Stellvertreter-Prozess

Beobachtungen aus Dresden

(Bild: Christian Jäger)

 

»Die Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit den Ereignissen des 19.02.2011 haben für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung gesorgt und der Stadt Dresden bzw. dem Freistaat Sachsen politischen und wirtschaftlichen Schaden zugefügt«, so das Dresdener Amtsgericht in seiner schriftlichen Urteilsbegründung gegen Tim H. Entsprechend hätte er erwartet, dass sich der Angeklagte »bei der Dresdner Bevölkerung« entschuldigen würde, machte der Amtsrichter schon in der mündlichen Begründung seinen Standpunkt klar.

Tatsächlich war die Verhinderung der Neonazidemonstration am 19. Februar 2011 sowohl mit Sitzblockaden als auch mit handfesten Auseinandersetzungen einhergegangen. Trotz enormen logistischen und finanziellen Aufwands seitens der Ermittlungsbehörden, ausufernder Telefonüberwachung und §129-Verfahren, kann die Aufklärungsquote jedoch nur als desaströs bezeichnet werden. Dabei hatte die Polizei über Teile der Dresdner Südvorstadt stundenweise gänzlich die Kontrolle verloren. Eine heftige Schlappe für eine Innenbehörde, die unter der Bezeichnung »sächsische Demokratie« als letztes Bollwerk des deutschen Obrigkeitsstaates fungiert. Es galt also Schuldige für die Einsatzschlappe zu finden, und Tim H. war seitens der Staatsanwaltschaft diese Stellvertreterrolle zugedacht worden. Der Nachweis individueller Schuld oder eigener Straftaten war dabei bestenfalls zweitrangig.

»Zur Einstimmung« präsentierte die Staatsanwaltschaft in der Verhandlung einen wilden Zusammenschnitt von Krawall-Videos aus Polizei und Youtube-Quellen, die zwar mit der fraglichen Situation oder gar dem Angeklagten nichts zu tun hatten, aber ein »Bild des Tagesgeschehens« vermitteln sollten. Die einzelnen Clips waren dabei zusätzlich mit züngelnden Flammen einer brennenden Barrikade unterlegt worden. Das Video endete schließlich mit steinewerfenden Neonazis, um auch der Extremismustheorie sächsischer Prägung Genüge zu tun. Seine Wirkung auf die beiden Schöffen, zwei ältere Dresdener Herren, dürfte diese Vorführung durchaus erzielt haben.

Sobald es um den Angeklagten selbst ging, wurde die Beweisführung jedoch schnell holprig. Laut Anklageschrift sollte dieser mittels Megafon dazu aufgerufen haben, sich »nicht abdrängen zu lassen« und eine Polizeisperre »zu durchbrechen«. Zu hören waren auf dem entsprechenden Polizeivideo freilich nur Aufrufe, »nach vorne« zu kommen. Der Sprecher selbst war auf den verpixelten Aufnahmen nicht auszumachen. Zur Abhilfe wurde auf dem Video einfach die Person in der Mitte mit der größten Statur eingefärbt, mit der Begründung, im späteren Verlauf des Tages hätte eine große Person einen Beamten mittels eines Megafons beleidigt -  einmal Megafonsprecher, immer Megafonsprecher. Der Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft,  der angab, den Sprecher der Durchsagen von seinem Balkon aus gesehen zu haben, entpuppte sich bereits am ersten Verhandlungstag als Entlastungszeuge der Verteidigung. Seitens des Anwohners wurde der Angeklagte nicht nur nicht wiedererkannt, sondern die Person, die er gesehen habe, hätte ganz anders ausgesehen, insbesondere sei diese auch anders bekleidet gewesen als der spätere »Beleidiger«.

Die Polizisten vor Ort hatten gar keinen Megafonsprecher erkannt, einige gingen sogar von mehreren Sprechern aus. Tatsächlich sind im weiteren Verlauf des im Saal vorgeführten Videos mindestens zwei Megafone zu erkennen. Auf Nachfrage der Verteidigung gab der ermittelnde Beamte sogar an, wegen einer zweiten Person mit Megafon »mit dem gleichen Vorwurf« zu ermitteln.

Da die Beweisaufnahme wenig Belastendes zu Tage förderte, ließ das Gericht noch überraschend den Arbeitgeber des Angeklagten aus der Bundesgeschäftsstelle der Linken vorladen,  ob dieser ihm einen Auftrag zur »Störung des NPD-Aufzuges« erteilt habe. Der Hinweis, dass diese Beschäftigung damals noch gar nicht bestand, passte dem Gericht dabei sichtlich nicht ins Konzept.

Wenig ergiebig war auch die Auswertung der Hausdurchsuchung bei dem Angeklagten. Das erhoffte Megafon wurde zwar nicht gefunden, dafür aber eine schwarze Jack-Wolfskin-Jacke, die eine Person mit Megafon auf dem Video getragen haben soll. Der ermittelnde Beamte musste allerdings eingestehen, in dem Jahr »etwa fünf« solcher Jacken bei diversen Durchsuchungen sichergestellt zu haben. Dies sei ein absolut verbreitetes Kleidungsstück.

Verurteilt wurde Tim H. trotzdem: 1 Jahr und 10 Monate  wegen Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs als »Koordinator« des Durchbruchs. Eigene Tätlichkeiten würden ihm zwar nicht vorgeworfen aber Übergriffe anderer müsse er sich als Rädelsführer mit anrechnen lassen. Belastend wurde dabei ins Feld geführt, dass seitens des Angeklagten eben nicht die geforderte »Entschuldigung bei der Dresdner Bevölkerung« erfolgte, sondern dieser von seinem Recht Gebrauch machte, in der Verhandlung zu schweigen. Und damit der postulierte Abschreckungseffekt auch wirkt, erfolgte die Verurteilung ohne Bewährung. Dabei geht selbst das Gericht in der schriftlichen Urteilsbegründung davon aus, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte »künftig keine Straftaten mehr begehen wird«. Doch um den Angeklagten ging es recht wenig bei diesem Urteil. Folgerichtig fehlt es auch an Ausführungen, was der Angeklagte nun eigentlich gesagt haben soll, um »auf die Menschenmenge einzuwirken«. Eine kafkaeske Situation, für eine »Einwirkung« verurteilt zu werden, die gar nicht benannt wird. Neben der Verteidigung legte auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Sie forderte bereits in der Verhandlung eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten, wobei eine Freiheitsstrafe ab 2 Jahren grundsätzlich nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Noch im letzten Jahr musste sich das Amtsgericht Dresden in einem Revisionsbeschluss bezüglich eines »Blockade-Urteils« vom Oberlandesgericht sagen lassen, dass für »den Angeklagten belastende Schlussfolgerungen nicht auf bloße Vermutungen oder Möglichkeiten gestützt werden dürfen«. Und »dass es nicht Sache des Angeklagten ist seine Unschuld darzutun.« Nichts weniger als der Vorwurf, grundlegende Rechtsstaatsprinzipien missachtet zu haben. Geholfen hat der Hinweis wenig.

Eine Dokumentation des Urteils sowie Infos zur aktuellen Entwicklung gibt es auf:
https://de-de.facebook.com/WirBlockierenWeiter
http://sachsendrehtfreistaat.blogsport.de/

Für die Unterstützung im Fall Tim und weiteren von Repression in Dresden Betroffenen wurde ein Spendenkonto eingerichtet:

Netzwerk Selbsthilfe e.V.
Kto. 7403887018
BLZ: 100 900 00
Berliner Volksbank
Stichwort: »FREISTAAT«