Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik

Über Potenziale, Probleme und Perspektiven

in (27.01.2013)

Fast sturmähnlich weht im Gefolge der jüngsten Krisen eine neue Emphase der Kritik durch die Lande. Das deutsche Feuilleton hat im Nachgang der Finanzmarktkrise mit zum Teil radikaler Rhetorik die Kritik des Kapitalismus für sich entdeckt, Occupy-AktivistInnen avancierten zum Alter-Ego und Über-Ich ansonsten (und auch weiterhin) bewegungsresistenter BürgerInnen, Stéphane Hessels schmales Bändchen „Empört euch“ wurde zum Weltbestseller und liegt im Buchladen direkt neben der Kasse. Zugleich erleben kritische (Sozial-)WissenschaftlerInnen, dass das, was bislang ihr Alleinstellungsmerkmal an den Rändern der etablierten Disziplinen zu sein schien, im Zentrum (wenn auch mit neuen Vorzeichen) goutiert wird. Seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 darf vom kapitalistischen System und seiner Kritik wieder gesprochen werden. Während sich für marxistisch konturierte Analysen vor diesem Hintergrund mitunter überraschend neue Resonanzräume erschließen – ohne dass sie deshalb unbedingt an Einfluss gewinnen –, scheinen die in den vergangenen Jahren gehypten theoretischen Lieblingskinder der inner- und außeruniversitären akademischen Linken angeschlagen: Die in poststrukturalistischen Theorien und Cultural Studies1 zentrale Problematisierung von Subjekt, Wahrheit und großen Ordnungen, die Vorliebe für (eigensinnige) Mikropolitiken, komplexe Kräfterelationen und Deutungskämpfe gilt so manchem (neuen) Gesellschaftskritiker im Angesicht der großen Krise als überholt. Die Felder poststrukturalistischer Kritik – so die Sichtbarmachung verworfener Existenzweisen, bearbeitet in den Queer und Postcolonial Studies – verblassen zu possierlichen Spielwiesen in Zeiten, da – so der Tenor –„normale“ Menschen wieder „wirkliche“ Probleme haben.2

 

Als sich im Dezember 2011 im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine illustre Schar von Intellektuellen zusammenfand, um die Demokratie in Europa gegen den Kapitalismus zu verteidigen, war die Welt so einfach, dass Marx in trauter Eintracht mit Foucault verzweifelt wäre. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, Initiator der Veranstaltung, wusste zu berichten, dass er mit 15 glaubte, die Welt sei durch die Oligarchie des Kapitals beherrscht. Dann habe er viele Jahre Foucault und andere poststrukturalistische TheoretikerInnen gelesen und gedacht, dass die Dinge doch sehr komplex seien. Und heute wisse er: „Es ist genau so, wie ich mit 15 gedacht habe.“ Wo Welzer in durchaus sympathischer Weise einen im jugendlichen Überschwang enthaupteten Marx bemüht, sehen andere im Angesicht der Krise(n) die Stunde der Wiederkehr der – so die Diktion – „klassischen“ Soziologie gekommen. Das Rad drei Jahrzehnte zurückdrehend in die seligen Zeiten vor dem cultural und discursive turn, als man noch wusste, was wahr und richtig ist, wird die Aufgabe einer krisenangemessenen Soziologie neu vermessen: So konstatierte Heinz Bude jüngst den Bedeutungsverlust poststrukturalisischer Soziologie(n) zugunsten einer Soziologie, die „Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie ins Zentrum ihrer Aussagen stellt“ (Bude 2011: 13)3 und „die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, die Unterdrückung der Menschen und die Zurechtweisung des Publikums“ (ebd.) zur Sprache bringt. Die neue Soziologie im klassischen Gewande habe die Aufgabe „zu den Sachen selbst“ (ebd.: 14) zurückzukehren, statt in die kulturalisierende Analyse von komplexen Kräftekonstellationen und Wissensordnungen auszuweichen. Schluss mit dem Faible für die Kultur als Sphäre des Eigensinns und der Vorliebe für lokale Taktiken, zurück zur Gesellschaft als Gegenstand von Analyse und Kritik – so nicht nur Budes Diktum.

Ziel dieses Beitrags ist es, das artikulierte Unbehagen ob der Analysekraft und Reichweite wie ob des Kritikpotenzials poststrukturalistischer Ansätze ernst zu nehmen, und das theoretische Paradigma mit den aufgeworfenen Fragen nach Kritik und Wahrheit, nach Ungleichheit und Herrschaft sowie nach der Analyse von Gesellschaft als „großem Ganzen“ zu konfrontieren. Ich möchte zeigen, dass und wie berechtigte Kritikpunkte aufgegriffen und verarbeitet werden können, ohne dass deshalb das Rad der Theoriegeschichte gleich um mehrere Jahrzehnte zurückgedreht werden muss. Das gegenwärtige gesellschaftstheoretische wie -kritische Defizit des Poststrukturalismus kann, so meine These, durch Denkfiguren des Paradigmas selbst eingeholt werden. Dafür ist es jedoch notwendig die partielle „Selbstdestruktion“ und Entpolitisierung poststrukturalistischen Denkens zu überwinden, die im Zuge der akademischen Popularisierung zu beobachten ist.4

 

 

1. Poststrukturalismus revisited. Wie das wurde, was es nicht gibt

 

Ihre Namen sind allseits bekannt. Michel Foucault avancierte zum Theorie-Super-Star, mit einer AnhängerInnenschaft, die nur Marx nicht beeindrucken dürfte, Gilles Deleuze und Felix Guattari fungieren als prominente Stichwortgeber für bewegungsnahe Intellektuelle, Jacques Derridas Einfluss ist ungebrochen, nachdem sein früher Tod 2004 zum Feuilleton-Ereignis wurde. Judith Butler, Ernesto Laclau oder Antonio Negri werden bei ihren Auftritten von Tausenden gefeiert, ganz zu schweigen von Slavoj Žižek, dem Grenzgänger und Provokateur mit poststrukturalistischen Wurzeln. Dafür, dass es „den Poststrukturalismus“ eigentlich nicht gibt, dass zu Recht darauf verwiesen wird, dass es sich um ein von außen attribuiertes Etikett handelt, dem kein homogenes Denksystem zu Grunde liegt (vgl. z.B. Lorey et al. 2011: 11), finden sich – gerade in jüngerer Zeit – doch recht viele Versuche, das uneinheitliche Theoriefeld zu vermessen (vgl. z.B. Moebius/Reckwitz 2008; Stäheli 2000; Angermüller 2007). Entstanden im politischen Kontext der 1960er und 1970er Jahre in Frankreich, können die sich seit den 1980er Jahren auch im angelsächsischen Raum ausbreitenden poststrukturalistischen Theorien5 im Kontext des cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften verortet werden, im Zuge dessen die kulturelle und symbolische Strukturierung des Sozialen ins Blickfeld rückte. Die Bedeutung des Pariser Mai 68 für die Entwicklung poststrukturalistischer Theorien ist ebenso unbestritten wie der Einfluss vieler poststrukturalistischer TheoretikerInnen auf die Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Zwar markierte 1968 keinen sofortigen, radikalen Bruch mit einer linken Politik, die an den strategischen Vorgaben marxistischer Staatstheorie und Ideologiekritik sowie an einem repressiven Machtmodells orientiert war; der Fokus verschob sich aber (tendenziell und sukzessive) hin zu mikropolitisch grundierten Fragen der Subjektivierung und des Begehrens. Dies war jedoch keineswegs gleichbedeutend mit einer generellen Entpolitisierung, wie sie nicht nur Terry Eagleton polemisch unterstellte: „Die Studentenbewegung wurde von der Straße gespült und in den Untergrund des Diskurses getrieben.“ (Eagleton 1994: 127) Das politische Engagement und die Bewegungsnähe fast aller genannten AutorInnen, so Foucaults Rolle in der französischen Gefängnisbewegung, Deleuze‘ Engagement gegen rassistische Gewalt, Antonio Negris enge Bezüge zur italienischen Autonomia oder Judith Butlers Rolle im queeren Aktivismus sind vielfach belegt.6 Diese enge Verknüpfung von Theorie und Politik sowie die große Rolle, die poststrukturalistische Ansätze insbesondere (aber nicht nur) für die Entstehung von queeren Bewegungen gespielt haben, straft all jene Lügen, die in poststrukturalistischen Theorien einzig einen abgehobenen, hoch abstrakten Akademismus ausmachen.

 

1.1 Wahlverwandte theoretische Geste

 

Bei aller Heterogenität kann poststrukturalistischen Theorien das bescheinigt werden, was Stäheli eine „wahlverwandte(n) theoretische(n) Geste“ (Stäheli 2000: 7) genannt hat und die – wie im Folgenden zu sehen wird – auch eine Reihe politischer Theorien umfasst, die sich eher an den Rändern poststrukturalistischen Denkens bewegen: Wesentliche Geste ist das differenztheoretische Denken, dem zufolge kein Element gesellschaftlicher Wirklichkeit identitätslogisch aus sich heraus bestimmt werden kann, sondern erst durch die Differenz zu dem, was es nicht ist.7 Der wesentliche poststrukturalistische Clou ist nun der Umstand, dass die Vielzahl der einzelnen Differenzen nicht auf ein Fundament oder ein organisierendes Prinzip (z.B. die Produktionsverhältnisse, die Moderne oder das Patriarchat) rekurrieren und durch dieses stabilisiert werden, sondern dass sie stets relational und beweglich – und damit kontingent – bleiben: Angesichts dieses Verzichts auf einen letzten Grund können die meisten poststrukturalistischen Ansätze als „post-foundationalist“ (Stäheli 2000: 9) bezeichnet werden. Eine solche post-fundamentalistische Perspektive ist nicht gleichbedeutend mit einem Diskurs-Idealismus oder Sprachspiel jenseits von Materialität und Institutionalisierung: poststrukturalistische Ansätze interessieren sich vielmehr für die Genese von institutionalisierten Formen, Körpern und Praktiken, als dass sie ihre materiale Existenz negieren würden. Was die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit betrifft, wird die Welt jenseits des Diskurses nicht in Abrede gestellt, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Unerfahrbarkeit problematisiert: „Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren können.“ (Laclau/Mouffe 1991: 158; vgl. abgrenzend gegen einen Diskurs-Idealismus auch: Butler 1997: 30f.).

 

Poststrukturalistische Ansätze bieten eine theoretisch fundierte Delegitimierung der für die Geschichte des christlich-westlichen Abendlandes so zentralen Vorstellungen einer objektiv gegebenen, vom erkennenden Subjekt unterschiedenen, geschichtlich oder natürlich begründeten „Wahrheit“ oder „Vernunft“. An die Stelle der philosophisch zu erkennenden „großen Ordnung“ und Teleologie treten ein dezentrisches und anarchisches Weltbild und die Aufgabe eines „organizistischen Gesellschaftsbegriffs“ (Moebius 2010: 269). Zentral ist das Anliegen, aufzuzeigen, „daß das, was ist, nicht immer gewesen ist [...]. Was die Vernunft als ihre Notwendigkeit erfährt oder was vielmehr verschiedene Formen von Rationalität als ihr notwendiges sein („étant“) ausgeben, hat eine Geschichte, die wir vollständig erstellen und aus dem Geflecht der Kontingenzen wiedergewinnen können.“ (Foucault 1996: 179). Diese – nicht nur bei Foucault – genealogisch konturierte Perspektive zielt zum einen auf die Dechiffrierung von Universalien und die Infragestellung vertrauter Denkschemata und zum anderen auf das Aufdecken des spezifischen Netzes von Kräfteverhältnissen, das jene Selbstverständlichkeiten hervorgebracht hat. Kaum eine theoretische Perspektive scheint besser geeignet, herauszuarbeiten, „wo die Parolen ausgegeben und wo die Regeln gesetzt werden“ (Bude 2011: 13) – wie Heinz Bude es in seinem Zwischenruf als Anspruch an eine zeitgemäße Soziologie formuliert. Auch die Frage, wie vermeintliche Alternativlosigkeit erzeugt wird,8 ist ein Kernanliegen des Poststrukturalismus, wobei die Macht- und Subjekt(ivierungs)-Analytik verhindert, diesen komplexen Prozess als Täuschung und Betrug einzelner mächtiger und souveräner Subjekte zu fassen.

 

1.2 Prekäre Schließungsprozesse

 

Entscheidend für poststrukturalistische Ansätze und ihre Perspektive auf die Genese von Wahrheit und Evidenz ist nun, dass die in diesem Prozess erzeugte Stabilisierung stets prekär, brüchig und von Irritationen durchzogen bleibt. Kennzeichnend, wenn auch nicht in allen poststrukturalistischen Ansätzen in gleicher Weise zentral, ist ein Machtverständnis, das Macht als verstreutes, plurales, produktives und notwendig omnipräsentes Kräfteverhältnis fasst („Ontologie der Macht“), welches sich nur temporär zu stets instabilen Herrschaftskonstellationen verdichtet. Während die liberale Selbstbeschreibung der Moderne die Kontingenzöffnung als Resultat des Modernisierungsprozesses betont, fokussiert der Poststrukturalismus auf machtvolle Kontingenzschließungen – sei es durch Hegemonie (Laclau & Mouffe), durch Dispositive (Foucault), Reterritorialisierungen (Deleuze & Guattari) oder Polizei (Rancière) – sowie auf deren Destabilisierung. Das Herzstück poststrukturalistischer Theorie – der Fokus auf Destabilisierungen durch die Betonung der Kluft zwischen Norm und Praxis, zwischen Anrufung und Umwendung, zwischen Regel und Anwendung, zwischen Text und Lektüre – affirmiert dabei die Möglichkeit von Handlungsfähigkeit, allerdings ohne, dass das Subjekt als gesellschaftlich Geformtes aus dem Blick gerät. Konsequent entwickeln poststrukturalistische Theorien eine radikale Kritik gegenüber allen Ansätzen, die bei der Analyse konkreter Gesellschaftlichkeit souveräne Subjektivität und individuelle Handlungsautonomie als gegebene Konstanten voraussetzen. Statt in den modernisierungstheoretischen Chor der Emanzipation des Subjekts einzustimmen, werden Subjektivierungsprozesse im Hinblick auf ihre Gleichzeitigkeit von Subjektkonstituierung und -unterwerfung thematisiert.9 Poststrukturalistische Ansätze sensibilisieren dafür, wie die Unterdrückung der Menschen in ihre Subjektwerdung eingelassen ist und entlarven „die Grausamkeiten, durch die Subjekte produziert und differenziert werden“ (Butler 1992: 131). Die Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die im Zuge von Kontingenzschließungen aus der gesellschaftlichen Ordnung exkludierten Subjektivitäten und Existenzweisen, auf das Verworfene jenseits der majoritären Norm „Mensch-männlich-weiß-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache“ (Deleuze 1980: 27). Die von Bude im Sinne einer kritischen Sozialwissenschaft eingeforderte Identifizierung von „Gewinnern und Verlierern gesellschaftlicher Verhältnisse“ wird hier insofern radikalisiert, als dass nicht nur die Ungleichheit sozialer Positionen, sondern das „Spiel“ der Positionierung selbst zum Thema wird.

 

1.3 Das Politische denken

 

Neben der poststrukturalistischen Kulturalisierung des Sozialen nehmen einige VertreterInnen im Hinblick auf die partiellen Verdichtungen zu Herrschaftssystemen auch die politische Dimension des Sozialen in den Blick: Der auf Kontingenzschließung zielenden institutionalisierten Politik („das politische System“, verortet auf der Ebene des Seienden) wird die (ontologische) instituierende Kraft des Politischen entgegengesetzt, die die Ordnung der Politik in unaufhörlicher Bewegung durchkreuzt, destabilisiert und über sie hinausweist. Neben den im engeren Sinne poststrukturalistischen politischen Theorien (so insbesondere Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) sind hier Arbeiten aus dem Kontext einer dezidiert post-fundamentalistischen politischen Philosophie zu ergänzen, die mit Namen wie dem bereits erwähnten Jacques Rancière, aber auch Claude Lefort, Alain Badiou oder Jean-Luc Nancy verbunden sind. Die Abwesenheit eines letzten Grundes und Fundamentes konstituiert bei all diesen Autoren das Feld des Politischen, ist jeder Prozess der Institutionalisierung und Schließung doch notwendig umkämpft und kontingent: „Erst in einer Gesellschaft, der kein archimedischer Punkt, kein substanzielles Gemeingut, kein unhinterfragter Wert verfügbar ist, steht die eigene Institution immer aufs Neue zur Aufgabe. Und zwar deshalb immer aufs Neue, weil diese Gesellschaft nie letztgültig instituiert werden kann.“ (Marchart 2010: 17) Entscheidend ist nun, dass es sich nicht um eine anti-fundamentalistische, sondern um eine post-fundamentalistische Grundierung handelt: An die Stelle eines letzten Grundes und Fundaments tritt nicht das so oft von KritikerInnen des Poststrukturalismus beklagte „anything goes“ oder der eben so oft prophezeite relativistische Nihilismus, sondern der Konflikt um partielle Gründungsversuche, vorübergehende Stabilisierungen und Institutionalisierungen – und ihre De-Stabilisierungen: „Die Krise des essentialistischen Universalismus als selbst-erklärter Grund hat unsere Aufmerksamkeit auf die kontingenten Gründe (im Plural) seines Entstehens und auf die komplexen Prozesse seiner Konstruktion gelenkt.“ (Laclau 1994: 2).

 

Andreas Reckwitz hat, die Perspektiven Foucaults, Derridas und Butlers zusammenführend, drei „methodologische Direktiven“ des Poststrukturalismus ausgemacht, die das bislang Gesagte zuspitzen: Die zentralen Direktiven seien, „1) das scheinbar Befreiende und Rationale als das Zwingende und Regulierende zu betrachten, 2) das scheinbar Notwendige und Alternativenlose als das kulturell Kontingente zu sehen, 3) das scheinbar Fixe und Geschlossene dieser kulturellen Festlegungen als das Unkontrollierbare, kulturell Instabile wahrnehmen.“ (Reckwitz 2008: 294). Das heterogene Theorieprogramm bietet damit, das sollte deutlich geworden sein, Anschlüsse für eine Kritik der herrschenden Ordnung und der Propagierung vermeintlicher Wahrheiten und Sachzwänge und stellt zugleich ein Rüstzeug dar für die Sichtbarmachung von Brüchen und Abweichungen, von Verworfenem und Anderem – und damit für das Nicht-Hegemoniale.10 Die drei wesentlichen Problematisierungen poststrukturalistischer Theorien – die der Wahrheit, der Struktur und der Affirmation des souveränen Subjekts – verbindet letztlich ein grundlegend antitotalitäres Motiv, das die konstitutive Unmöglichkeit von Gesellschaft (als Totalität bzw. “großes Ganzes“) begründet. Obwohl Verdichtungen von Kräfteverhältnissen im Sinne von temporären Schließungsprozessen theoriearchitektonisch vorgesehen sind, fokussieren viele poststrukturalistische und post-fundamentalistische Ansätze in der Forschungspraxis weniger auf (die institutionalisierten, als herrschaftsförmig identifizierten) Makrostrukturen (wie den Staat oder die kapitalistische Ökonomie) als auf die (machtdurchsetzte) Kraft von Mikropolitiken, anti-institutionellen lokalen Bewegungen und Revolutionierungen von Alltagspraxis einerseits sowie die (zugleich ermächtigende wie repressive) Konstitution von Subjektivität andererseits.

 

 

2. Etablierung poststrukturalistischer Theorien und die Erosion kritischen Potenzials

 

Im Zuge seiner akademischen Etablierung wurde der Poststrukturalismus – insbesondere, aber nicht nur in den USA – in einigen Feldern zum wissenschaftlichen Kanon, der – wie eine Reihe von KritikerInnen monieren – viele politische Konnotationen eingebüßt habe, mit denen er in den Anfängen verbunden war (vgl. kritisch z.B. Lichtblau 2002). John Sanbonmatsu (2011: 230) konstatiert in seiner harschen Kritik des poststrukturalistisch-postmodernen Feldes „incentives for increasingly „sexy“ forms of theorizing as a way for ‚sympathetic‘ or left intellectuals to maintain or advance their position in a crowded academic field”. Es gehe nur noch um den Tauschwert einer akademischen Theorie, nicht aber um den Gebrauchswert als gesellschaftskritisches Instrumentarium (ebd.: 231). Doch die Kritik kommt nicht nur „von außen“: Slavoj Žižek, sicherlich der lauteste Kritiker, mit theoretischer Verankerung im poststrukturalistischen Feld, unterscheidet zwischen dem „authentische(n) sozialen Engagement zugunsten der ausgebeuteten Minderheiten“ und „den multikulturellen/postkolonialen, absolut risikofreien Feierabendrevolten, in denen sich die ‚radikale‘ Welt des akademischen Amerika gefällt“ (Žižek 2002: 20). Er kritisiert die De-Politisierung der poststrukturalistischen Cultural Studies, die den politischen Kampf gegen einen Kulturkampf „um die Anerkennung marginaler Identitäten und die Toleranz gegenüber Unterschieden“ (Žižek 2001: 302) ausgetauscht habe. Und Robert Misik macht in der deutschsprachigen Diskussion unorthodoxe Geister aus, die „versuchen minoritäre Lebenspraxen mit exaltierten Theorien in Einklang zu bringen“ (Misik 2006: 190). Was ist dran, am wiederkehrenden Vorwurf der de-politisierten Kulturalisierung, der exaltierten Komplexitätsemphase und Abstraktion, der Auflösung von Widersprüchen im Geflecht unendlicher Differenzen, wenn es um die Kritik von Herrschaft, Ausbeutung und Ungleichheit geht?

 

Auch wenn der Vorwurf nicht selten der pauschalen Diskreditierung dient und genutzt wird, um sich den Herausforderungen poststrukturalistischen Denkens erst gar nicht stellen zu müssen, sind einzelne Aspekte doch nicht von der Hand zu weisen. In formaler Hinsicht zu nennen ist in der Tat die Tendenz zu extrem abgehobenen, terminologisch hermetischen und schwer verständlichen Texten, die eine kritische Auseinandersetzung und Rezeption – gerade auch durch „Nicht-PoststrukturalistInnen – erheblich erschweren. Dieser verbreiteten, durchaus elitären und für das Funktionieren im akademischen Betrieb gefahrlosen Flucht in die Abstraktion korrespondiert – wie ich im Folgenden argumentieren werde – eine inhaltliche Flucht in Fluidität, Abweichung, rhizomatische Texturen und Beweglichkeit, ohne dass jedoch das in dieser Bewegung angelegte kritische Potenzial – im Sinne einer zu realisierenden Möglichkeit unter je spezifischen Bedingungen – genutzt würde. Derweil wird in mitunter überraschend „un-poststrukturalistischer“ Manier das Bild als selbst ernannte, vom feindlichen Mainstream bekämpfte Underdogs gepflegt, wodurch die eigenen Verstrickungen in Akademisierung und Eingemeindung ausgeblendet bleiben: „All die Effekte der Ignoranz, der Vereinnahmung und der Akademisierung sind Komponenten einer allgemeineren diskursiven ‚Aufstandsbekämpfung’, in der die Ausschweifungen einer ‚gefährlichen Theorie-Klasse’ möglichst unschädlich gemacht werden sollen.“ (Lorey et al. 2011: 18) Wie gefährlich diese Theorieklasse in jüngerer Zeit eigentlich (noch) ist, bleibt leider allzuhäufig unreflektiert. Meine zentrale These ist, dass es die implizite – in der Regel uneingestandene – Normativität poststrukturalistischer Theorien ist, die linke AkademikerInnen und TheoretikerInnen für das theoretische Paradigma begeistert und die ihrerseits dazu beiträgt, dem Bedarf nach einem kritischen Gestus Genüge zu tun, ohne dass eine kritische (Theorie-)Position ausformuliert bzw. gewagt werden muss. Problematisches Resultat ist nicht nur die De-Politisierung vieler poststrukturalistischer Analysen, sondern auch die theoretische Sedierung von Teilen der radikalen Linken. Die Kritik zielt dabei nicht auf die normativen Restbestände poststrukturalistischer Theorien, sondern darauf, dass sie theoretisch negiert werden, um praktisch das linke Gewissen zu beruhigen.

 

2.1 Implizite Normativität

 

Die Kritikperspektive des Poststrukturalismus ist nicht im engeren Sinne normativ, sondern gekennzeichnet durch eine Problematisierung von Universalität, Stabilität und Befreiungsemphase, die ihrerseits die Zurückweisung eines universal gültigen Normenkatalogs erfordert. Den repressiven Charakter der Norm(avitität) aufzuzeigen, kann als eines der Hauptanliegen poststrukturalistischer Theorien bezeichnet werden: „Denn einen Normenkomplex aufzustellen, der sich jenseits der Macht oder Stärke ansiedelt, stellt selbst eine machtvolle, starke begriffliche Praxis dar, die ihr eigenes Machtspiel durch den Rückgriff auf Tropen der normativen Universalität sublimiert, verschleiert und zugleich ausdehnt.“ (Butler 1993: 36f.) Sehr treffend ist nach wie vor die Formulierung Paul Veynes, dass ein genealogisch-poststrukturalistisch konturiertes Kritikprogramm nicht sage „‘Ich bin im Recht und die anderen irren sich‘, sondern nur: ‚die anderen behaupten zu Unrecht, daß sie im Recht sind.‘“ (Veyne 1991: 214) Doch ist damit nicht die ganze poststrukturalistische Geschichte erzählt, wie Andreas Reckwitz betont: „trotz dieser normativen Abstinenz wird indirekt deutlich, dass (…) die Prämisse der Unkontrollierbarkeit kultureller Codes, eine solche positive normative Konnotation enthält: Dass die kulturellen Systeme gegen den eigenen Anspruch doch nicht fix, sondern unkontrollierbar sind, stellt sich als eine wünschenswerte Tendenz dar.“ (Reckwitz 2008: 295, Hervorhebung SvD)

 

Ausgehend von der wahlverwandten, differenztheoretisch-postfundamentalistischen Geste ist die als wünschenswerte Tendenz aufscheinende Unkontrollierbarkeit und konstitutive Sinnverschiebung in den verschiedenen poststrukturalistischen Theorien unterschiedlich ausgearbeitet: Bei Foucault ist es die genealogisch begründete Analyse der kontingenten historischen Bedingungen, die das Potenzial transformierender Singularitäten ans Licht bringt, bei Deleuze und Guattari durchkreuzt die Mikroebene mit ihren vielschichtigen Bewegungen der Entterritorialisierung die Makrostrukturen der Territorialisierung/Fixierung. Derridas dekonstruktivistische Lektüre – und mit anderer Akzentsetzung an ihn anschließend Butler (s.u.) – fokussiert auf die konstitutive Unabgeschlossenheit von Sinn und die daraus resultierende Iterabilität, welche die Wiederholung mit der Andersheit/Verschiebung verbindet: „Die Iterabilität verändert und kontaminiert auf parasitäre Art gerade das, was sie identifiziert und wiederholt; sie bewirkt, daß man (immer schon, auch) etwas anderes sagen will, als man sagen will, etwas anderes sagt, als man sagt und sagen möchte, etwas anderes versteht….usw.“ (Derrida 2001: 120). Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass es ein (konstitutives) Außen gibt, das im Sinngefüge der Gesellschaft nicht zu erfassen ist, dieses aber trotzdem permanent herausfordert: In einer politischen Wendung machen sie den Abstand zwischen Unentscheidbarkeit (die dem notwendigen Außen geschuldeten Unmöglichkeit gesellschaftlicher Totalität) und Entscheidung (der temporären Fixierung) als Raum für Handlungsfähigkeit aus.

 

Diese theoriearchitektonisch unterschiedlich begründete konstitutive Unkontrollierbarkeit und Dynamik wird in der (im weiteren Sinne) poststrukturalistischen Debatte nun in sehr unterschiedlicher Weise affirmiert: 1) als Grundlage partieller wie temporärer Schließungen und Verfestigungen sowie als Ermöglichungsbedingung fortlaufender Durchkreuzungen dieser Fixierungen, 2) als Affirmation der Instabilität und Dynamik um ihrer selbst willen, wie wir sie vor allem in postmodern konturierten Perspektiven auf die Gleich-Gültigkeit aller Ansprüche und Begehren finden sowie 3) als Möglichkeitsraum für die ereignishafte Entstehung des unvorhersehbaren, radikal Anderen, so in Ereignisphilosophien und Ontologien des Unbestimmten (z.B. prominent bei Alain Badiou). Die meisten der hier diskutierten AutorInnen sind – mit verschiedenen Akzentsetzungen – der ersten Verständnisweise zuzuordnen: Ausgehend von der grundsätzlich unabschließbaren Bewegung interessiert diese Lesart sich für die je spezifischen Fixierungen sowie ihre fortlaufende De-Stabilisierung. Dabei gibt es durchaus Überschneidungen mit der dritten Verständnisweise, die sich weniger für fortlaufende De-Stabilisierungen als für Ereignisse des radikalen Bruchs mit der gegebenen Ordnung interessiert. Ich komme auf die Überschneidungen dieser beiden Verständnisweisen in Kapitel III zurück. Alle hier diskutierten AutorInnen grenzen sich hingegen von der zweiten Lesart der „Gleich-Gültigkeit“ aller Ansprüche auf das Schärfste ab und verwehren sich gegen einen „Anti-Fundamentalismus“ und (als nihilistisch deklarierten) Relativismus. Die für die weitere Argumentation damit zentrale Verständnisweise (1) basiert hingegen auf der Annahme einer „kategoriale(n) Differenz zwischen einer zugrundeliegenden Dynamik und ihrem ‚Ausdruck‘“ (Niederberger/Wagner 2004: 185). Diese Differenz, die wir in zahlreichen Theorien als „politische Differenz“ (Marchart 2010) zwischen Politik und Polizei (Rancière) oder Politik und Politischem finden, markiert den „Nicht-Ort“ (Butler), an dem das Soziale verhandelt wird: an dem also (unfinalisierbar, aber begründet) um das gestritten wird, was uns alltäglich umgibt. Im Sinne dieser Verständnisweise geht es ausdrücklich nicht um die Affirmation der konstitutiven Dynamik und Verschiebung um ihrer selbst Willen, sondern um das darin angelegte Potenzial, spezifische hegemoniale Verfestigungen/Fixierungen kritisch zu durchkreuzen.11

 

2.2 Poststrukturalistische Rezeptionen und die Beruhigung des linken akademischen Gewissens

 

Aus meiner Sicht hat es nun im Zuge der Popularisierung und akademischen Etablierung poststrukturalistischer Positionen eine problematische Verschiebung gegeben, die sich durch eine paradigmatische Hinwendung zur zweiten Verständnisweise und damit durch eine „Postmodernisierung“ auszeichnet: En vogue ist die Affirmation von Dynamik qua Gleich-Gültigkeit der Ansprüche, frei nach der Devise „Hauptsache es bewegt sich, egal was und wie“: „Everything we have been told is real and unchangeable will be revealed as lies, and in refusing them we will make them change. Into what? No one knows, but that is not important. What is important is the change itself.” (Jun 2011: 247) Bei dieser Haltung begründet die „poststrukturalistische Lücke“, die durch die Differenz von konstitutiver Dynamik und konkreter Schließung perpetuiert wird, nicht die Möglichkeit kritischer oder subversiver Handlungsfähigkeit, sondern sie wird mit eben dieser gleichgesetzt: Es wird darauf verzichtet, die konzeptionell freigelegte Lücke auf ihren je empirisch-spezifischen, eigensinnigen oder emanzipatorischen Charakter hin zu untersuchen. Gerade in einer Vielzahl post-deleuzianischer Arbeiten bricht sich eine solche Affirmation des Strömens und der Bewegung relativ ungebremst Bahn. So heißt es in einer Begründung des Poststrukturalismus als „gefährlicher Theorie-Klasse“ beispielsweise: „Die Invention als kooperative Form der Erfindungskraft soll vielmehr dazu dienen, ‚die Verbindung von Kräften herzustellen, die vor der Invention einander entgegengesetzt waren‘: eine Verbindung von Kräften, aus denen neue Ströme sich entwickeln, temporäre Überlappungen von diskursiven und sozialen Maschinen.“ (Lorey et al. 2011: 19)12 Wieder andere begnügen sich mit der Praxis der De-Naturalisierung qua Rekonstruktion des Gewordenseins, obwohl allein der Hinweis auf die prinzipielle Veränderbarkeit eines Sachverhalts noch kein Kriterium dafür liefert, warum es denn zu verändern sei (vgl. kritisch auch: Saar 2009). Mit der poststrukturalistischen Zurückweisung eines letzten Grundes wird – zumindest theoretisch – jeglicher Gründungsversuch aufgegeben und das – mit jeder Positionierung, jedem Versuch, diese Lücke zu vermessen einhergehende – Risiko einer wieder zu verwerfenden (temporären) Festlegung gescheut. Diese Fortschreibungen poststrukturalistischen Denkens vollziehen damit die Wende zum theoretischen Anti-Fundamentalismus, der Foucault und Deleuze, Butler und Laclau so oft zu Unrecht unterstellt worden ist. (Nicht nur) mit Foucault kann man dieser Tendenz entgegen halten: „Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man (…) nicht, indem man ein Spiel spielt, das dem Spiel der Wahrheit vollständig fremd ist, sondern indem man das Wahrheitsspiel anders spielt.“ (Foucault 1984: 895)13

 

Dabei bricht durch die Hintertür – theoretisch unausgewiesen und in hohem Maße implizit – eine normative Perspektive ein, erscheint doch das Normale (Stabile) allzuschnell per se problematisch und die Abweichung (als Veränderung) immer irgendwie „gut“. Ein verbreitetes Beispiel für diese implizite Normativität ist die in den poststrukturalistischen Cultural Studies augenfällige Tendenz zur politischen Romantisierung von Mikropraktiken und lokalen Kämpfen – in Abgrenzung zu institutionalisierten (Makro-)Strukturen (vgl. kritisch: Stäheli 2004). Hier wird häufig mit Foucault (als zentraler Referenz für die Bedeutung von Mikro-Praktiken) gegen Foucault eine einfache dichotome Machtordnung mit einer homogenen, repressiven Macht „dort oben“ und den vielfältigen, diversen, grassroot-Praktiken „hier unten“ restauriert, die bereits die Möglichkeit reaktionärer und anti-emanzipatorischer Mikro-Praktiken konzeptionell ausschließt.14

Die uneingestandene Normativität geht dabei über die Affirmation erklärt anti-institutioneller Dynamiken noch hinaus, scheint in der Forschungspraxis doch häufig eine implizite Emphase für bestimmte Brüche und Verschiebungen durch. Dadurch, dass diese Normativität theoretisch uneingestanden ist bzw. sogar explizit verworfen wird, entsteht die problematische Verknüpfung der theoretischen Affirmation der Gleich-Gültigkeit aller Ansprüche mit der Auswahl von Beispielen und Analysefeldern, die im akademisch-politischen Umfeld als unproblematisch gelten können: man interessiert sich nicht für neo-faschistische, sondern für progressive Subkulturen, für anti-institutionelle Praktiken gegen repressive Apparate statt gegen die soziale Infrastruktur etcpp. Das Resultat ist genau das, wogegen poststrukturalistische Theorien eigentlich angetreten sind: Die Entproblematisierung vermeintlich naheliegender, normativer Maßstäbe des „Guten“ und „Richtigen“. Wir haben es also mit der Problematik einer Theorie zu tun, die „ihren normativen Anspruch nicht mehr theoretisch, sondern nur noch habituell pflegt“ (Niederberger/Wagner 2004: 185).

 

Handelt es sich bei diesen Rezeptionsweisen und Fortschreibungen nun um eine mehr oder weniger zufällige Entwicklung, die akademischen Produktionsbedingungen und selektiven Lesarten geschuldet ist, oder liegt die Problematik tiefer, bereits auf der Ebene der diskutierten Referenztheorien selbst? Zeigen sich hier womöglich die „unintendierten“, aber dennoch systematischen Nebeneffekte einer Perspektive, die die Materialität von Gesellschaft und Subjekten, die Bedeutung ökonomischer Strukturen und Prozesse sowie die Möglichkeit gesellschaftlicher und individueller Handlungsautonomie vorrangig dekonstruiert – und nicht, zumindest nicht mit derselben Emphase, in auch politischer Absicht theoretisch rekonstruiert?

 

2.3 Potenziale, die unausgeschöpft bleiben: das theoretische Angebot Judith Butlers

 

Ich möchte am Beispiel der Position Judith Butlers aufzeigen, warum die Schwierigkeit, das (gesellschafts-)kritische Potenzial poststrukturalistischer Ansätze zu heben, trotz aller entsprechenden Anschlusspunkte, auch dieser in die Theoriearchitektur eingelassenen Emphase für die Dekonstruktion geschuldet ist. Butler schließt an Foucaults Subjektivierungsanalysen und die Derrida’sche Perspektive der Dekonstruktion an, die sie via die Integration von Körper(lichkeit) praxistheoretisch zusammenführt. Ihr zentrales Argument ist, „daß ein Subjekt nur durch eine Wiederholung oder Reartikulation seiner selbst als Subjekt Subjekt bleibt, und diese Abhängigkeit des Subjekts und seiner Kohärenz von der Wiederholung macht vielleicht genau die Inkohärenz des Subjekts aus, seine Unvollständigkeit.“ (Butler 2001: 95) In Abgrenzung zu Derrida interessiert sie dabei weniger die notwendige Unabschließbarkeit dieser Prozesse im allgemeinen, sondern das in der Wiederholung liegende konkrete Potenzial: „Diese Wiederholung oder besser Iterabilität wird so zum Nicht-Ort der Subversion, zur Möglichkeit einer Neuverkörperung der Subjektivationsnorm, die die Richtung ihrer Normativität ändern kann.“ (ebd., Hervorhebung SvD) Dieser Nicht-Ort der Subversion nimmt in Butlers Werk einen zentralen Stellenwert ein, wobei sie sowohl subversive Körperakte und die Taktik der Parodie (als politischer Praxis) als auch die Aneignung und performative Re-Kodierung diskriminierender Sprechakte thematisiert (Butler 1991, 2006). Deutlich wird im hervorgehobenen Satzteil dabei, dass es nicht darum geht, jegliche normative Gründung zu überwinden, sondern den repressiven Charakter von Letztbegründungen zu problematisieren – die einen Richtungswechsel (kontingenter) Normativität(en) strukturell verhindern. Zugleich hat Butler wiederholt selbstkritisch angemerkt, dass das in der Iterablität liegende subversive Potenzial in poststrukturalistischen Analysen abstrakt bleibe und zu wenig auf seine empirisch-sozialen Konsequenzen analysiert werde: „(F)ür mich war und ist der Verlust des Subjekts als Zentrum und Grund von Bedeutung die Möglichkeitsbedingung einer diskursiven Modalität von Handlungsfähigkeit. Es ist logisch möglich, daß solche Verluste solche glücklichen Konsequenzen zeitigen können, aber beschreibt irgendwer von uns Verhältnisse, die sozial oder historisch genannt werden können?“ (Butler 1998: 218; Hervorhebung SvD)

 

Überaus interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Butler schon früh zugestanden hat, dass sie sich auf die Problematisierung repressiver Subjektformung konzentriert, dass diese aber durch weitere gesellschaftspolitische Ziele und Fragen zu ergänzen sei: „Ich räume ein, daß das (Anm.: Kritik repressiver Subjektformung, SvD) nicht das einzige Ziel ist und daß es Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit gibt, in denen es nicht primär um Subjektbildung geht.“ (Butler 1993: 131f.) Dieser Ball – der Hinweis auf die notwendige Verknüpfung von Subjektivierungskritik und sozialer Frage und die damit einhergehenden Ambivalenzen15 – ist in der umfangreichen Butler-Rezeption und -fortschreibung, so weit ich das überblicken kann, bis heute nicht aufgegriffen worden. Butler selbst macht deutlich, wo ihre Priorität liegt, benennt aber explizit, dass es gerade im Hinblick auf Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit immer notwendig sein wird, für konkrete Institutionalisierungen und Fixierungen von Normen einzustehen – ohne das damit einhergehende repressive Potenzial aus dem Blick zu verlieren. Gerade in ihren jüngeren Arbeiten betont sie zudem, dass reale Menschen auch im Hinblick auf ihre Subjektkonstitution nicht nach permanenter Offenheit streben (können) und dass eine theoretische Subjekt(ivierungs)analyse, dies nicht ignorieren dürfe: „Das Begehren, keine offene Zukunft zu haben, ist jedoch stark, und es ist wichtig, die Macht des Begehrens, Zukünftigkeit schließen und verwerfen zu wollen, nicht zu unterschätzen.“ (Butler 2009: 290) Zwar durchzieht auch Butlers Werk eine Emphase für das Unabgeschlossene und Offene, zugleich scheut sie aber nicht vor Begründungen ihrer Denkbewegungen zurück, die sie theoriepolitisch einzufangen weiß: „Was mich politisch bewegt und wofür ich Raum schaffen will, ist der Moment, in dem ein Subjekt – das kann eine Person oder ein Kollektiv sein – ein Recht oder einen Anspruch auf ein lebenswertes Leben geltend macht, obwohl eine solche Rechtsgrundlage noch nicht besteht, obwohl eine eindeutig ermächtigende Konvention nicht gegeben ist.“ (Butler 2009: 354, Hervorhebung SvD) Die Norm des lebenswerten Lebens, die die „Tatsache“ der Existenz als normativen Ankerpunkt ausweist, wird hier durch die konkrete Praxis begründet: Sie ist nicht essentiell gegeben, sondern gründet, wie Balibar (2007: 6) es ausgedrückt hat, „in der Kontingenz des Aufstandes selbst“. Damit wird Butler ihrem eigenen Anspruch gerecht, sich des poststrukturalistischen Denkens zu bedienen und es im Zuge der Ausrichtung auf spezifische Anliegen zu politisieren, hat die poststrukturalistische Theorie selbst doch aus ihrer Sicht „keine notwendigen politischen Konsequenzen“ (Butler 1993: 39).

 

Faktisch verlegt sich ein Großteil poststrukturalistischer Analysen jedoch auf die (wiederholende) Darlegung des subversiven Potenzials statt diese „Bedienungs-Aufforderung“ aufzugreifen und die theoretische Bewegung fortzuschreiben. Und trotz der von Butler selbst formulierten Vorbehalte und Einschränkungen, steht eben auch in ihrem Denken ganz eindeutig die Dekonstruktion von Gesellschaft und Subjekt im Zentrum, während die kontingent-temporären normativen Fundierungen der – stets notwendigen – Re-Konstruktionen nachgeordnet bleiben. In diesem Sinne gibt es einfach wenig konkrete Anregungen, wie genau das Spiel der Wahrheit anders zu spielen ist, um mit Foucault zu sprechen. In eine ähnliche Richtung zielt die von Demirović an Laclau und Mouffe gerichtete Kritik: „Auflösung des Gewordenen, erneute Herstellung einer hegemonialen Bedeutungskette und Fixierung der Bedeutungen, schließlich erneut die Verflüssigung des Sinns. Nur um den Preis, sich niemals zu verwirklichen, werden Freiheit und Gleichheit als Ziele verfolgt. Die Kritik wird darauf beschränkt, das, was zur Naturalisierung, zur Verdinglichung tendiert, wieder aufzulösen.“ (Demirović 2008: 24, Hervorhebung SvD)

 

Gegen diese Kritik kann natürlich eingewandt werden, dass genau dieser Fokus auf De-Konstruktion und De-Normalisierung die ureigenste Aufgabe poststrukturalistischer Theorie ist, dass es gerade um den theoretischen Ausweis des Störpotenzials geht, frei nach dem Motto: „das Geschäft der normativ-repressiven Schließung betreiben ja bereits alle anderen“. Soll eine poststrukturalistische Sozialwissenschaft also nur „in den Zwischenräumen der Soziologie“ (Stäheli 2000: 71) spuken und alles, was als sicher gilt, mit einem „De-" versehen? Und wäre es dann allein die Aufgabe einer poststrukturalistisch inspirierten politischen Praxis die temporären (Be-)Gründungen und normativen Verortungen im Alltags- und Straßenkampf – entlassen aus der Theorie – zu entwickeln wie zu verwerfen? Ich finde nein. Eine kritische Gesellschaftstheorie kann sich nicht darauf beschränken, die Möglichkeit von Kritik und Subversion auszuweisen, ohne den mit diesem Ausweis verbundenen Implikationen, Fallstricken und Ambivalenzen in ihren je konkreten sozialen und politischen Kontexten nachzugehen, so unabgeschlossen diese auch sein mögen. Ich stimme Niederberger und Wagner (2004: 187) zu, die auf die Gefahr hinweisen, „konkrete Interventionen und Parteinahmen hinter der vermeintlich revolutionären ontologischen These verschwinden zu lassen, dass ‚eine andere Welt möglich sei‘.“ Stattdessen müsse „die Theorie unbedingt die radikalkritische und radikalskeptische Beachtung faktischer sozio-politischer Handlungskontexte fortführen.“ (ebd.)

 

 

3. (Re-)Politisierung der Kulturalisierung des Sozialen?

 

Eine poststrukturalistisch konturierte Gesellschaftskritik steht damit vor einer zweifachen Herausforderung: einerseits „größer zu denken“, in dem die mikropolitischen Analysen der kulturellen Konstituierung des Sozialen eingebettet werden in eine makrosoziologisch und herrschaftskritisch grundierte Gesellschaftsanalyse und andererseits „konkreter zu werden“ und die kategoriale (ontologische) Differenz von konstitutiver Unabgeschlossenheit des Sozialen und je konkreter Verfestigung und Fixierung nicht als abstrakt-subversives Potenzial zu kultivieren, sondern in ihren empirisch-spezifischen Ausprägungen zu analysieren. Die Herausforderung dieser Doppelgeste liegt darin, aufzuzeigen, dass und inwiefern Gesellschaft als Bezugsgröße aus poststrukturalistischer Perspektive zugleich unmöglich und notwendig ist: unmöglich, da die Abwesenheit eines stabilen Fundaments die finale Fixierung einer gesellschaftlichen Totalität verhindert (vgl. zur Unmöglichkeit des Gegenstandes Gesellschaft: Stäheli 1995), notwendig, wenn das Soziale nicht in gleich-gültige Partikularitäten zerfallen soll. Der Fokus liegt damit auf den hegemonialen Kämpfen um prekäre und temporäre (Bedeutungs-)Fixierungen und den Funktionsbedingungen von notwendig ausschließenden Grenzen sowie ihren permanenten „Durchkreuzungen“. Es ist genau diese Lücke zwischen der Unmöglichkeit der Schließung irgendeines Kontextes und dem Kampf um konkrete Institutionalisierungen, die das Feld des Politischen konstituiert. Damit treten jene Theorien ins Blickfeld, die die kategoriale Differenz von Dynamik und Verfestigung politisieren, und zwar als Differenz von Politischem – als instituierender Kraft – und Politik – als instituierter Ordnung, die ihre Kontingenz verschleiert. Der Fokus ist dabei nicht auf das traditionelle Feld der Politik beschränkt, sondern befragt alle Dimensionen von Gesellschaft im Hinblick auf die doppelte Geste von „Gründung/Entgründung“ (Marchart 2010: 29). Tatsächlich verbleibt jedoch auch die Mehrzahl der Theorien des Politischen einem grundlagentheoretischen Ausweis dieser Doppelgeste verhaftet: Was auch hier nicht geleistet wird, bzw. im Sinne einer politischen Philosophie auch gar nicht geleistet werden soll, ist die Analyse konkreter Verfestigungen in „quantitativer“ wie „qualitativer“ Hinsicht, d.h. im Hinblick auf den Grad der Verfestigung/Stabilisierung sowie im Hinblick auf die Bewertung des Fixierten. Dagegen lässt sich mit Balibar jedoch einwenden: „Nun kann der immanente gewaltsame Ausschluss, der der Institution oder der Umsetzung des Universalen immanent ist, verschiedene Formen annehmen, die nicht gleichwertig sind und nicht nach der gleichen Politik verlangen.“ (Balibar 2007: 7) Es sind genau diese notwendigen Differenzierungen, die grundlagentheoretisch nicht zu erschließen sind und die eine poststrukturalistisch informierte empirische Forschung erfordern, die bereit ist anzuerkennen, dass „nicht alle Bestimmungen oder Sinndimensionen, die Handlungen, Überzeugungen und Gegenständen zukommen, (…) auf derselben Ebene (liegen)“ (Niederberger/Wagner 2004: 189), sind doch die unterschiedlichen Niveaus historischer Variabilität und Stabilität beträchtlich.

 

Wenn Rancière die Gleichheit eines jeden sprechenden Lebens als Ausgangspunkt wählt und für nicht institutionalisierbar erklärt, Laclau und Mouffe Freiheit und Gleichheit als nicht zu verwirklichende Ziele benennen und Butler die Inklusion als unerreichbares Ideal markiert, scheitert dieser theoretische Fokus in gesellschaftskritischer Hinsicht nicht an einem fehlenden Grund, sondern am – grundlagentheoretisch gerechtfertigten – Bias auf die Unmöglichkeit der Realisierung. Die Betonung der konstitutiven Unmöglichkeit schiebt sich in ihrer Radikalität vor die empirisch je beschränkten, potenziell unterschiedlich zu qualifizierenden Weisen der Annäherung, des Verfehlens, des Scheiterns und der Verankerung. Statt dass diese (konstitutiv beschränkten) Weisen und Wege abgeschritten würden, herrscht auch in vielen Theorien des Politischen ein mehr oder weniger emphatisch aufgeladener anti-institutioneller, anarchistisch geprägter Gestus vor,16 der – in diesem Punkt kulturtheoretischen Analysen nicht unähnlich – das regressive Potenzial anti-institutioneller Destabilisierungen und die potenziell emanzipatorische Kraft von partiellen Stabilisierungen unterschätzt. Entgegen Foucaults instruktivem Diktum, dass Kritik die Kunst ist, „nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ (Foucault 1992: 129) scheint in der Fokussierung auf die Unmöglichkeit von Gesellschaft nicht selten eine Emphase grundsätzlicher Unregierbarkeit und Anarchie auf, verkennend, dass „Befreiung (…) nur möglich (ist), wenn es auch Stabilitäten und Sicherheiten gibt“ (Zelik 2011: 126).

 

Interessant für eine Politisierung poststrukturalistischer Kritik ist nichtsdestotrotz die instituierende Kraft des Politischen, die die zuvor eingeführte dritte Lesart der Affirmation konstitutiver Unabgeschlossenheit begründet: als Möglichkeitsraum für die (je nach Ansatz mehr oder weniger ereignishaft-unvorhersehbare) Entstehung des radikal Anderen, bestimmt als Dimension „die dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung entkommt“ (Marchart 2010: 27). So betont Rancière: „Als politisch kann jene Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt; die eine Funktion verkehrt, die das sehen läßt, was nicht geschah, was nur als Lärm vernommen wurde. Politisches ist also die Benennung jener Tätigkeit, von der die Ordnung der auf Stellen, Funktionen und Mächte verteilten Körper durch das Einbringen einer Voraussetzung, die dieser Ordnung vollkommen äußerlich ist, aufgehoben wird: der Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen.“ (Rancière 1996: 67, Hervorhebung SvD) Von besonderem Interesse an dieser Perspektive ist der Umstand, dass sie mit einer „Rarifizierung des politischen Ereignisses“ (Marchart 2010: 176) einhergeht – so in besonders ausgeprägter Weise bei Alain Badiou (vgl. diesbezüglich Seibert in diesem Heft) –, dass also der qualifizierende (und damit rarifizierende) Ausweis eines ganz bestimmten Bruchs, einer spezifischen Verschiebung vorgenommen wird, die über das Bestehende hinausweist. Damit stehen diese Theorien im Gegensatz zur dekonstruktivistisch geprägten Rezeption poststrukturalistischer Theorien, die die Abweichung als Regel in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Ohne diesen Aspekt hier weiter vertiefen zu können, könnte es sich aus meiner Sicht als fruchtbares Unterfangen erweisen, kategoriale Differenzierungen unterschiedlicher Ereignistiefen gegen die „Flucht“ in die unpolitische Überhöhung der konstitutiv notwendigen und damit allgegenwärtigen Iterabilität in Anschlag zu bringen: Diese Ereignistiefen könnten dabei durchaus von der „Schöpfung“ des „radikal Anderem“ über die Erschütterung konkreter „Verschleierungen“ von Kontingenzen – so durch die Institutionalisierung vermeintlicher Sachzwänge –, bis hin zur Re-Kodierung und Aneignung diskriminierender Akte im Sinne von queer politics reichen.

 

 

4. Poststrukturalistische Kritik als Gesellschaftskritik

 

Es war mein Anliegen, aufzuzeigen, dass die Diskreditierung poststrukturalistischer Theorien als mikropolitische Ethnographien des Kulturellen ebenso über das Ziel hinausschießt wie die pauschale Abwehr als überkomplexe, akademische Exaltiertheit. Poststrukturalistische Theorien bieten, bei allen eingestandenen Tendenzen in diese Richtung, reichhaltige Anschlussmöglichkeiten für eine linke Kritik der herrschenden Ordnung(en) und der Propagierung vermeintlicher Wahrheiten und Sachzwänge. Dabei stellen sie ein theoretisches Rüstzeug für die Sichtbarmachung von Brüchen und Verworfenem zur Verfügung, das den Blick für den Möglichkeitsraum des Nicht-Hegemonialen sowie für eine über das Bestehende hinausweisende radikale Kritik öffnet. Im Zuge der Etablierung poststrukturalistischer Ansätze ist, wie dargelegt, jedoch eine sukzessive De-Politisierung der Analysen zu konstatieren. Entstanden ist eine poststrukturalistische „Kritikblase“, die nicht zuletzt auch eine De-Politisierung eines großen Teils der akademischen Linken zur Folge hat(te): Sehr leicht war es,17 sich in einer implizit links grundierten Prozesswissenschaft einzurichten, die das theoretische Instrumentarium bietet, hip und radikal Positionen von anderen zu dekonstruieren, während die eigene Haltung als rhizomatische oder taktische un(an)greifbar wird. Diese Praxis erinnert an jenen Teil der kommentierenden Linken (sehr unterschiedlicher Provenienz), der Demonstrationen im richtigen Outfit und mit lässiger Ironie von der Nebenfahrbahn aus beobachtet, um dabei gewesen zu sein, ohne gezählt zu werden. Zu konstatieren ist in der Folge die Ausbreitung eines theoretischen Anti-Fundamentalismus, der sich in problematischer Weise mit einem impliziten, doppelten Normativismus verbindet: der grundsätzlichen Affirmation von Bewegung und Dynamik um ihrer selbst willen bei gleichzeitiger – theoretisch unausgewiesener – praktischer Vorliebe für je bestimmte Bewegungen und Brüche. Diese Praxis beweist letztlich, was die poststrukturalistische Theorie – im Gegensatz zur postmodernen Gleich-Gültigkeit des anything goes – immer schon wusste: ohne kontingente Fundamente funktioniert auch das Leben und Denken der poststrukturalistischen Theoretikerin nicht.

 

Anders als Welzer und Bude stellvertretend für viele behaupten, erfordert diese Entwicklung jedoch keinen Abschied vom poststrukturalistischen Denken, sondern ein konsequentes Weiterdenken, wie es – von den externen KritikerInnen gerne ignoriert – im Feld selbst und an seinen Rändern längst geschieht. Poststrukturalistische Theorien können mehr als kulturwissenschaftliche Analytik und mikrosoziologische Ethnographie, bieten sie doch das Instrumentarium, um Gesellschaft in der Doppelfigur von Gründung und Ent-Gründung denken zu können. Sie ermöglichen es, „makrosoziologisch“ zu operieren, ohne deshalb die Gesellschaft als “Großes Ganzes“, als Container vorauszusetzen (vgl. Angermüller 2011). Mit großem Verdienst haben poststrukturalistische Theorien die Grenzen von Gesellschaft ins Blickfeld geholt, haben verworfene, exkludierte und nicht sprechbare Existenzweisen sichtbar gemacht – und darüber die Analyse und Qualifizierung des über den Ausschluss konstitutierten „Innenraums“ vernachlässigt, Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Trotz instruktiver Impulse durch Theorien des Politischen können auch diese die entstandenen Leerstellen nicht füllen, zu emphatisch anti-institutionell und an den Ausprägungen des Sozialen uninteressiert bleibt das Grundmuster.

 

Notwendig ist deshalb eine Akzentverschiebung hin zu einer (auch empirisch) fundierten Analyse des strukturierten Sozialen, ohne deshalb die Problematisierung der Grenze(n) aus dem Blick zu verlieren. Poststrukturalistische Gesellschaftstheorie und -kritik muss die eindimensionale Verflachung des Sozialen überwinden, gibt es doch (De-)Stabilisierungen sehr unterschiedlicher Quantität und Qualität, die auf unterschiedlichen Ebenen sortiert und erschlossen werden müssen, um kulturalisierenden Verengungen zu entgehen. In der Praxis hat die Tendenz zur Verflachung des Sozialen insbesondere zur Vernachlässigung von Fragen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit geführt (vgl. kritisch z.B. Saar 2008) und eine analytische Leerstelle im Hinblick auf die Frage der flexiblen Stabilität der kapitalistischen Grundstruktur geschaffen. An Meißner (2011: 546) anschließend wäre die Kritik der politischen Ökonomie in diesem Sinne „als begrifflich-theoretische Rekonstruktion einer spezifischen Dimension des Sozialen zu begreifen“, die den analytischen Zugriff auf sichtbare Phänomene des Sozialen ermöglicht, ohne dass deshalb alle Differenzen durch diese zentrale Dimension orchestriert würden. Vor diesem Hintergrund gilt es das Diktum Foucaults aufzugreifen und die Beziehungen von Subjektivierungsweisen zu Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen zurück ins Blickfeld zu holen, wie es in der jüngeren Vergangenheit auch verstärkt geschieht (vgl. dazu den Beitrag von Pahl in diesem Band). Eine solche Annäherung an die Strukturierung des Sozialen würde dem verbreiteten, mitunter eben durchaus berechtigten Unbehagen entgegentreten, dass poststrukturalistische Theorien infolge der Ontologisierung von Macht Herrschaftssysteme und ihre Gegenregime auf der gleichen Ebene verorten und sich damit des Instrumentariums zur Analyse und Kritik von Herrschaft und Ungleichheit berauben. Auch wenn man Welzer nicht dahingehend folgen muss, dass eine kleine Oligarchie von Kapitalisten das System kontrolliert, gilt es doch, zentrale Widersprüche nicht in einer endlosen Multiplizierung qualitativ ununterscheidbarer Differenzen aufzulösen.18

 

Für eine poststrukturalistische Gesellschaftsanalyse bedeutet dies auch, sich in die Niederungen der Institutionalisierung(en) zu begeben und in Abgrenzung von der verbreiteten anti-institutionell-anarchistisch grundierten Emphase der Frage nachzugehen, wie die Gleichzeitigkeit notwendiger (und gewünschter!) Verfestigungen qua Institutionalisierung und ihre auf Dauer gestellte Problematisierung eigentlich konkret aussehen kann. Mit Castoriadis formuliert (vgl. den Beitrag von Wolf in diesem Heft) heißt das, darüber nachzudenken, ob und wie die Reflexivität des Institutierten durch Institutionalisierung garantiert werden kann. Auch Luc Boltanski, der wie Castoriadis nicht im poststrukturalistischen Feld zu verorten ist, bietet mit seinem Fokus auf die Unabgeschlossenheit instituierter Ordnungen und ihrem strukturellen Zwang zur permanenten Wiederholung bedenkenswerte Anschlüsse: Seine Frage nach der „guten Institution“, die um ihre Grenzen weiß, ist dabei ebenso wie Castoriadis Anliegen der Institutionalisierung permanenter De-Institutionalisierung stets nur eine Annäherung an ein unerreichbares, unmögliches Ziel, kann es eine solche „gute“ Institution doch nicht geben. Die Annäherung eröffnet aber den Blick darauf, dass Institutionen in unterschiedlicher Weise geeignet sind, Reflexivität und Kritik zu ermöglichen, dass eben auch die Strukturierung des Ausschlusses und die Verschleierung der (institutionellen) Gründung in variierender Reichweite und Härte vorliegen. Als Beispiel für eine institutionelle Radikalisierung von Ausschluss und Verschleierung ist die Entwicklung hin zur Post-Politik zu nennen, die – so Žižek in seiner Kritik – das gründende Moment des Politischen komplett ausschließt, in dem sie an die Stelle des politisch-ideologischen Disputs die Technokratie, den Sachverstand und die pragmatische Vernunft setzt (Žižek 2001: 273f.). Das Diktum der neuen Mitte von Blair, Clinton & Schröder aufgreifend, spricht Žižek von der „radikalen Mitte“: Mit dieser auf den ersten Blick ungewöhnlichen Wortkombination – wird mit „Mitte“ doch gerade das Gemäßigte und Nicht-Extreme verbunden –, schärft er den Blick dafür, dass die Radikalität genau darin liegt, über die Leitformel der pragmatischen Wirtschaftspolitik den Möglichkeitsraum von Alternativen zu schließen, diese außerhalb des politischen Konflikts zu stellen und als Unvernunft zu verwerfen. Eine Richtschnur für die Qualifizierung von Alternativen ist ihre Ermöglichung dabei keineswegs – hier darf die Perspektive reflexiver Institutionalisierung nicht in die gleiche Falle tappen wie der poststrukturalistische Mainstream.

 

Wie dringend dabei die Problematisierung von Gesellschaft als geschlossener Totalität in der sozialwissenschaftlichen Diskussion bleibt, zeigt der programmatische Rahmen des kommenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum Thema „Vielfalt und Zusammenhalt“. Die Veranstalter fragen: „Fördert oder gefährdet soziale Vielfalt (bzw. deren – zunehmende – Wahrnehmung) den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Gibt es Formen von Vielfalt (…) die gesellschaftlichen Zusammenhalt in Frage stellen? Inwiefern setzt Zusammenhalt soziale Vielfalt voraus? Entstehen mit neuen Formen von Vielfalt vielleicht auch erweiterte Möglichkeiten der Herstellung von Zusammenhalt?“ (Heinze et al. 2012). Während der „Zusammenhalt“ als evidente und zu affirmierende Größe vorausgesetzt wird – obwohl hier so viele Fragen zu stellen wären – denn wer/was hält eigentlich wen, wo und warum? –, richten sich die von den Organisatoren aufgeworfenen Fragen allein darauf, ob und inwiefern Vielfalt Zusammenhalt fördert, erweitert oder gefährdet. Dass Zusammenhalt umgekehrt Vielfalt einschränkt, dass Zusammenhalt konstitutiv Ausgeschlossenes produziert, bleibt derweil ausgeblendet. Das Verhältnis von (sozial-)politischer Inklusion bei gleichzeitiger Begrenzung der Inklusion qua Staatsbürgerschaft ist dabei nur einer der augenfälligsten Komplexe, der hier aus dem Blick gerät. Da der Umkehrschluss nicht die Abkehr vom Ideal der Inklusion sein kann, eröffnet sich genau hier das Terrain einer poststrukturalistischen Gesellschaftskritik im Spannungsfeld von Gründung und Entgründung, von Institutionalisierung und De-Stabilisierung: „Die Offenheit oder Unvollständigkeit, die das Ideal der Inklusion konstituiert, ist genau ein Effekt des unrealisierten Status dessen, was der Inhalt des Einzuschließenden ist oder sein wird. In diesem Sinne also muß Inklusion als Ideal durch ihre eigene Unmöglichkeit konstituiert werden; tatsächlich muß sie ihrer eigenen Unmöglichkeit verschrieben sein, um auf dem Weg der Realisierung fortzukommen.“ (Butler in: Butler/Laclau 1998: 239, Hervorhebung SvD) Was kompliziert klingt, heißt einfach: Dass es totale Inklusion nicht geben kann, schmälert das Ideal nicht, und auf dem Weg der (politischen) Realisierung von Inklusion kommt man gerade dann voran, wenn das Bewusstsein der finalen Unmöglichkeit die Inklusionsbewegung nie enden lässt. Dabei wird es nötig sein, sich zu temporären Lösungen zu verhalten, ihre Institutionalisierungen zu forcieren – im vollen Bewusstsein, dass diese stets prekär und kritikwürdig sein werden, wenn auch im glücklichen Fall vielleicht etwas weniger als das, was dem voraus ging. Eine Haltung, die dieses „Risiko“ scheut, die nicht bereit ist, die Subversion, die Taktik, die Kritik im Sinne einer positiven Ordnung weiterzudenken, hat den Vorsichtsimperativ poststrukturalistischen Denkens gründlich missverstanden und bleibt letztlich entpolitisierter Spuk. Denn: „Es ist nicht das Risiko, auf das sich einzulassen man vermeiden sollte, weil es unvermeidlich ist, aber es ist das Risiko, das bekannt sein muss und den TrägerInnen, SprecherInnen und Handelnden (…) eine unendliche Verantwortung auferlegt.“ (Balibar 2007: 7)

 

 

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Saar, Martin (2009): Genealogische Kritik, in: Rahel Jaeggi & Tilo Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik? Frankfurt/Main, S. 247-265.

Sanbonmatsu, John (2011): Postmodernism and the Politics of Expression, in: Lilley, Sasha (ed.): Capital and its discontents, Pontypool, S. 220-236.

Stäheli, Urs (1995): Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes: Diskurstheoretische Perspektiven, in: Schweizer Zeitschrift für Soziologie, 21 (2), S. 361-390.

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Veyne, Paul (1991): Der späte Foucault und seine Moral, in: W. Schmid (Hrsg.), Denken und Existenz bei Foucault, Frankfurt/Main, S. 208-219.

Zelik, Raul (2011): Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken, Hamburg.

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Žižek , Slavoj (2002): Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt/Main.

Žižek , Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten, Berlin.

 

 

Fußnoten

1 Entstanden in Großbritannien Ende der 1950er Jahre im Kontext der politischen und kulturkritischen Bewegungen der New Left, grenzten sich die Cultural Studies in ihren Anfängen von einem ökonomischen Reduktionismus ab und fokussierten – anknüpfend an Antonio Gramsci und Louis Althusser – auf Kultur als einen eigenständigen Bereich der Produktion von Gesellschaft. Seit den 1970er Jahren sind die Cultural Studies zunehmend poststrukturalistisch beeinflusst und interessieren sich insbesondere für die Frage kreativen und widerständigen Handelns. Im Folgenden werden die Cultural Studies dementsprechend unter das Paradigma des Poststrukturalismus gefasst.

2 Bereits Mitte der 2000er Jahre polemisierte Terry Eagleton: „In some cultural circles, the politics of masturbation exert far more fascination than the politics of the Middle east. Socialism has lost out to sado-masochism.“ (Eagleton 2004: 3)

3 Dass er hierfür ausgerechnet Ralf Dahrendorf und Erwin K. Scheuch als Gewährsmänner anführt, sei dahingestellt.

4 Ich danke Stefanie Graefe für instruktive Gespräche über das geteilte Unbehagen ob dieser Entwicklung.

5 Nach einer wechselvollen Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichen Disziplinen und „Wellen“ (so insbesondere in der Philosophie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaft) ist der Poststrukturalismus seit einiger Zeit auch in den deutschen Sozialwissenschaften angekommen (Moebius/Reckwitz 2008: 7) und hat sich als kulturwissenschaftlich orientierte Analytik an den Universitäten verankert. In einzelnen Forschungsbereichen – so den Gender und Disability Studies, den Postcolonial Studies, der Kultur- und Körpersoziologie – kann von einem sehr großen Einfluss poststrukturalistischer Analysen gesprochen werden. In anderen Bereichen wie der Wirtschafts- und Industriesoziologie, der Ungleichheits- und Wohlfahrtsstaatsforschung, aber auch der Ökonomiekritik und Staatstheorie ist das poststrukturalistische Theorieprogramm im deutschsprachigen Raum jedoch weiterhin ein Fremdkörper.

6 Vgl. auch Kuhn (2009: 56f.): „Alle der genannten TheoretikerInnen waren politisch aktiv und einige (..) in sehr radikalen Zusammenhängen; um einiges radikaler als die Zusammenhänge, in denen sich viele jener KritikerInnen bewegen, die den PoststrukturalistInnen jedweden revolutionären Charakter absprechen wollen.“

7 Dass eine Kritik identitätslogischen Denkens nicht dem Poststrukturalismus vorbehalten ist, zeigt Harald Wolf in seinem Beitrag zu Castoriadis (in diesem Heft); dass umgekehrt nicht alle poststrukturalistischen TheoretikerInnen in gleicher Weise das differenztheoretische Denken zentral stellen, demonstriert das Beispiel Foucaults.

8 Aufzuzeigen sei, wie Bude (2011: 13) es formuliert, „wer lügt und sich über den Zustand der Welt betrügt und wer, weil es angeblich keine Alternativen gibt, belogen und betrogen wird“.

9 Der große Einfluss Althussers als Schlüsselfigur zwischen Marxismus und Poststrukturalismus wird hier mehr als offensichtlich, finden sich doch die wesentlichen Motive seiner späten Ideologietheorie in modifizierter Weise in fast allen poststrukturalistischen Theorien wider: seine Kritik am Determinismus und seine Kritik am hierarchischen Machtmodell sind hier ebenso zu nennen wie insbesondere seine Kritik eines kurzschlüssigen Subjektverständnisses, das die subjektivierende Wirkung sozialer Macht ausblendet (vgl. Saar 2008: 196ff.).

10 Seit einiger Zeit ist die Position populär, dass sich das kritische Potenzial dieser Perspektive verbraucht habe, da minoritäre Existenzweisen heute nicht nur möglich, sondern unterschiedslos zu Schmiermittel des kapitalistischen Gefüges geworden seien. Bekannteste Beispiele sind Žižeks und Badious Polemiken gegenüber dem „Abfeiern“ des Minoritären, dekoriert mit zahlreichen Beispielen wie schwarzen Homosexuellen, behinderten Serben oder verheirateten Priestern (z.B. Badiou 2002: 11). Katja Diefenbach entgegnet diesen Kritikern jedoch zu Recht, dass sie „die freisetzende Dynamik des Kapitals überbetonen, während sie die neokonservative Verfestigung familiärer und religiöser Werte unterthematisieren“ (Diefenbach 2007: 3).

11 Dennoch ist auch bei den für diese Verständnisweise (1) in Bezug genommenen AutorInnen eine gewisse Emphase der Dynamik nicht zu verleugnen, die diese wichtige Unterscheidung mitunter etwas verwischt (vgl. z.B. Butler 2009: 69f.). Auch Deleuze und Guattari, die stets betont haben, Absatzbewegungen, Entterritorialisierungen, Bewegungen des Molekularen auf der Mikroebene nicht per se positiv zu sehen, tendieren in ihren Ausführungen zu einer zumindest affirmativ gefärbten Faszination für Fluchtlinien und Nomadologie(n) (Deleuze/Guattari 1992).

12 Die hoch assoziative Schreibweise von Deleuze und Guattari scheint zumindest (mit-)verantwortlich dafür zu sein, dass es häufig gerade die an diese beiden so politischen Autoren anschließenden Analysen sind, die einen mit rauchendem Kopf zurücklassen, bis man realisiert, dass es zwar strömt und molekularisiert, dass man schon nach dem letzten Satz nicht mehr wirklich weiß, was und wohin. Eine Ausnahme in Form und Inhalt stellen beispielsweise jüngere Betrachtungen von Raul Zelik dar, der sich nicht scheut, das nomadische Prinzip und das emanzipatorische Potenzial der Absatzbewegungen aufzugreifen und für aktuelle soziale Bewegungen dezidiert normativ weiterzudenken: „Damit diese Veränderung emanzipatorisch wirkt, darf sie aber nicht nur deterritorialisieren, sondern muss auch Kriterien erfüllen: Die Absatzbewegungen müssen solidarische Beziehungen stärken, materielle Lebensbedingungen verbessern, Herrschaftsverhältnisse reduzieren.“ (Zelik 2011: 127)

13 Unterstützt wird diese Tendenz der De-Politisierung durch jene Diagnosen, die die unterschiedslose Vereinnahmung aller kritischen, subversiven und nonkonformen Impulse durch den Kapitalismus unterstellen, die auf diese Weise per definitionem zum Motor des permanent seine Grenzen überschreitenden kapitalistischen Systems umgearbeitet werden (vgl. z.B. Bröckling 2007: 133ff.; kritisch zu dieser Diagnose van Dyk 2009). System und Kritik werden ununterscheidbar verschränkt, mit verheerenden Konsequenzen für die Praxis der Kritik und Subversion.

14 Eindrückliches Beispiel ist die auf Alltagspraktiken rekurrierende Analyse der Antidisziplin bei de Certeau (1988). Zum nicht notwendigerweise emanzipatorischen Charakter von Eigensinn vgl. auch Graefe 2010.

15 Dies gilt auch über Butler hinaus: Thomas Seibert und Hanno Pahl weisen (in diesem Heft) darauf hin, dass zentrale poststrukturalistische Referenzautoren den ökonomischen Kontext und die mit diesem einhergehenden Spaltungen keineswegs ausgeblendet haben.

16 Augenfällig sind die starken Bezugnahmen auf postfundamentalistische politische Theorien im Kontext aktueller post-anarchistischer Theoriedebatten, so z.B. Newman 2011, der emphatisch an Rancière anschließt. Kritisch zur anti-institutionellen Perspektive Rancières für den Bereich der Bildung vgl. den Beitrag von Loick in diesem Heft.

17 Ich möchte mich selbst im Übrigen von dieser Kritik gar nicht ausnehmen.

18 Wohin umgekehrt eine radikale Vereinfachung im Welzer’schen Sinne in der Praxis führt, ließ sich in der jünsten Vergangenheit auch am Beispiel der Occupy-Bewegung sehen: Die auf den ersten Blick radikale und für eine kurze Hochphase scheinbar erfolgreiche „We are the 99%“-Parole scheinen sich als Strohfeuer zu erweisen: Die radikale Vereinfachung eines komplexen gesellschaftlichen Widerspruchs und die Ausblendung einer langen Geschichte von Emanzipationsbewegungen könnten zumindest mit dafür verantwortlich sein, dass es bislang nicht gelungen ist, ein breites Spektrum von gesellschaftlichen Kräften einzubinden und über eine – in hohem Maße an den politischen Mainstream anschlussfähige – Brandmarkung einer entfesselten Oligarchie hinauszukommen.

 

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Dieser Beitrag erschien zuerst in Prokla 167 Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 167, 42. Jg., 2012, Nr. 2 und ist unter folgender Adresse als PDF verfügbar:

http://www.prokla.de/2012/06/28/editorial-prokla-167/