Kolumne Durruti: Alltagsgeschichten aus dem real existierenden Kapitalismus

Was hat sich doch die Welt um mich herum verändert: in meiner Teenie-Zeit tauschten wir Schallplatten, um sie auf Kassette zu überspielen, das Stadion vom FC hatte noch keine Flutlichtanlage, und zur Kontaktaufnahme mit meinen Freunden musste ich einen Telefonapparat mit Wählscheibe benutzen. Mein soziales Netzwerk war der Springbrunnen in der Fußgängerzone, wo wir unser Bier aus Dosen tranken und die vorüberhuschenden Passanten nach harten D-Mark-Münzen anschnorrten.

Aber der wesentlichste, bedeutendste Wandel, dessen Zeitzeuge ich geworden bin, blieb bisher von den meisten unbemerkt. Erst wenn man sich für einen Moment Zeit zur Besinnung nimmt und das Heute mit dem Damals vergleicht, wird die Dramatik dieser Umwälzung begreiflich: es gibt keine Jugend mehr.

Sicher, hier und dort werden noch Kinder geboren. Aber der demographische Wandel hat die Jugendlichkeit zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen lassen. Als ich auf die 30 zumarschierte, wurde noch darüber spekuliert, die Jugend verschöbe sich, so dass sich auch reifere Menschen noch der Jugendkultur zugehörig fühlten, Musikclubs besuchten und der Unvernunft frönten. Vom Jugendwahn war gar die Rede, und das bald selbst 50jährige sich wie 20jährige herausputzten. Es ist anders gekommen. Die Zeit hat diese Etappe übersprungen.

Somit gehöre ich wohl zur letzten Generation, die ihre Jugend in vollen Zügen genießen konnte und sich im gleißenden Licht neidischer Blicke der von der Gesellschaft ins Abseits gestellten Älteren aalte. Vor uns hatte man Respekt, wir waren die wilden Halbstarken, die von ihren Eltern verzärtelt wurden, um aus uns die Elite von morgen zu formen. In Bussen und Bahnen wich man ängstlich vor uns aus, wir galten als gefährlich und kostbar zugleich.

Jetzt, da wir am Drücker sind, haben sich die Verhältnisse verkehrt. Der Nachwuchs ist derart dünn gesät, dass wir ihm die Hammelbeine langziehen. Nichts mehr mit Rumhängen, Faulenzen und 20 Semester studieren. Ran an die Arbeit, heißt es nun, schließlich müsst ihr unsere Rente erwirtschaften. Die Eltern von heute finanzieren ihren Sprösslingen deshalb keinen extravaganten Lebenswandel mehr. Das wichtigste Unterpfand ihrer Macht, die Kaufkraft, haben die Jugendlichen eingebüßt. Sie sind nicht mehr Zielgruppe Nr. 1 der Marketingstrategen. Umsätze macht man heute nicht mehr mit Skateboard und Rollerblade, sondern mit dem Rollator. Erst vor wenigen Wochen sah ich erstmals eine Frau mit einem coolen, hippen Rollator. Schnittig geformt, schmal, schneidig und griffig, in leuchtenden Neonfarben lackiert, war diese Gehhilfe der Blickfang im Einkaufszentrum.

Die Jugend ist keine Leitkultur mehr. Warum auch? Backfischgekicher und Hänflinge, von denen selbst kleinste Kleidergrößen in großen Falten herabbaumeln, werden heute als das wahrgenommen, was sie sind: peinlich.

Nach dem letzten Heimspiel lief ich am Bahnhof unverhofft in eine Horde Teenager-Möchtegernhooligans vom Lokalrivalen zu. Früher hätten ähnliche Rabauken dem 40jährigen gezeigt, wie wenig sie von einer dreckigen St. Pauli-Zecke wie mir hielten. Diese aber erstarrten in Ehrfurcht. Ich konnte ihre Angst riechen. Also provozierte ich sie, zog sie auf, machte mir meinen Spaß mit ihnen, bis sie davonrannten. So ist‘s recht, dachte ich bei mir. Es ist schön, älter zu sein.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Direkten Aktion #216 - März / April 2013