbeitet wird, weil ›die Arbeit gemacht werden muss‹, da sie sonst keine/r machen würde. PatientInnen werden dazu aufgefordert, an dem Projekt zu partizipieren. So sind die etwa 50 in der Verwaltung Beschäftigten ehemalige PatientInnen. Andere sorgen für die Reinigung, wieder andere bemühen sich um Spenden.

Der Staat muss draußen bleiben. Mit ihm wird nicht kommuniziert, von ihm werden keine Gelder angenommen. Es werden keine ›formalisierten‹ Zuwendungen, sondern nur Spenden auf privater Ebene entgegengenommen. Jegliche Werbung für getätigte Spenden ist untersagt. Nicht nur kommerzielle, auch (partei)politische Werbung wird nicht geduldet, da nach Ansicht der Beteiligten ansons­ten die Identifikation mit dem Zentrum gefährdet wäre. Auf der anderen Seite sieht es die Vollversammlung des ›Gesundheitszentrums‹ als ihre Pflicht an, öffentlich Stellung zu Gesundheitsthemen zu beziehen.

Wenig erstaunlich, dass sich die Begeisterung von Seiten der großen Gewerkschaftsverbände, aber auch vieler linker Organisationen sowohl für die selbstverwalteten Kliniken als auch für die Krankenhausbesetzungen in Grenzen hält, bzw. diese offen als systemerhaltend diffamiert werden. Hier gibt es keinen Platz für deren repräsentative Formen
der Politik.

Den BesetzerInnen von Kilkis war es gelungen, drei Wochen lang das Prinzip einer freien Gesundheitsversorgung durchzusetzen, damit eine der unpopulärsten Maßnahmen der Regierung außer Kraft zu setzen und so auch die Regierung insgesamt in Frage zu stellen. Mit Leta Zotakis als ihrem Symbol erreichten sie landesweit, aber auch international eine unglaubliche Popularität. Die BetreiberInnen des ›Gesundheitszentrums der Solidarität‹ zeigen, was es heißen kann, jenseits der Prinzipien des geldbasierten Tausches, der Bevormundung, des Sozialstaates eine Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie tun, ›was getan werden muss‹, um sich einem menschenverachtenden, so­zialdarwinistischen System entgegenzustellen.

Sie tun damit, was heute getan werden muss: gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Schritte in eine menschenwürdige, selbstorganisierte Gesellschaft zu gehen.

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/12

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express

 



[1] Kilkis ist eine Stadt in Nordgriechenland mit ca. 18000 Einwohnern, ca. 40 km von Thessaloniki entfernt. Das Krankenhaus mit 600 Beschäftigten ist Einzugsgebiet für mehr als 50000 Menschen der Region.

[2] Dokumente zur Besetzung finden sich auch auf labournet.de

[3] ›Social Dispensary of Solidarity‹: Dispensary lässt sich auf Deutsch nur recht unzulänglich mit ›Krankenhausapotheke‹ oder treffender mit ›Armenapotheke mit ärztlichem Beistand‹ übersetzen.

[4] Der Hungerstreik endete nach 44 Tagen mit beachtlichen politischen Zugeständnissen, s.a.