Auf der Mauer, auf der Lauer

Informationsflüsse und Blickwechsel in der Kontrollgesellschaft

in (29.03.2013)

Mit The Wire inszeniert David Simon einen Zirkel aus Beobachtung und Gegenbeobachtung, einen scheinbar unauflösbaren Teufelskreis der Verfolgten und der VerfolgerInnen, die aufeinander verwiesen bleiben, ohne sich die Frage nach dem Ganzen zu stellen.

Der Titel The Wire (dt. Verkabelung/Verdrahtung) ist ein erster Hinweis auf die Überwachungstechniken der Polizei, die in der Serie eine zentrale Rolle spielen. Der Titel hat aber noch eine weitere Dimension, die der Verdrahtung und Interaktion aller gesellschaftlichen AkteurInnen, von der Polizei über Politik und Gewerkschaften bis hin zu kriminellen Strukturen, bei welchen es keine HauptprotagonistInnen geben kann. Unter den KritikerInnen gilt die Serie als die beste Fernsehproduktion aller Zeiten.[1] Es wurde gar angemerkt, dass der Nobelpreis für Literatur dieser Produktion, die zwischen 2002 und 2008 beim amerikanischen Privatsender HBO ausgestrahlt wurde, mehr zustehen würde als der Emmy.

David Simon, Drehbuchautor und Regisseur der Serie, arbeitete zwölf Jahre lang als Polizeireporter bei der Baltimore Sun, bevor er ein Jahr lang die Arbeit einer Polizeiabteilung hautnah verfolgte. Simon war stets bei den Polizeieinsätzen dabei und bekam zahlreiches Insiderwissen geliefert. Seine Recherchen wurden zur Vorlage für die Serie, bei der die Unsichtbarkeit des Erzählers zum realistischen Erzählduktus beiträgt.

Das Hauptthema von The Wire scheint auf den ersten Blick der Drogenkrieg in Baltimore zu sein. Dabei werden Perspektiven unterschiedlichster gesellschaftlicher AkteurInnen in Bezug auf den Drogenhandel dargestellt. Die SerienmacherInnen stellen offen die Systemfrage. So bemerken die ProduzentInnen der Serie: „Und was einst, vielleicht, als eine Schlacht gegen gefährliche Substanzen begann, hat sich schon vor langer Zeit zu einem korrupten Krieg gegen unsere Unterschicht gewandelt.“[2] Diese anklagende Haltung ist in der Serieunverkennbar. Die SerienmacherInnen beziehen klar Stellung, auch wenn diese nicht auf den ersten Blick penetrant ins Auge rückt. Die politische Aussage wird gemacht, auch wenn die ZuschauerInnen stets das Gefühl haben, unsichtbare BeobachterInnen in den unterschiedlichsten Milieus zu sein.

Lebensnahe Realitätsfülle

Wenn wir das Genre der Krimis als Folie nehmen, so verstößt The Wire gegen fast alle herkömmlichen Merkmale. Die Serie kann sich nicht wirklich mit HauptprotagonistInnen nach den Gesetzen der Kunst rühmen, welche mal gewissenhafte, manchmal verschrobene, gesetzestreue BürgerpolizistInnen sind, mal kaputte, moralisch verkommene Cops. Bei genauer Betrachtung kann die Serie nicht mal mit einer bestimmten Konzentration auf kriminelle Strukturen mit einem Hauptbösewicht aufwarten, von der viele Krimis leben.

Eine Analyse der Serie muss so schlaglichtartig erfolgen, wie die einzelnen Staffeln von The Wire die gesellschaftlichen Räume schlaglichtartig beleuchten: Mal das Ghetto und das Polizeirevier, mal die Politik und die Zeitungen, mal die Schulen und Familien. Wohl aber werden fast überall die gleichen Gesichter sichtbar und treten in verzweigte Beziehungen zueinander, deren Konsequenzen oft erst nach vielen Stunden sichtbar werden, was dem investigativen Spaß der ZuschauerInnen sehr zugute kommt.

Die Systemtheorie, auf das Medium des Films angewandt, geht in der Strukturanalyse des „klassischen“ Hollywoodfilms davon aus, dass zu Beginn des Films die existente Situation der Normalität durch ein Ereignis gestört wird und dass die Narration auf die Wiederherstellung dieser „Normalsituation“ mittels HandlungsträgerInnen, inesbesondere eines Helden – seltener einer Heldin – hinausläuft. Auch der Polizeiapparat hat in der bürgerlichen Gesellschaft zur Aufgabe, eine in Gesetzen vorformulierte Ordnung, eine in diesem Sinne hegemoniale Normalität, gegen die Angriffe der Devianten zu schützen bzw. wiederherzustellen. So sind Krimis die idealen Filme, um die ZuschauerInnen in den Bann ihrer Narration zu lenken, indem sie das Erkenntnisinteresse durch eine geschickte Abfolge von Spannungsmomenten und Verfolgungsszenen wecken und die ZuschauerInnen dann mit der Wiederherstellung der Ordnung und Normalität belohnen. Sie machen durch die Kameraführung, unterschiedliche Zuteilungen der Filmzeit und nicht zuletzt durch Prototypen von bekannten Klischees Identifikationsangebote und definieren dadurch überhaupt, was am Ende Normalität und Ordnung sein soll.

Wenn also in The Wire der/die HauptprotagonistIn und damit die Identifikationsfigur fehlt, woher wissen wir dann, was am Ende gut sein soll? Die Serie setzt nicht wie die meisten Filme in der Situation der Normalität an, die dann bald gestört wird. Bei der ersten Einstellung ist die Kamera direkt auf den Asphalt gerichtet und als erstes sehen wir Blutschlieren darauf. Es gibt keine Normalsituation in The Wire.

Auch bei anderen Krimiserien beginnen die Folgen oft am Tatort, in der nächsten Folge wird ein neuer Tatort gezeigt, eine neue, disparate Geschichte. Es ist die ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Die Perspektive der Kamera bleibt gewissermaßen immer am Tatort kleben. Anders bei The Wire. Die Kamera setzt hier am Asphalt an und bewegt sich im Verlauf der Staffeln in konzentrischen Kreisen zu immer höheren Etagen der Gesellschaft. Der Tatort wird in Bezug zum System gestellt und existiert nicht als eine einzelne schauerliche Episode. Es wird auch am Ende der fünf Staffeln nur vorübergehende Erfolge in den Ermittlungen geben. Aber die gestörte Situation des Anfangs wird nie – auch am Schluss nicht – aufgehoben. Gezeigt wurden aber am Ende die Zusammenhänge und Gründe einzelner Verbrechen, ihre oft jahrzehntelangen Vorläufer und Nachwirkungen.

Hauptprotagonistin Kriminalität

Wenn fast alle Spielregeln des Genres gebrochen sind, ist The Wire dann überhaupt noch eine Krimiserie? Ja, das ist sie. Aber in einem ganz besonderen Sinne. In der Serie geht es nur vordergründig um Kriminalfälle. In Wirklichkeit geht es hier um das gesellschaftliche Phänomen der Kriminalität, mehr noch – es geht um Gesellschaft als Ganze ausgehend vom Phänomen der Kriminalität. Die Säulen des modernen Staates werden in The Wire durchdekliniert und in ihren Interdependenzen dargestellt: Politik, Polizei, Bildung, Medien, Arbeit und Gewerkschaften. Die Serie bleibt nicht bei der Dichotomie „wir“ und „die anderen“ stehen. PolizistInnen, LehrerInnen, ReporterInnen, „tax-payer“ als gute BürgerInnen auf der einen und VerbrecherInnen auf der anderen Seite. Im Gegenteil. Simon geht im Verlauf der Serie nicht nur den Menschen nach, sondern ihren Beziehungen als Interaktionen bestimmter gesellschaftlicher Rollen bzw. Charaktermasken. Dadurch hinterfragt er die naturalisierende Erzählung von Kriminellen und der objektiven „guten“ Justiz.

Die sozialen Hintergründe der „Kleinkriminellen“, der Drogenbarone und Drogensüchtigen zeigt, dass diese vor dem Hintergrund der untergehenden Industriestadt Baltimore keine Wahl haben. Simon bleibt aber nicht bei der punktförmigen Erklärung eines Problems stehen. Spätestens in der zweiten Staffel wird die klaustrophobische Situation des Ghettos aufgebrochen und die große globalisierte Welt kommt hinein. Und zwar in Form von mehreren Leichen osteuropäischer Frauen. Im Verlauf der zweiten Staffel wird Simon noch expliziter, wenn er die Nachschubprobleme unserer liebgewonnenen DealerInnen im Nebenstrang der Erzählung thematisiert. Das, was die Narration ermöglicht, die Fortbewegung der Erzählung vorantreibt, sind nicht nur die Charaktere. Diese bleiben in ihren Revieren und Ghettos. Es sind die Waren und das Geld, die Grenzen überschreiten und neue Modalitäten im Benehmen der ProtagonistInnen generieren, sie zu Reaktionen zwingen. Sie sind die wahren TransgressionsheldInnen der Serie. Ein Polizist spricht es aus: „You should follow the money.“[3]

Das Sujet der Filmnarration – also ihren Kern – bilden zwar die Beziehungen der Menschen untereinander. Sie sind aber durch Geld, Waren und andere Formen des Kapitals vermittelt.

Von Milieu zu Milieu nach demselben Gesetz

Um diese Vermittlungen kreist das Kino-Auge. Es zieht gleichsam immer größere Kreise von der Großaufnahme des Bluts am Tatort über das Ghetto bis zur Skyline. Es zeigt in der zweiten Staffel den Niedergang der Industrie und der Gewerkschaften, wenn auch mit teilweise anderen ProtagonistInnen. Es geht weiter, zur Politik. Es nähert sich wieder dem Ghetto, indem es die Schulen der dort lebenden Kinder im Hinblick auf ihre Aufstiegschancen in der Gesellschaft und Abstiegsgewissheiten aufzeigt. Diese Zementierung der Milieus wird schon sehr früh in der Serie ein explizites Thema, als die „Ghettoboys“ die Regeln des Schachs besprechen. „Der König bleibt immer König. Der Bauer fällt als erster. Es bleibt, wie es ist.“[4] Dass Simon nicht nur die paramilitärischen Strukturen des Drogen-Dealer-Milieus mit seinen festen Hierarchien damit meint, wird mit dem folgenden Schnitt klar, der uns von der Couch der Dealer inmitten eines Ghettohofes direkt vor das repräsentative Gerichtsgebäude der Stadt katapultiert. Die unmittelbar auf diesen Schnitt folgende Sequenz erzählt uns nämlich von den paramilitärischen Strukturen des Polizeiapparates mit seinen rigiden, quasi-feudalistischen Abhängigkeitsverhältnissen.

Überhaupt funktionieren die Schnitte in der Serie gewissermaßen wie Spiegelachsen, die zwei scheinbar so disparate Welten wie die der Kriminellen und die der VertreterInnen staatlicher Institutionen als gegenseitige symmetrische Spiegelungen erscheinen lassen. Der Realismus und die soziale Kritik der Serie wurde in den Feuilletons ausgiebig diskutiert. Simon sieht sich als Journalist auf der Suche nach dem „Warum“. Seine Methode ist die der Suggestion einer unsichtbaren Präsenz in Milieus. Die ZuschauerInnen meinen, einen direkten Zugang zu den verschiedensten Nischen der Stadt zu haben. Die Kamera gibt vor, mit ihrem Auge zu verschmelzen, das Ohr nimmt die unterschiedlichsten Soziolekte der Milieus scheinbar ungefiltert wahr. Die Schnitte und Einstellungen sind so aufeinander abgestimmt, dass aus deren logischer Verknüpfung die Illusion entsteht, die Kamera wäre gar nicht da, man würde in die lebendige Stadt und in die sich entwickelnden Geschichten hinein spähen.

Dieser realistische Modus der Erzählung und das gut recherchierte Material dürfen natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles bis ins Detail durchkomponiert ist. Diese zweite Ebene – die Ebene der Komposition und Verknüpfung einzelner Sequenzen – erzählt uns auch Geschichten, auf dieser Ebene trifft Simon Aussagen. Um diesen Aussagen näher zu kommen, können v. a. folgende Fragen gestellt werden: Wie wird das Innen und das Außen des Gesetzes repräsentiert? Wie wird das Normale und wie das Deviante überhaupt filmisch dargestellt? Wie werden die Grenzen der Gerichtsbarkeit und der Demokratie vorgeführt? Wie wird gezeigt, dass die Entscheidungsfindungen im Gerichtssystem und auf der Straße ähnlichen „Gesetzen“ unterworfen sind?

Der panoptische Traum

Das Gesetz und das System der Strafverfolgung träumen einen panoptischen Traum. In seiner Theorie des Übergangs westlicher Gesellschaften von der Disziplinar- zur Kontrollordnung benutzt Michel Foucault das Bild des Panopticons, jenes gefängnisarchitektonischen Entwurfs des englischen Utilitarismusphilosophen Jeremy Bentham, welches eine effiziente Überwachung der GefängnisinsassInnen ermöglichen sollte. Die gegeneinander isolierten Zellen sollten in einem ringförmigen Gebäude um einen zentralen Wächterturm angeordnet sein, der selbst nicht einsehbar ist.[5] So soll das Wissen um eine mögliche Überwachung alleine die InsassInnen zu einem erwünschten Verhalten zwingen. Dieses Bild übertrug Foucault auf die westlichen Kontrollgesellschaften und begründete das normative Verhalten der „InsassInnen“ bürgerlicher Gesellschaften mit dem verinnerlichten Blick des hegemonialen Gesetzes auf sie.[6]

Auch in The Wire versucht die Abteilung „Drogenkriminalität“ den DelinquentInnen durch Videoüberwachung und Abhörtechniken nachzukommen. Gleich in der ersten Staffel wird vom Dach eines Hochhauses die Gegend der besonders heruntergekommenen Projects überwacht. Doch das gesellschaftliche Auge sieht und sieht nichts. Der normative Blick scheint hier nicht verinnerlicht zu sein, um mit Foucault zu sprechen. In dieser Sozialbausiedlung floriert der Drogenhandel, der von den Feldwebeln und Soldaten des Drogenbarons Avon Barksdale realisiert wird. Diese gerade werden observiert. Interessant ist, dass die Feldwebel des Drogenhandels sich gar nicht verstecken, sondern von einer inmitten des Hofes aufgestellten alten Couch aus das ganze Areal selber observieren. Der Unterschied liegt jedoch auf der Hand, die Blickhierarchie ist eindeutig. Von oben nach unten sieht man scheinbar besser als horizontal. Doch die Erfolge der Polizei bleiben gering, das Milieu ist undurchdringbar und gehorcht eigenen moralisch strengen Codices. Auf Denunziation steht die Todesstrafe. Erst als eine Kamera direkt im Hinterzimmer von Barksdale installiert werden kann, verzeichnet die Polizei einen ersten Erfolg.

Von der corner in die Welt

Die Welt der Drogendealer nämlich ist die Straße. Ein erster Aufstieg für die Laufburschen ist die eigene Ecke – Corner –, von der aus sie den besten horizontalen Überblick haben. Der Fehler der ersten Dealer-Generation der Serie, von Barksdale, war, dass er die Straße verließ. Die zweite Generation um Marlo Stanfield wird diesen Fehler nicht begehen. Auf der Straße ist die überwiegend schwarze Unterschicht für den Kontrollblick unerreichbar.

Die Entscheidungsfindungen im Drogenmilieu bleiben also so lange für die KontrahentInnen und die Öffentlichkeit unzugänglich, wie sie an dem Corner bleiben. Ein geschickt gesetzter Schnitt zeigt uns die Orte der Entscheidungen auf der anderen Seite des Gesetzes. Von der Straßenecke werden wir nämlich in ein Gerichtsgebäude katapultiert, in dessen Aufzug eine für den Verlauf der Ermittlungen wichtige Entscheidung unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt wird. Die scheinbare Öffentlichkeit und Offenheit der Straße kann nicht deutlicher als mit dem klaustrophobischen Raum eines Aufzuges kontrastiert werden. Aufzüge stehen in der Serie auch sinnbildlich für informelle, intransparente Räume in der angeblich transparenten Gesellschaft. Es stimmt nachdenklich, dass an den deutschen Unis mittlerweile Seminare zum „elevator-talk“ angeboten werden, in welchen StudentInnen beigebracht wird, wie sie in zwei Minuten potenzielle ArbeitgeberInnen von sich überzeugen können.

Der Zugang der Öffentlichkeit und des Gesetzes ist also nicht nur auf der Straße sehr eingeschränkt, auch in den repräsentativen Bauten der Justiz werden hinter verschlossenen Türen Absprachen gehalten, die den demokratischen Raum der Öffentlichkeit ad absurdum führen.

Überhaupt sind die sozialen Räume der schwarzen Unterwelt und der gesellschaftlichen Mitte leitmotivisch aufgeteilt in Straße einerseits und Innenräume andererseits. So werden in der vierten Staffel, die sich mit der Bildung und dem „Nachwuchs“ auseinandersetzt, die Kinder in Treppenkinder – die sozialisierten, dem Elternhaus und damit dem normativen Blick noch nicht abhanden gekommenen – und in die Eckenkinder – die Devianten – aufgeteilt.

Eine andere Säule der US-amerikanischen Demokratie – Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Polizei und Geheimdienst – scheint in der Welt von Baltimore auch nicht zu funktionieren. Auch hier wird die Kamera als das Auge der Gesellschaft mit dem panoptischen Anspruch sehr geschickt in Szene gesetzt. So gehen z. B. VertreterInnen der Polizei beim FBI ein und aus. Was das gesellschaftliche Auge sieht, sind die Bilder der Überwachungskameras an den Wächterpforten. Wir haben gerade einer dubiosen Absprache beigewohnt. Die nächste Einstellung zeigt uns einen Gesprächsteilnehmer die Behörde verlassend. Was erfährt also die Gesellschaft aus den Kamerabildern? Zumindest nichts von den Inhalten des Gesprächs. Schnitt.

Ring der Gewalt

Die Polizei überwacht die Kriminellen, diese überwachen einander. In den öffentlichen Gebäuden sind überall Kameras installiert. Und auf allen Ebenen grassiert Eigennutz, Zynismus und schierer Überlebenskampf. The Wire entführt die BetrachterInnen in eine Welt, die gezeichnet ist von Verhältnissen des Kampfes und der Macht, zwingt mit anzusehen, wie Menschen einander hassen und bekämpfen, wie sie versuchen, die Herrschaft zu erlangen und Macht über die anderen auszuüben.

Werden hier also die politischen und ökonomischen Lebensbedingungen als dasjenige Medium dargestellt, durch das hindurch sich die Rollen und Beziehungen der Menschen herausbilden? Man könnte die Intention der Serie mit Foucaults Worten beschreiben: „Wir betreiben keine Erforschung von Strukturen [...], wir treiben Dynastieforschung; wir versuchen ans Licht zu holen, was in der Geschichte unserer Kultur bis heute am tiefsten verborgen und am dunkelsten geblieben ist, nämlich die Machtverhältnisse.“[7] Die Ebenen der Macht bilden durch Verdrahtungen und Rückkopplungen einen Kreis. Dass es die Gejagten nur in Bezug auf ihre JägerInnen gibt, ist ein wichtiges Thema. So wird es explizit, wenn ein festgenommener Junge aus den Projects auf die Frage, warum er ohne ersichtlichen Grund flüchtete, antwortet: „Weil ihr mich jagt.“

Gibt es ein Außen in diesem Ring der Verbrechen, im Kreis der JägerInnen und Gejagten? Gibt es denn überhaupt ein Außen in diesem Teufelskreis, der es in der vierten Staffel sogar auf eine eigene Ringmetapher bringt? Ein Ring wird einem Kriminellen geraubt und zirkuliert von einem Protagonisten zum anderen durch die ganze Stadt. Die Übergänge sind stets durch Verbrechen markiert, wobei einer der zeitweiligen Besitzer ein Polizist ist. Der Ring macht sozusagen die Runde und taucht beim ersten unrechtmäßigen Besitzer wieder auf. Jeder einzelne steht also in der Serie mit dem anderen in einer Verbindung, deren Verkehrsform das Verbrechen ist. Der Polizist ist da nur ein Glied der Gewaltkette.

Jenseits des Überwachungszirkels?

Wenn alle Ebenen der Gesellschaft durch Blick- und Überwachungshierarchien miteinander verknüpft sind, gibt es dann jemanden, der außerhalb dieser Machtverhältnisse steht? Der die ÜberwacherInnen überwacht? Gibt es ein Außen und wenn ja, wie wird es repräsentiert? Ein mögliches Außen könnte durch die mythische Figur von Omar Little besetzt sein. Ein charismatischer, homosexueller Einzelgänger, der die von Männlichkeit protzenden Drogendealer und Kriminellen überfällt und bestiehlt, wird von allen im Ghetto – selbst von den Brutalsten und Mächtigsten – auf eine unerklärliche Weise gefürchtet. In einer sonst extrem logisch komponierten Serie ist die Figur von Omar eine den Gesetzen der Logik nicht unterworfene Leerstelle. Er taucht wie aus dem Nichts auf und bestraft scheinbar die „Bösen“, lebt vom Geraubten.

Das einzige Zugeständnis an die Logik wird bei dieser Figur höchstens noch darin gemacht, dass er mit seinen wechselnden Partnern alle anderen, die Polizei eingeschlossen, überwacht. Daher kennt er die Wege aller GhettoakteurInnen. Er kann zuschlagen und sich dann in die Dunkelheit wieder zurückziehen. Er hat daher viele FeindInnen, hat sich aber auch durch seine Fairness und moralische Überlegenheit, die ihm aus der Vermeidung „sinnloser“ Gewalt erwächst, viele FreundInnen gemacht. Und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Omar scheint sogar der Knast nichts auszumachen. Nach kurzer Zeit ist er dank seiner FreundInnen wieder draußen, ohne die (in der Serie) üblichen Kanäle des Geldes bemühen zu müssen. Omar ist eindeutig ein Sympathieträger und von Simon sehr liebevoll gezeichnet. Welche Aussage dadurch getroffen wird bleibt allerdings offen. Soll er ein freies Individuum sein, das seinen Gerechtigkeitssinn von jenseits der Gesellschaft, vielleicht gar von einer göttlichen Instanz empfängt und daher nicht den Gesetzen des Spiels unterworfen ist? Oder soll Omar vielmehr die Leerstelle im dystopischen Text der Enthüllungen bleiben, in welche sich das utopische Potential der Erzählung flüchten kann?

Die Interpretation dieser Figur bleibt den ZuschauerInnen überlassen. Fest steht jedoch, dass sie den Schlüssel zur Serie liefern muss. Wenn die Dimension des Rechts und der Gerechtigkeit in der Serie auf eine kritische Dekonstruktion der realen US-amerikanischen Verhältnisse ausgerichtet sein soll – was wir annehmen können –, dann geht Simon von einem transzendenten, nicht in den real vorhandenen Gesetzen manifestierten Gerechtigkeitssinn aus. Dieser scheint von Omar Little getragen zu sein.

Anna Gomer lebt in Berlin und ist germanistin sowie Kunsthistorikerin.

[1] Siehe zum Beispiel FAZ, v. 10.02.2008, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/medien/hbo-serie-the-wire-beste-show-in-der-geschichte-des- tv-1510388.html (Stand aller Links: 18.03.2012).
[2] Vgl. Time Magazine v. 05.08.2008, http://www.time.com/time/magazine/ article/0,9171,1720240,00.html.
[3] Staffel 1, Folge 9, „Game Day“.
[4] Staffel 1, Folge 3, „The Buys“.
[5] Vgl. Dietmar Kammerer, Bilder der Überwachung, 2008, 110.
[6] Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1994.
[7] Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2002 (1994), 30.