Antisemitismus jenseits von political correctness angehen

Dieser Text knüpft an aktuelle Debatten über den Umgang mit Antisemitismus in Wiener linken akademisch-künstlerischen Kontexten an und soll einen Beitrag zur weiteren Auseinandersetzung leisten. Die Diskussion entbrannte anlässlich der Übersetzung und Veröffentlichung von Texten des dekolonialistischen Theoretikers Walter D. Mignolo durch das European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp) und den Verlag Turia + Kant, da der Autor für die Reproduktion antisemitischer Stereotype an anderer Stelle kritisiert worden war. Der Konflikt eskalierte mit einem offenen Brief, in dem die Bagatellisierung antisemitischer Statements von einem jüdischen Standpunkt aus problematisiert wurde. Diese Intervention wurde von mehreren Seiten als hysterisches, männlich-weißes und kontraproduktives Linken-Bashing abgetan und die Debatte verebbte rasch.[1] Aus unserer Sicht ist eine solche „Nicht-Auseinandersetzung“  ein immer wiederkehrendes Muster innerlinker Debatten bei diesem Thema und lässt sich – unter anderem – auf konkurrierende Erinnerungs- und Anerkennungspolitiken in postnazistischen und postkolonialen Kontexten zurückführen. Wir gehen daher zunächst auf einige Knackpunkte der Diskussion ein, die den Streitigkeiten unserer Meinung nach zugrunde liegen. Abschließend schlagen wir einen Umgang mit Antisemitismuskritik in und an linken Kontexten vor, der mit Ambivalenzen arbeitet und sich über politische Differenzen nicht ausschweigt.

Nach 1945 wurde die Shoah zu einem Referenzpunkt der europäischen Erinnerungskultur. Heute führt das mitunter zu „Opfer-“ bzw. „Erinnerungskonkurrenzen“ (Messerschmidt 2008), bei denen die Anerkennung  jüdischen Leides als Teil eines europäischen „Erinnerungs-Establishments“ wahrgenommen wird, das die Erinnerung an koloniale Gräuel nach wie vor unterdrückt. Bis zu einem gewissen Grad ist aktuell auch die „Überwindung“ von Antisemitismus ein Gebot des politisch Korrekten im „christlich-jüdischen Abendland“, während andere -Ismen hegemonial wurden. Postkolonialer Rassismus gegenüber Schwarzen Personen und people of colour sowie antimuslimischer Rassismus prägen das gegenwärtige Migrationsregime, in dem Antisemitismus eine untergeordnete ideologische Rolle spielt. Zudem sind jüdische Communities heute strukturell weniger exkludiert als andere „Andere“ und dementsprechend werden sie als Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen. Insofern könnte Antisemitismus tatsächlich als weniger dringliches Problem erscheinen – und genau diese Logik liegt den innerlinken Streitigkeiten zugrunde: Die Kritik daran mutet als „weißes Projekt“ an, als übertrieben, anachronistisch und akutere Diskriminierungsformen herunterspielend. Eine solche Wettbewerbsperspektive ignoriert allerdings, dass Jüdinnen und Juden historisch die „Anderen innerhalb Europas“ waren und eliminatorischer Antisemitismus Teil der jüngsten Geschichte der TäterInnen-Länder ist. Sie vergisst, dass in Wien ein Schritt aus der Tür reicht, um über die Vernichtung jüdischen Lebens „zu stolpern“, und es vergisst auch die Tatsache, dass allein die Möglichkeit zu stolpern erst seit wenigen Jahren existiert und das Ergebnis von Anerkennungskämpfen ist. Letztlich wird auch ausgeblendet, dass ein anti-antisemitischer hegemonialer Diskurs das Ressentiment nicht zum Verschwinden bringt, Antisemitismus also nach wie vor eine Bedrohung darstellt und zur Emigration nach Israel treibt. Solche kompetitiven Nullsummenlogiken führen zu Sackgassen in der Debatte und deshalb schlagen wir vor, die Streitigkeiten zu re-politisieren, indem wir sie als logischen Teil von Anerkennungspolitiken in postkolonialen und postnazistischen Kontexten begreifen. Ohne dabei in rechtes PC-Bashing einzustimmen, argumentieren wir außerdem, dass falsch verstandene politische Korrektheit Stereotype in erster Linie vermeidet, wohingegen jede tiefergehende Reflexion der eigenen -Ismen zu Spannungen führen kann – sei es auf individueller Ebene oder in Form von politischen Differenzen mit Spaltungspotenzial. Aber die Auseinandersetzung mit solchen Differenzen kann auch Ausgangspunkt für solidarische, „multidirektionale“ Politiken sein, etwa wenn die kompetitive Perspektive durch eine ersetzt wird, die im Anschluss an Hügel et al. (1993) nach den „entfernten Verbindungen“ unterschiedlicher Rassisierungsformen fragt – und dafür plädieren wir.

Also was tun, wenn wir mit dem Herunterspielen von Antisemitismus in linker Wissensproduktion, die beansprucht, hegemoniale Machtstrukturen zu dezentrieren, konfrontiert sind? Mit Blick auf die Erfahrungen der Wiener Debatte schlagen wir vor, die Existenz von Ambivalenzen und Widersprüchen in den Räumen der Kritik ernst zu nehmen. Das würde zu allererst bedeuten, mit der Annahme zu brechen, ein Raum könne frei von -Ismen sein (denn auch wenn Widersprüche sich durch unsere politischen Aktionen und Interventionen verändern können, sind sie damit nicht aus der Welt geschafft). Zweitens würde es bedeuten, Antisemitismus als uneindeutige und widersprüchliche politische Kategorie zu verstehen, die in vielen verschiedenen Formen auftreten kann, auf vielen verschiedenen Ebenen und manchmal näher an „uns“ und „unseren“ Räumen dran ist, als wir angenommen hätten.

Es ist konstruktiver, Antisemitismus als politische Kategorie und als konkretes Problem zu behandeln, mit dem umgegangen werden muss, anstatt ihn zu verschweigen, zu bedauern, oder die Kritik daran als gerade nicht prioritär abzutun. Antisemitismus zu fokussieren, d.h. den gewaltsamen Vektor der Macht, der sich materialisiert, herauszuarbeiten, anstatt ihn herunterzuspielen, würde uns erlauben, mehr über dessen Funktionsweise zu lernen. Im speziellen Fall hätte das bedeutet, bevor (oder zumindest während) die Gedanken eines Autors, der Antisemitismus reproduziert, in weiteren Umlauf gebracht werden, die problematischen Schriften in Frage zu stellen. Aber anstatt dichotomisch zu verdammen oder zu verteidigen, wäre es viel notwendiger, das Problem zu diskutieren, das Verhältnis zwischen den ausdrücklich problematischen und nicht explizit problematischen Stellen der Theorieproduktion genauer zu untersuchen, zu fragen, in welchem Umfang Antisemitismus in einem Text des strittigen Autors oder der strittigen Autorin mit anderen seiner oder ihrer theoretischen Reflexionen und zum Studien- und Aktionsfeld in Beziehung steht. Darüber hinaus wäre es notwendig, sich auf bereits bestehende Reflexionen und Auseinandersetzungen mit der Geschichte und Genealogie von Antisemitismus in linken Räumen der Kritik zu beziehen (z.B. Poliakov 1992; Strobl 1995). Das muss auf keinen Fall bedeuten, postkoloniale Theorie, Dekolonialität oder kritische linke Theorie und Praxis zu verwerfen. Eine Diskussion über Widersprüche zu führen, macht weder postkoloniale noch irgendeine andere Theorie schwächer. Im Gegenteil, Antisemitismus anzugehen und nicht zu ignorieren, ermächtigt kritisches Denken vielmehr und eröffnet mögliche selbstreflexive Projekte in diesen Feldern, die darauf ausgerichtet sind, das gleichzeitige Verlernen und Bekämpfen aller -Ismen zum politischen Ziel und zur politischen Praxis werden zu lassen.


Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 28, Frühling 2013, „Critical Correctness“.

 

Literatur:

Hügel, Ika et al. (Hg.innen): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin 1993 (Orlanda Frauenverlag).

Messerschmidt, Astrid (2008): Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus, in: PERIPHERIE 109/110, Münster 2008 (Verlag Westfälisches Dampfboot), S. 42-60.

Poliakov, León: Vom Antizionismus zum Antisemitismus. Freiburg 1992 (Ça-Ira-Verlag).

Strobl, Ingrid (1995): Anna und das Anderle. Eine Recherche, Frankfurt/Main 1995 (Fischer Taschenbuch Verlag).



[1] Für einen chronologischen Blick auf die Debatte vgl. http://antisemitismus-wastun.blogspot.co.at/.