Babels Inkohärenzen

Festivalisierung und soziale Ungleichheit

Der folgende Text basiert auf Untersuchungen aus den 1990er Jahren, daher sind die absoluten Zahlen zu Beginn nicht mehr ganz aktuell; die relativen Zahlen sowie die Schlussfolgerungen schienen uns jedoch nach wie vor aussagekräftig und für das Thema dieser Bildpunkt-Ausgabe bereichernd. Die Red.

In Mexiko-Stadt leben 263.000 Indigene aus mehr als 30 ethnischen Gruppen. Teilweise organisieren sie ihre Angelegenheiten und Stadtteile, ihre Solidaritätsnetzwerke und ihre Konflikte, ihre Geschäfte mit dem Staat und den FreundInnen, als wären sie nach wie vor in Puebla, Oaxaca oder Guerrero. Aber man muss nicht indigene/r MigrantIn sein, um mit der Besonderheit der eigenen Sprache zu experimentieren und bloß Fragmente der Stadt zu (er)leben. Es ist etwas, das uns allen widerfährt, zumindest seit den 1940er Jahren. Damals hatte México D.F. anderthalb Millionen EinwohnerInnen. Heute, mit 16 Millionen, erstreckt sich die Urbanität über ein Territorium, das niemand begreifen kann und in dem keine allumfassenden organisatorischen Strukturen mehr existieren. Die 9,1 Quadratkilometer, auf denen Mexiko-Stadt am Ende des 19. Jahrhunderts stand, machen heute kaum mehr 1 Prozent der Metropole aus. Diese Stadt besteht seit hundert Jahren als so genanntes Historisches Zentrum fort, aber das demografische, industrielle und kommerzielle Wachstum haben die Schwerpunkte peripherer Entwicklungen multipliziert und zur Eingemeindung anderer Städte geführt.

Als wir vor fünf Jahren begannen, den Kulturkonsum in Mexiko-Stadt zu untersuchen, machten wir Umfragen an 1.500 Orten in der Hoffnung, einen Stadtplan der Verhaltensweisen erstellen zu können. Das erste, was uns überraschte, war die geringe Nutzung der öffentlichen kulturellen Einrichtungen: 41,2 % der Befragten gaben an, seit mehr als einem Jahr nicht mehr im Kino gewesen zu sein; 62,5 % jener, die versicherten, gerne ins Theater zu gehen, hatten im selben Zeitraum kein einziges Stück besucht; 89,2 % waren nicht ins Konzert gegangen. Zudem schienen auch weder die volkstümlichen Veranstaltungen noch die lokalen Stadtteilfeste für mehr als 10 % der Bevölkerung in regelmäßiger Form interessant zu sein.
Was machten die Leute also an Wochentagen nach der Arbeit oder nach dem Lernen? Laut unseren Umfragen bevorzugte die Mehrheit der EinwohnerInnen von Mexiko-Stadt es, zu Hause zu bleiben, anstatt in ihrer Freizeit die Stadt zu (be)nutzen. 24,7 % gaben an, ihre hauptsächliche Aktivität bestünde darin, fernzusehen, 16,3 % ruhten sich einfach aus, schliefen oder widmeten sich häuslichen Arbeiten. An den Wochenenden verbringt der größte Teil der Bevölkerung seine „freie“ Zeit damit, sich zu Hause zurückzuziehen. [...]

Warum zieht es die Massen so wenig zu den Veranstaltungen? Eine Erklärung besteht in der internationalen Tendenz, dass die Nutzung der öffentlichen Einrichtungen (Kino, Theater, Tanzlokale) abnimmt, während das Publikum der Heimunterhaltung (Radio, Fernsehen, Video) zunimmt. [...] Es gibt eine andere Erklärung, die aus dem territorialen und demografischen Wachstum der Stadt hervorgeht. Außer den ökonomischen und den Bildungsungleichheiten, die in jeder Gesellschaft den Zugang der Mehrheiten zu vielen kulturellen Gütern begrenzen, erschweren in der mexikanischen Hauptstadt die ungeregelte und komplexe städtische Entwicklung ebenso wie die ungerechte Verteilung der kulturellen Einrichtungen die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Das „klassische“ kulturelle Angebot (Buchhandlungen, Museen, Theater, Musik- und Konzertsäle) findet sich fast zur Gänze im Zentrum und im Süden der Stadt konzentriert, wodurch die Segregation der Wohnorte die Einkommens- und Bildungsungleichheit verstärkt. [...]

Ich möchte nun einige Reflektionen vorstellen, die bei den Annäherungen an die diversen kulturellen Praktiken aufgekommen sind und die Untersuchungen betreffen, die wir zum II. Stadt-Festival in Mexiko-Stadt (II. Festival de la cuidad de México) im August 1990 gemacht haben. Wir haben die Verhaltensweisen des Publikums erforscht, das an einer repräsentativen Stichprobe der fast 300 zum Festival gehörenden Veranstaltungen teilgenommen hat (von denen wir 33 aus den Bereichen Theater, Tanz, Oper, Rock und andere Musikrichtungen ausgewählt haben, die in Theatern, Konzertsälen, in Parks und auf Plätzen stattgefunden haben.) Wir gingen davon aus, dass dieses Festival das zentrale Ereignis der Stadt war, sowohl hinsichtlich der Diversität der präsentierten Künste und Veranstaltungen als auch hinsichtlich des Publikums, das es anzog. Das erlaubte uns in Erfahrung zu bringen, wie die unterschiedlichen Sektoren der Hauptstadt sich zu Kunst und Kultur verhielten. [...] Die Studie zum Festival spezifizierte einige der Tendenzen, die wir in der allgemeinen Umfrage zum Kulturkonsum in México D.F. herausgefunden hatten. Die Teilnahme an der Gesamtheit der Veranstaltungen, die kaum 200.000 Leute erreichte, stimmte – hinsichtlich der Gesamtmenge wie auch hinsichtlich der TeilnehmerInnenschichten – annähernd mit jenen 10 % der EinwohnerInnen überein, die angegeben hatten, regelmäßig öffentliche Kulturinstitutionen oder -veranstaltungen zu besuchen. Nur vier Gruppen machten fast drei Viertel des Publikums aus: Studierende (20,91 %), Angestellte (19,90 %), selbstständige AkademikerInnen (17,78 %) und KulturarbeiterInnen (14,18 %). ArbeiterInnen waren mit 2,14 % vertreten, KunsthandwerkerInnen mit 1,37 %, während RentnerInnen und Arbeitslose nicht einmal die 1 %-Marke erreichten. Hinsichtlich des Bildungsniveaus machten diejenigen mit Volksschul- und weiterführender Schulausbildung 20,02 % aus, insgesamt 78,54 % verteilten sich auf jene mit höherem Schulabschluss und Studium. Das Stadt-Festival reproduzierte die von der Ungleichheit der Einkommen, der Bildung und der Wohnortverteilung verursachten Segmentierungen und Segregationen der Bevölkerung.

Die Umfragen und erst recht die Interviews und die ethnografischen Beobachtungen der TeilnehmerInnen haben zudem eine große Diversität des Festival-Publikums offengelegt. [...] Ein Beleg für die Heterogenität der und die Separation zwischen den Sektoren war, dass die Mehrheit der Befragten sich gar nicht bewusst war, dass die Veranstaltung, die sie besuchte, Teil des Festivals war, und nur 12 % erklärten, auch andere Aktivitäten des Festivals zu kennen. Selbst bei Veranstaltungen mit besser informiertem Publikum (Publikum mit höherem Bildungsniveau) konnten nicht mehr als 32 % andere Aktivitäten des Festivals nennen. Die Antworten über die Arten und Weisen, wie die Leute zu der Veranstaltung, die sie besuchten, gekommen waren, variierten stark nach dem jeweiligen Publikum: dasjenige, das klassische Musik, Tanz und Theater konsumierte, informierte sich hauptsächlich durch die Presse, das Rock-Publikum durch schriftliche Werbung und persönliche Beziehungen und dasjenige der Tanzveranstaltungen durch elektronische Medien und Vorankündigungen des Veranstaltungsortes. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hypothese eines Festivals oder einer Stadt mit einem homogenen Publikum, mit der die OrganisatorInnen die Verbreitung in einer Art und Weise planten, die nicht auf Unterschiede einging, nur in ihren eigenen Köpfen existierte.


Der vorliegende Text ist ein Kapitel aus Néstor García Canclini: Consumidores  y cuidadanos. Conflictos multiculturales de la globalización. Random House: Mexico D.F. 2009 [1995]. Gekürzt und mit freundlicher Genehmigung des Autors für den Bildpunkt aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Winter 2012, „Eventisierung“.