Berufliche Weiterbildung in Deutschland

Analyse eines Notstands

Weiterbildung gilt als zentraler Teil Lebenslangen Lernens. Seine Bedeutung für die Bewältigung des demografischen Wandels, für Innovation und damit Wirtschaftswachstum und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit nimmt zu. Es gibt deshalb in der öffentlichen Debatte eine große Wertschätzung und einen breiten Konsens über die Notwendigkeit zum Ausbau des Systems. Doch die Praxis bleibt weit dahinter zurück. Angesichts der nach wie vor bestehenden gravierenden Defizite konstatieren Mechthild Bayer und Roman Jaich eine große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Wer sich in Deutschland weiterbilden will, stößt nach wie vor auf erhebliche Barrieren. Um die Leistungsfähigkeit der Weiterbildung ist es nicht gut bestellt. Das zeigen alle relevanten Untersuchungen: die internationalen Vergleichsstudien des Bundesinstituts für Berufsbildung, die Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das Berichtssystem Weiterbildung/Adult Education Survey (AES). Erstaunlich ist, dass hartnäckig ein Thema diskutiert wird, sich aber nichts ändert.

Bekannte Defizite in der Weiterbildung

Bereits die von der damaligen Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission "Finanzierung Lebenslangen Lernens" formulierte 2002 in ihrem Zwischenbericht nach einer Analyse der Weiterbildungssituation in Deutschland: "Die weit verbreitete Erwartung, Weiterbildung könne gegenüber der im Schul-, Ausbildungs- und Hochschulsystem wirkenden Ungleichheit der Zugangs-, Prozess- und Ergebnischancen kompensatorisch wirken, wird durch die Befunde, die im Übrigen von allen referierten Datenquellen geliefert werden, nicht gestützt."1 In ihrem Abschlussbericht 2004 bescheinigte sie dem System finanziell und konzeptionell nicht zukunftsfähig zu sein und damit selbst zur Innovations- und Wachstumsbremse zu werden. 2006 bestätigte die Autorengruppe Bildungsberichterstattung diesen Befund: "Politisch nachdenklich stimmen sollte auch der Sachverhalt, dass Deutschland bei der Weiterbildungsbeteiligung (einschließlich informeller Lernaktivitäten) innerhalb der EU-15-Staaten eher am unteren Ende rangiert. Ob damit nicht auch die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit auf lange Sicht beeinträchtigt wird, ist eine offene Frage."2

An dieser Situation hat sich seitdem nichts grundsätzlich geändert. Gravierende und durchaus bekannte Defizite hinsichtlich Zeit, Finanzierung, Information und Transparenz, Qualität und Verwertung verhindern, dass Lebenslanges Lernen zum selbstverständlichen und kalkulierbaren Teil von Biografien werden kann. Auch der aktuelle Nationale Bildungsbericht 2012 bilanziert eine wachsende Lücke zwischen Weiterbildungsanforderungen und Weiterbildungsrealität und stellt fest, dass das bestehende Weiterbildungssystem nach wie vor Ungleichheiten zementiert und nicht abbaut.

Die nähere Betrachtung einiger detaillierterer Ergebnisse der Autorengruppe Bildungsberichterstattung3 zeigt, dass die Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung im Zeitraum von 2007 bis 2010 von 29% auf 26% gesunken ist. Die Disparitäten in der Weiterbildungsteilnahme haben sich nicht verringert und werden vom Erwerbsstatus beeinflusst. 2010 ist die Weiterbildungsteilnahme von Erwerbstätigen fast doppelt so hoch wie die von Nichterwerbstätigen. Ebenso haben der Bildungsstand und die berufliche Qualifikation einen erheblichen Einfluss auf die Teilnahme. Nach wie vor ist die Weiterbildungsbeteiligung von Menschen mit Hoch- und Fachhochschulreife fast doppelt so hoch wie die von Menschen mit niedrigem allgemeinbildendem Abschluss. Ebenso verhält es sich bei der beruflichen Qualifikation. Menschen ohne Berufsbildung nehmen nur halb so oft an Weiterbildung teil wie Personen mit Fachschul- oder Hochschulabschluss.

Einen zentralen Stellenwert hat - gemessen am Umfang - die betriebliche berufliche Weiterbildung, die vor allem auch im Interesse des Arbeitgebers durchgeführt wird. Sie steht im europäischen Vergleich nicht so vorbildlich da wie die Berufsausbildung. Bereits nach der europäischen Erhebung zur betrieblichen Weiterbildung (CVTS 3, 2005) nimmt das deutsche Weiterbildungsengagement bei allen Indikatoren bestenfalls einen mittleren Platz ein.4 Die Teilnahmequote lag 2005 bei 30%, mit leicht sinkender Tendenz. Einen ähnlichen Befund konstatiert auch die Autorengruppe Bildungsberichterstattung. Der Anteil weiterbildungsaktiver Betriebe stieg bis zum Jahre 2008 kontinuierlich auf 45% an, seitdem geht dieser Wert zurück auf 41% im Jahre 2010.

Diese Daten bestätigen die seit über einem Jahrzehnt geltende Diagnose, dass die Weiterbildungsrealität gekennzeichnet ist "durch Stagnation bei den Angeboten und Ausgaben sowie seit langem stabilen Ungleichheitsmustern in der Weiterbildungsteilnahme unterschiedlicher Personengruppen trotz aller Proklamationen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft."5

Der Befund ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass eine öffentliche Förderung der Weiterbildung nur durch einzelne, nicht miteinander verbundene Förderinstrumente erfolgt. Damit spiegelt die Weiterbildungsförderung die grundsätzliche Situation in der Weiterbildung wider. Diese ist in Deutschland nicht einheitlich, sondern nach wie vor in einer größeren Anzahl von Gesetzen und Verordnungen auf Bundes- und Länderebene geregelt mit der Folge, dass eine Reihe von Lücken besteht.

So sind allein in der beruflichen Weiterbildung in Deutschland die drei relevanten Teilbereiche der betrieblichen, der individuellen und der Weiterbildung für Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte als Teil der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach dem Prinzip der Verantwortung im eigenen Bereich institutionell sehr stark segmentiert. Dadurch werden die Möglichkeiten einer effizienten und innovativen Weiterbildungspolitik immer wieder begrenzt.

Erfolgreichere europäische Länder wie z.B. Dänemark richten das System der Weiterbildung dagegen kooperativ aus und das heißt: Staat, Unternehmen, Gewerkschaften, Individuen und Bildungsträger sind in ein komplexes System unterschiedlicher Verantwortlichkeiten eingebunden. Diese Koordination ist in Deutschland nur für die berufliche Erstausbildung über das Berufsbildungsgesetz geregelt und selbstverständlich.

Hinzu kommt die Ideologie von Individualisierung, Deregulierung und Privatisierung. Danach ist Lebenslanges Lernen zuvörderst in die Verantwortung der Individuen zu legen; der öffentlichen Hand kommt hier die Aufgabe zu, Liquiditätsengpässe auszugleichen, positive Anreize zu setzen und unter Umständen Benachteiligte zu fördern. Finanzierungsinstrumente, die aus dieser Perspektive geeignet erscheinen, die Beteiligung am Lebenslangen Lernen zu fördern, sind Bildungsgutscheine, Bildungssparmodelle und Bildungskredite.6 Die von den Gewerkschaften und jedenfalls Teilen der derzeitigen politischen Opposition immer wieder in den gesellschaftlichen Weiterbildungsdiskurs eingebrachte Perspektive, dass Lebenslanges Lernen unabdingbar eine öffentliche Aufgabe sei und nur durch das Setzen von Rahmenbedingungen und mittlere Systematisierung der Ausbau des bisher defizitären Weiterbildungssystems zur "vierten Säule des Bildungssystems" erreicht werden könne, hat bisher nicht zu einer erkennbaren politischen Umsteuerung geführt.

Halbherzig fördern oder voll blockieren

Trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse dominiert in der Realität ein Festhalten an bekannten Instrumenten mit einer tendenziellen finanziellen Aushöhlung sowie einem schrittweisen Ausbau der Instrumente, die auf individuelle Verantwortung für die eigene Bildungsbiografie setzen.

Mit der bisherigen Politik des BMBF werden zwar verschiedene Reformbaustellen eröffnet, die in einigen Punkten positive Effekte für die Weiterbildungsentwicklung haben könnten. Sie laufen aber ins Leere, weil sie nicht eingebettet sind in eine umfassende Gesamtstrategie für ein neues Weiterbildungssystem.

Die wesentlichen Förderinstrumente für die Weiterbildung sind das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG - oder "Meister-Bafög"), die Förderung der Weiterbildung von Erwerbslosen und von von Erwerbslosigkeit bedrohten Beschäftigten (Sozialgesetzbuch II und III), die zahlreichen Förderprogramme des Bundes und der Länder mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds, sowie die Regelungen in den Weiterbildungsgesetzen der Länder, welche die Finanzierung der allgemeinen Weiterbildung regeln. Daneben bestehen zahlreiche "kleinere" Programme wie z.B. die Begabtenförderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Das vom Bund und den Ländern gemeinsam finanzierte AFBG sichert einen individuellen Rechtsanspruch auf Förderung von beruflichen Aufstiegsfortbildungen. Seit seiner Novellierung im Jahre 2002 ist die Inanspruchnahme kontinuierlich gewachsen. So stieg die Zahl der Geförderten in 2010 auf mehr als 166.000, ein Anstieg im Vergleich zu 2009 um rund 5,6%.7

Voraussetzung für eine Förderung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung. Gefördert werden Weiterbildungsmaßnahmen, die auf eine öffentlich-rechtliche Fortbildungsprüfung oder auf einen gleichwertigen Abschluss nach Bundes- oder Landesrecht vorbereiten und die über dem Niveau eines berufsqualifizierenden Abschlusses liegen. Mit der letzten Novelle des AFBG wurden auch die Gesundheits- und Pflegeberufe in die Förderung einbezogen

Eine zentrale Schwachstelle des AFBG besteht darin, dass es sich von seiner Konzeption her um ein Leistungsgesetz handelt, das nicht systematisch in die Weiterbildungslandschaft integriert ist, sondern nur einen Teilbereich regelt. Dies führt einerseits dazu, dass Qualifikationen unterhalb der Aufstiegsfortbildung nicht gefördert werden und andererseits Berufsgruppen, die nicht eine duale Berufsausbildung durchlaufen oder eine Ausbildung in einem der Gesundheitsberufe absolviert haben, ausgeschlossen werden.

Von besonderer Bedeutung im Bereich der beruflichen Weiterbildung ist die Förderung von Maßnahmen durch die Bundesagentur für Arbeit. Seit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahre 1969 durch die große Koalition finanziert die Bundesagentur, früher Bundesanstalt, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, die heute einheitlich als Weiterbildungsmaßnahme bezeichnet werden, nachdem das Arbeitsförderungsreformgesetz die Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes zum 1. Januar 1998 in das Sozialgesetzbuch (SGB) III überführt hat. Die Entwicklung des Arbeitsförderungsrechts seit vielen Jahren ist zusammengefasst als Anpassung an die sich ständig verschlechternden Beschäftigungsbedingungen zu kennzeichnen. Das Arbeitsförderungsgesetz wurde in den 27 Jahren seines Bestehens über hundertmal geändert. Insgesamt gingen die staatlichen Leistungen tendenziell jedes Mal ein Stück zurück. Förderte die Arbeitsagentur die berufliche Weiterbildung im Jahre 1995 noch mit ca. 5,3 Mrd. Euro, betrug die Förderung im Jahre 2010 nur noch 1,1 Mrd. Euro.8 Eine ursprünglich als Instrument der präventiven Arbeitsmarktpolitik geplante Förderung der Weiterbildung war nach diesen regelmäßigen Leistungskürzungen kaum noch möglich. Der Schwerpunkt lag seit Mitte der 70er Jahre auf der Wiedereingliederung von Arbeitslosen in das Erwerbsleben mit dem Instrument Weiterbildung. Seit Ende der 90er bilden den Schwerpunkt nicht mehr langfristige Maßnahmen zur nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt, sondern kurze Anpassungsqualifizierungen für die kurzfristige Jobintegration.

Auf Bundes- und Landesebene bestehen zahlreiche Programme zur Förderung der Weiterbildung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Dabei lassen sich im Grunde aber zwei Förderstränge ausmachen: die direkte Förderung von Weiterbildungsteilnehmern und die Förderung von Projektvorhaben mit dem Ziel, Weiterbildungsstrukturen zu etablieren.

Ein Beispiel für den ersten Förderstrang stellt die Bildungsprämie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) dar (ähnliche Modelle werden in einigen Bundesländern umgesetzt, z.B. der Bildungsscheck NRW). Die Bildungsprämie wurde vom Bundeskabinett Mitte 2007 beschlossen. Im Kern ist eine Weiterbildungsprämie in Höhe von maximal 500Euro erhältlich, wenn mindestens die gleiche Summe als Eigenbetrag zur Finanzierung der Teilnahmeentgelte geleistet wird.

Die Bildungsprämie ist als problematisch einzuschätzen, da mit ihr die heterogene Weiterbildungslandschaft nur "bereichert" wird um ein nachfrageorientiertes Instrument. Sie leistet keinen nennenswerten Beitrag dazu, Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems auszubauen.

Ein Beispiel für den zweiten Förderstrang stellt das ESF-Programm "weiter bilden" (Sozialpartnerrichtlinie) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) dar, mit dem die Anstrengungen der Sozialpartner zur Stärkung der Weiterbildungsbeteiligung von Beschäftigten und Unternehmen unterstützt werden sollen.

Reformvorschläge:  mehr Strukturpolitik  in der Weiterbildung

Wer die Weiterbildung in die Spitzengruppe der europäischen Bildungsgesellschaften bringen will, der muss ein System mit eindeutigen Kompetenzstrukturen schaffen und die Investitionen erhöhen. Unverzichtbar ist eine verstärkte öffentliche Weiterbildungspolitik mit dem Ziel eines Gesamtkonzepts, das ein Recht auf Weiterbildung sichert, Lernzeitansprüche sowie ausreichende Finanzierung, Beratung und Qualität vorsieht und das geeignet sein muss mehr Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Planungssicherheit für alle Beteiligten herzustellen. Weitere Stichwörter für strategische Handlungsfelder sind: Personal in der Weiterbildung, Abschlüsse und Zertifizierung; Kooperation, Regionalisierung in Netzen und Verbünden; neue Lastenverteilung zwischen öffentlicher Hand, Unternehmen und Individuen. Ein neues solidarisches System muss sich an den Prinzipien der Gerechtigkeit und Chancengleichheit orientieren. Die Gewerkschaften ver.di, IG Metall und GEW haben dafür zusammen mit einem breiten gesellschaftlichen Bündnis schon 2008 einen Vorschlag zu Bundesregelungen in der Weiterbildung vorgelegt und damit die Forderung und Konzeption eines Bundesgesetzes von 2000 erneuert und aktualisiert.9

Im Bereich der Weiterbildungsfinanzierung wird für die betriebliche Weiterbildung die Einrichtung von Weiterbildungsfonds vorgeschlagen, in den alle Betriebe, auch die öffentlichen Unternehmen, einzahlen und aus denen die Kosten für betriebliche Weiterbildungsmaßnahmen refinanziert werden.10 Aufgrund der Heterogenität der Branchen sind Branchenfonds geeignet, effiziente branchenspezifische Lösungen zu ermöglichen. Die Aufgabe des Gesetzgebers besteht darin, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in Tarifverhandlungen branchenspezifische Fondsmodelle vereinbart werden.

Für die individuelle berufliche Weiterbildung wird vorgeschlagen, einen Vorschlag der Expertenkommission "Finanzierung Lebenslangen Lernens" aufzugreifen und ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz zu etablieren. Ziel soll sein, alle Formen der individuellen beruflichen Weiterbildung in einem Fördergesetz zu regeln.

Hinsichtlich der Weiterbildung von Erwerbslosen geht es einerseits darum, Aufgaben, die die Bundesagentur für Arbeit nach und nach in ihrer Rolle als "Ausfallbürge" für das Bildungssystem (z.B. Sprachkurse für Aussiedler, Nachholen von allgemein bildenden Abschlüssen) zugewiesen bekommen hat, in neue Zuständigkeiten zu überführen. Dieser Typ von Aufgaben muss von den eigentlich Zuständigen im Bildungssystem steuerfinanziert wahrgenommen werden, das Nachholen von allgemein bildenden Abschlüssen z.B. sollte aus dem zu schaffenden Erwachsenenbildungsförderungsgesetz finanziert werden, weil es sich um eine originäre staatliche Aufgabe der Bildungsfinanzierung handelt. Weiterbildung für Erwerbslose und von Erwerbslosigkeit bedrohte Beschäftigte muss hingegen Kernaufgabe der Bundesagentur für Arbeit bleiben und durch eine solide Finanzierung auf der Grundlage einer Beitragsfinanzierung abgesichert sein.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die bestehende Trennung von allgemeiner und beruflicher Weiterbildung in der bisherigen Form nicht aufrecht erhalten werden kann. Informations- und Kommunikationstechnologie und Wissensmanagement haben die Grenzen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung zunehmend verwischt. Dem muss Weiterbildungspolitik gerecht werden, indem sie die strikten organisatorischen und inhaltlichen Trennungen dort beseitigt, wo sie hinderlich für Lernerfolge sind.

Schritte für eine Weiterbildungsoffensive

Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, entsteht eine neue Weiterbildungskultur eben nicht allein durch Demografiekampagnen, vielfältige Modellversuche und Best-Practice-Beispiele. Damit lässt sich die gewünschte Breitenwirkung nicht erzielen. Notwendig ist die Schaffung eines rechtlichen Rahmens, der systembildend wirkt und kooperative Entscheidungsfindung, Synergie und Effizienz befördert im Sinne einer Architektur des Gesamthauses.

Ein neues Weiterbildungssystem kann nur vom Staat, den Tarifvertragsparteien und den Betrieben gemeinsam gestaltet werden. Eine Weiterbildungsoffensive ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es geht um Aktivitäten, die nicht im Sinne von Verschiebebahnhöfen substituierbar sind, sondern sich gegenseitig ergänzen und unterstützen:

  • ein Bundesgesetz für die Weiterbildung
  • mehr Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen
  • eine innovative betriebliche Weiterbildungspolitik


Mit Bundesregelungen für die Weiterbildung kann der Staat Spielregeln für die Akteure festlegen und Impulse für den langfristig nachhaltigen Ausbau der Weiterbildung geben. 2006 hat zuletzt die Expertenkommission zur Finanzierung Lebenslangen Lernens für bundeseinheitlich geltende Rahmenbedingungen plädiert. Eine "Weiterbildung mit System" war mehr als einmal Gegenstand von Koalitionsvereinbarungen.

Selbstverständlich kann der Staat nicht alle Probleme lösen. Die Gewerkschaften sind seit Ende der 90er Jahre Treiber auf dem Weg, Innovation und Weiterbildung zu einer Kernaufgabe qualitativer Tarifpolitik zu machen, weil der Zugang und die Verfügbarkeit von Weiterbildungsangeboten eine soziale Frage ersten Ranges ist. Seitdem gibt es für zahlreiche Branchen tarifliche Regelungen zum Thema Weiterbildung. Quantitativ am bedeutsamsten ist der Typ von Vereinbarungen in der M+E-Industrie, im öffentlichen Dienst und in der Versicherungswirtschaft, der inzwischen für 4,6 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gilt. Auch wenn mit Tarifpolitik staatliches Handeln nicht ersetzt werden kann und soll, so ist es doch möglich, mit Tarifpolitik das Weiterbildungsgeschehen im Betrieb nachhaltig mitzugestalten.

Die Praxis der betrieblichen Umsetzung von Tarifverträgen zeigt auch, dass es gilt, in Kooperation mit dem Personalmanagement eine betriebliche Lernkultur zu entwickeln, die unterstützender Strukturen bedarf. Das geht zunächst an die Adresse der betrieblichen Akteure, aber gleichzeitig auch an die öffentliche Hand, die durch Förderprogramme diese Arbeit unterstützen kann und soll. Hier setzt sich langsam die Erkenntnis bei allen Beteiligten (Arbeitgeber, Betriebs-/ Personalrat und Tarifparteien) durch, dass die nachhaltige Gestaltung und Ausweitung der betrieblichen Weiterbildung nur dann gelingen kann, wenn sie als gemeinsames Anliegen betrieben wird. Die Umsetzung von Tarifverträgen erfordert die Gestaltung von Prozessen. Wenn die Betriebs- und Personalräte zu Innovations- und Weiterbildungsmanagern werden sollen, die als Initiatoren von nachhaltigen, systematischen Prozessen wirken können und innerbetriebliche Prozesse begleiten, dann sind sie dafür auf unterstützende Strukturen angewiesen. Auf jeden Fall müssen die Beteiligungs- und Interventionsrechte der Betriebs- und Personalräte gestärkt werden angesichts zu weniger weiterbildungsaktiver Unternehmen, eines zu geringen Grads an Professionalisierung der betrieblichen Personalentwicklung und nichtkontinuierlicher Qualifizierungsplanung[11.

Wachsende Weiterbildungsanforderungen

Ohne ein neues zukunftsfähiges Weiterbildungssystem werden die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht zu bewältigen sein.

Dazu gehört unbestritten der rasche Strukturwandel. Die Nachfrage nach gering Qualifizierten sinkt allen Prognosen zufolge weiter und der deutsche Arbeitsmarkt wird noch stärker als heute ein Fachkräftearbeitsmarkt sein. Das bedeutet: Treiber für Wirtschaftswachstum und steigendes Beschäftigungsniveau sind nicht niedrige Löhne, sondern ein Angebot an gut aus- und weitergebildeten Arbeitskräften. Ohne diese kommt eine Modernisierungsstrategie nicht aus, die sozusagen als alternative Wettbewerbspolitik die Produkt- und Prozessinnovation forciert statt zu versuchen, über Tarifdumping, schlichte Standardisierung sowie Leistungsintensivierung die Wettbewerbsposition der Unternehmen zu verbessern. Sie kann dabei nur in die Sackgasse einer Kurzfrist-Ökonomie mit der Spirale von Kostensenkung und Personalabbau geraten.

Nicht zweijährige Miniberufe und weitere Aufspaltung der Berufe ermöglichen höhere Produktivität, sondern eine ganzheitliche Berufsbildung, die den Aufbau und die Entwicklung fachlicher, sozialer und methodischer Kompetenzen fördert sowie eine Berufsausbildung in europäischen Kernberufen, die zur Beherrschung unterschiedlicher beruflicher Situationen befähigt und analog dem Konzept der IT-Aus- und Weiterbildung verzahnt ist mit Lebenslangem Lernen.

Weiterhin müssen die Qualifikationen vieler gut Ausgebildeter aktualisiert und erneuert werden, wenn sie bis zum verlängerten Renteneintrittsalter beschäftigungsfähig bleiben wollen. Das bedeutet: Nur noch einem kleinen Kreis von Unternehmen wird es möglich sein, sich dem demografischen Wandel zu entziehen und auf die Weiterbeschäftigung von Älteren grundsätzlich zu verzichten. Für die betriebliche Personalpolitik sowie die Bildungs- und Weiterbildungspolitik ergeben sich daraus erhebliche Investitionen für die Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit Älterer.

Dass es zwischen Bildung und wirtschaftlichem Erfolg einen messbaren Zusammenhang gibt, gilt international als gesicherter Wissenstatbestand. Volkswirtschaftlich gesehen verzeichnen Staaten mit einem hohen Bildungsstand auch ein hohes Bruttosozialprodukt. Die OECD und die EU haben in zahlreichen Studien und Aufrufen immer wieder auf diesen Zusammenhang hingewiesen.

Was auf der gesellschaftlichen Ebene zu finden ist, findet sich auf der individuellen Ebene zwangsläufig wieder. Gute Arbeitsverträge, ein gutes Ein- und Auskommen, Zufriedenheit und die Sicherheit des Arbeitsplatzes sind in der Regel an ein gutes Bildungsniveau, an gute Schul- und Berufsabschlüsse und immer mehr an Weiterbildung und an Chancen für Bildung in der Arbeit gebunden. Wo in Bildung und damit auch Weiterbildung nicht investiert wird, entstehen zunehmend Gerechtigkeitslücken und wird es für den Einzelnen immer schwerer mitzuhalten. Dies gilt insbesondere für die Menschen in atypischen, oft auch prekären Beschäftigungsverhältnissen, wie Leih-, Teilzeit- und Kurzarbeit, Minijobs und anderen, die sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt haben und das Normalarbeitsverhältnis erodieren.12

Anmerkungen

1) Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002: Auf dem Weg zur Finanzierung Lebenslangen Lernens, Bielefeld: 91; Abschlussbericht 2004, Bielefeld.

2) Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: Bildung in Deutschland. Ein indikatorunterstützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld, hier: 136.

3) Vgl. hierzu und zum Folgenden: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld: 142ff.

4) Vgl. Dick Moraal / Gudrun Schönfeld 2012: "Berufliche Aus- und Weiterbildung in Unternehmen", in: WSI-Mitteilungen 05/2012: 329-337.

5) Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 141.

6) Vgl. z.B. Bert Rürup / Anabell Kohlmeier 2007: Wissenschaftliche und sozialpolitische Bedeutung des Weiterbildungssparens, Bonn, Berlin; Dieter Dohmen / Vera de Hesselle / Klemens Himpele 2007: Analyse möglicher Modelle und Entwicklung eines konkreten Konzepts zum Bildungssparen, Bonn, Berlin.

7) Vgl. BMBF (2012): Berufsbildungsbericht 2012,Berlin, Bonn: 77.

8) vgl. Statistisches Bundesamt Juni 2012.

9) vgl. z.B. GEW / IG Metall / ver.di 2008: Notstand: Weiterbildung in Deutschland. Das Weiterbildungsdesaster verringert Wachstum, Innovationen und Lebensperspektiven, Berlin / Frankfurt a.M..

10) Zu Weiterbildungsfonds aktuell vgl. Klaus Berger / Dick Moraal 2012: "Tarifliche Weiterbildungspolitik in den Niederlanden und in Deutschland", in: WSI-Mitteilungen 5/2012: 382-390.

11) vgl. Mechthild Bayer 2012: "Die Menschen mitnehmen", in: Peter Faulstich / Mechthild Bayer (Hg.): LernLust, Hamburg: 163-171.

12) Vgl Wissenschaftlicher Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di 2012: Gute Bildung für gute Arbeit - Berufsbildungsperspektiven 2012, Berlin / Frankfurt/am Main.

Mechthild Bayer ist Bereichsleiterin für Weiterbildungspolitik bei ver.di in der Bundesverwaltung in Berlin mit den Arbeitsschwerpunkten Qualität, Finanzierung, Zeitpolitik, Abschlüsse, Personal in der Weiterbildung, SGB III-geförderte Weiterbildungspolitik, Ordnungspolitik sowie Weiterbildungssysteme im europäischen Vergleich.

Dr. Roman Jaich arbeitet in der Regiestelle des ESF-geförderten Programms "weiter bilden".