Vorwärts und nicht vergessen

Die „Erbe-Thesen“ als Belege für Chance und Scheitern der DDR-Rechtswissenschaft

Die Frage, ob in der DDR das Recht der überwundenen bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle spielt, wird während ihrer 40jährigen Existenz immer wieder aufgeworfen. Die „Erbe-Thesen“ aus dem Jahre 1962 plädieren für eine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Rechtstheorie und werden dafür heftig kritisiert.

Die gesellschaftliche Umwälzung in der DDR wirft auch für die Rechtsphilosophie grundlegende Fragen auf. Während in der BRD eine eigenständige Geschichte der Rechtswissenschaft von der Antike bis zur Gegenwart propagiert wird, kann eine historisch-materialistische Geschichtsauffassung Recht und die jeweilige Rechtspraxis nur als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung begreifen. Mit der Vergemeinschaftung der Produktionsmittel erfährt die Gesellschaft nach dieser Lesart einen fundamentalen Wandel, da sich die anarchische, auf Ausbeutung gründende Produktion durch Privateigentümer_innen hin zur bewussten Steuerung durch die gesamte Gesellschaft entwickelt. Aufgrund dieses tatsächlichen historischen Bruchs lehnt die herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft der DDR eine kritische Aneignung der bürgerlichen Rechtsphilosophie strikt ab. Die „Erbe-Thesen“ stehen exemplarisch für die Kritik an diesem Dogma, die bis 1989 immer wieder artikuliert wird, aber weitgehend ohne Erfolg bleibt.

In den fünfzehn „Thesen über das deutsche staats- und rechtswissenschaftliche Erbe“ von 1962[1] geht es um die Notwendigkeit der Aneignung fortschrittlicher bürgerlicher Rechtstheorien für die Weiterentwicklung der Rechtswissenschaft in der DDR. Die Thesen basieren auf einem Entwurf von Hermann Klenner und Karl-Heinz Schöneburg, der von einem Autorenkollektiv[2] unter der Leitung Hans Nathans vervollständigt wird. Der Arbeitsgruppe gehört u.a. auch Uwe-Jens Heuer an. Klenner, Schöneburg und Heuer fallen in den rechtstheoretischen Debatten der frühen DDR immer wieder mit ihren kritischen und reflektierten Stellungnahmen auf. Die Veröffentlichung der Thesen löst eine heftige Auseinandersetzung in den rechtswissenschaftlichen Zeitschriften der DDR aus.

„Kommunismus als Humanismus“

Indem schon zu Beginn des Beitrags auf einen Beschluss des V. Parteitages der SED hingewiesen wird, stellt der Aufsatz den Bezug zu der allgemeinen kulturpolitischen Diskussion der 1950er und 1960er Jahre her, in der der Marxismus-Leninismus in der DDR als „Vollstrecker“ des fortschrittlichen Teils des bürgerlich-humanistischen Erbes charakterisiert wird.[3] Erbe wird hierbei als „eine positiv gewertete Beziehung zu ausgewählter Tradition geistiger Kultur“ verstanden.[4] Entgegen der rechtsphilosophischen Grundannahme in der BRD stellen die Autoren fest, dass es eine von der gesellschaftlichen Entwicklung losgelöste Geschichte der Rechtswissenschaft nicht geben könne, da Rechtswissenschaft wie jedes Gedankengut nur ein „gesellschaftliches, historisches Produkt“ darstelle. Innerhalb der Klassenkämpfe wird einzelnen Rechtstheoretiker_innen der „progressiven Klassen“ ein Anteil an der Erkenntnis „neuer wesentlicher Seiten von Staat und Recht“ zugebilligt. Die Autoren streichen heraus, dass dabei auch vereinzelt „Einsichten in die Widersprüche der zukünftigen Gesellschaftsordnung vermittelt“ werden können. Zwar seien Staat und Recht „Machtinstrumente der herrschenden Klasse“, aber jede Klasse übernehme aus dem geschichtlichen Prozess die Erkenntnisse der vorangegangenen Theorien und erweitere sie „zur Bewältigung der eigenen historischen Aufgaben“. Da die Emanzipation des Proletariats die Emanzipation der menschlichen Gesellschaft herbeiführe, erbe dieses alle progressiven Elemente der „Staats- und Rechtsideologie“. Dabei möge es nationale Unterschiede geben, jedoch sei grundsätzlich von einem internationalen Erkenntnisprozess auszugehen. Eine dogmatische Ablehnung einzelner bürgerlicher Theoretiker_innen verwerfen die Autoren als undialektisch und plädieren für eine „kritische Aneignung“, was Marx etwa mit seiner Kritik an der Rechtsphilosophie Hegels geleistet habe. Zwar wird ein allgemeiner Verfall der bürgerlichen Rechtswissenschaft konstatiert, allerdings müsse auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft des Auslands zwischen „teilwissenschaftlichen Aussagen“ und schlichter „Apologetik“ unterschieden werden. So wird etwa die Rechtssoziologie als „Bereicherung“ anerkannt. Als eine der konkreten Maßnahmen, die zur „Bekämpfung dogmatischer Erscheinungen“ notwendig erscheinen, wird auch die Herausgabe der Werke progressiver Staats- und Rechtsideologen – wie etwa die „Metaphysik der Sitten“ von Kant, die „Staatslehre“ von Fichte und der „Leviathan“ von Hobbes – genannt.

Der Erbfall als Reformismus?

Diese „Erbe-Thesen“ werden Gegenstand einer umfassenden Kritik, da mit ihnen die Vorstellung in Frage gestellt wird, dass in der sozialistischen Gesellschaft keinerlei Beziehung zur Rechtsform und damit zur Rechtstheorie der überwundenen bürgerlichen Gesellschaft besteht.

Helmut Kintzel, Gerda Köppen und Alfred Ulrich bemängeln, dass der „unversöhnliche Gegensatz“ zwischen der Rechtsauffassung der sozialistischen und der bürgerlichen Gesellschaft nicht berücksichtigt werde.[5] Mit Marxismus und Arbeiterklasse entstünde eine neue Qualität, die einen „völligen Bruch mit dem bisherigen Staats- und Rechtsdenken“ bedeute. Unter Berufung auf Walter Ulbrichts Beitrag auf der Babelsberger Konferenz von 1958 wird eine „Überbetonung der relativen Selbstständigkeit von Staat und Recht“ in den Thesen kritisiert.

Johann Poppen geht davon aus, dass durch das Studium der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie bereits jedes fortschrittliche Denken angeeignet wird.[6] Schließlich sei in den Werken von Marx und Engels jede progressive Überlieferung „aufgehoben“ – eine Behauptung, die ohne einen Nachweis auskommt. Marx habe die Hegelsche Rechtsphilosophie vernichtet und Hegel gerade nicht auf einem höheren Niveau „beerbt“. Als gesellschaftliche Praxis wird allein der Kampf um die Machtinstrumente Staat und Recht gegen die Bourgeoisie postuliert, so dass das Recht nur auf dieser Basis existiere und als solches zu erforschen sei.

Erwin Hallmann und Karl Urban plädieren dann für eine alleinige Aneignung der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft „von Weitling über Marx, Engels, Lenin bis zu den Führern von KPD und SED“ und lehnen eine Beschäftigung mit bürgerlicher Rechtstheorie als Rückfall in den Revisionismus ab.[7] Die Auseinandersetzung mit „teilwissenschaftlichen Aussagen“ im kapitalistischen Ausland wird als Wiederauflage der Taktik der „immanenten Kritik“ kritisiert. Dieses Konzept wird Georg Lukács zugeschrieben, der bürgerlich-humanistische Positionen der Aufklärung als Maßstab für die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus nutzen wolle. Die Ablehnung dieses Ansatzes gelingt ohne argumentative Stütze, denn ein Streitgespräch auf der Basis der Ideale von 1789 könne nur „fruchtbar für die Ideologen der Bourgeoisie“ sein.[8]

In einem Aufsatz, den Karl-Heinz Schöneburg mit Wilhelm Ersil verfasst, stellen die Autoren nun fest, dass die Erbe-Thesen nicht haltbar seien.[9] Sie
stellen noch einmal zutreffend heraus, dass Marx und Engels die Trennung des politischen Staates von der Gesellschaft als Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft erkennen. Wenn mit der proletarischen Revolution die Volkssouveränität verwirklicht werde, könne also eine bürgerliche Staats- und Rechtswissenschaft keine Auskunft mehr über die neue Gesellschaft geben. Nathan reagiert auf die Distanzierung des Arbeitsgruppenmitglieds Schöneburg mit einem Brief an ihn, in dem er auf die Zustimmung der Abteilung Wissenschaft beim Zentralkomitee (ZK) der SED zu der Veröffentlichung der Thesen hinweist.[10]

Vorwurf des Dogmatismus

Rainer Arlt und Wolfgang Lungwitz stellen in ihrem Aufsatz grundsätzlich klar, dass das Recht im Sozialismus „als bewusste Gestaltung eines objektiven Entwicklungsprozesses“ zu betrachten sei, „der sich auf der Grundlage der immer breiteren Entfaltung der Produktivkräfte der sozialistischen Gesellschaft vollzieht“.[11] Das Recht diene also der Durchsetzung der erkennbaren objektiven Entwicklung und habe sonst keine Bedeutung. Die Erbe-Thesen würden demgegenüber aber von der „Position der Rechtskontinuität“ ausgehen.[12] Daran schließt sich die Kritik an, dass diese Vorstellung mit den Beschlüssen der SED unvereinbar sei. Die Autoren verdeutlichen, dass sie die Thesen als Fortsetzung der Konzeption Hermann Klenners betrachten, für die er 1958 in Babelsberg abgestraft wurde. Auf der Babelsberger Konferenz wurde 1958 eine klare Positionierung der DDR-Rechtwissenschaft gefordert und durchgesetzt. Dabei sollte das Recht als Instrument der herrschenden Klasse eindeutig anerkannt und etwaige Eigengesetzlichkeiten abgelehnt werden. Nach dem Selbstverständnis der DDR-Führung handelte es sich bei der herrschenden Klasse in ihrem Staat um das Proletariat. Klenner wurde für seine Überlegungen zur Rechtskontinuität und seiner Skepsis gegenüber einem rein instrumentellen Verständnis des Rechts abgestraft und für zwei Jahre auf den Bürgermeisterposten in Letschin im Oderbruch versetzt.

Außerdem, fügen Arlt und Lungwitz hinzu, müsse die Auseinandersetzung der beiden deutschen Staaten als Ausdruck des Klassenkampfes gesehen werden, was die Rezeption bürgerlicher Rechtstheorien verbiete. Am Schluss gelingt es den Autoren, die „Erbe-Thesen“ als Ausdruck des Dogmatismus zu betrachten, der nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahre 1956 zu bekämpfen sei. Der Parteitag steht für die Kritik an den Herrschaftsmethoden und dem Personenkult in der UdSSR unter Stalin und gilt als Beginn der „Entstalinisierung“ in vielen Lebensbereichen. Die Autoren führen aus, dass der (nun verworfene) sowjetische Jurist Andrej Wyschinski, der herausragend für die Justiz während des Stalinismus steht, ebenfalls Anleihen bei der bürgerlichen Rechtstheorie gemacht habe. Ohne kritische Würdigung wird der sowjetische Theoretiker S. S. Alexejew zitiert, der hierzu feststellt, dass Anfang der 1930er Jahre in der UdSSR eine Abkehr von der soziologisch-philosophischen Rechtswissenschaft vollzogen worden sei. Nach der Ablehnung von Eugen Paschukanis, N. W. Krylenkow und Peter Stutschka sei während des Stalinismus nur noch eine „Analyse der Rechtsform“ erfolgt.

Indem Arlt und Lungwitz diese Interpretation der Auswirkungen des Stalinismus auf die Rechtsanalyse der UdSSR übernehmen, legen sie die eigentliche Stoßrichtung der Kritik offen: Paschukanis Arbeit stellt eben gerade eine Analyse und Kritik der Rechtsform in der bürgerlichen Gesellschaft dar.[13] Paschukanis wird aber abgelehnt, weil er für die Zeit nach der proletarischen Revolution eine notwendige Fortexistenz der Rechtsform aus den Beziehungen der warentauschenden Subjekte entwickelt. Das Konzept eines krassen Gegensatzes zwischen dem Recht der bürgerlichen Gesellschaft und dem Recht im Sozialismus ist hiermit nicht zu vereinbaren. Arlt und Lungwitz gelingt es so, die „Erbe-Thesen“ als Ausdruck eines überkommenen, dogmatischen Rechtsverständnisses des Stalinismus zu kritisieren und dabei gleichzeitig das eigene Anknüpfen an diese Rechtsschule zu verschleiern. Das Plädoyer für vermehrte soziologische Studien in der Rechtswissenschaft kann nicht davon ablenken, dass die Kritik an den „Erbe-Thesen“ darauf abzielt, eine Fortführung der produktiven Diskussionen über das Recht im Sozialismus, wie sie in der UdSSR der 1920er Jahre u.a. von Paschukanis geführt wurde, zu verhindern.

Eine verpasste Chance

Die fünfzehn Thesen werben für eine Auseinandersetzung mit möglichen Kontinuitäten nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und erlauben damit den theoretischen Zugang zu Paschukanis. Die Thesen lediglich als Ausdruck der von Ullbricht verordneten Dogmatismuskritik nach dem XX. Parteitag der KPdSU und damit einhergehender gewisser „Freiräume für die rechtswissenschaftliche Arbeit“ einzuschätzen,[14] verkennt den Umstand, dass hier eine Arbeitsgruppe materialistische Rechtsanalyse betreibt und sich um deren Fortentwicklung bemüht. Schließlich wird die überwältigende Ablehnung der Thesen durch das Schrifttum und die Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED[15] nur verständlich, wenn die Brisanz einer möglichen Veränderung der Rechtskonzeption in der sozialistischen Gesellschaft verdeutlicht wird. So würde die allgemeine Ablehnung einklagbarer subjektiver Rechte bei einem auf Kontinuitäten beruhenden Rechtsverständnis nur noch mit Mühe zu rechtfertigen sein. Dass die „Erbe-Thesen“ den Weg zu der fruchtbaren Diskussion der sowjetischen Rechtswissenschaft der 1920er Jahre weisen und umgehend eine fundamentale Ablehnung erfahren, ist sowohl bezeichnend für das theoretische Niveau einiger kritischer Rechtswissenschaftler_innen in der DDR als auch für das Rechtsverständnis ihrer Gegner_innen, die sich mit dem Mantel der Dogmatismuskritik umgeben.

Matthias Peitsch hat an der Humboldt-Universität in Berlin jura studiert und arbeitet seit August dieses jahres als Referendar am dortigen Kammergericht.

[1] Hans Nathan u.a. (Autorenkollektiv), Staat und Recht (SuR) 1962, 830.
[2] Die Gruppe der Autoren bestand nur aus männlichen Wissenschaftlern.
[3] Vgl. Helmut Peitsch, Tradition und kulturelles Erbe, in: Wolfgang Langenbucher, Kulturpolitisches Wörterbuch BRD/DDR im Vergleich, 1983, 688; ders., Erbe, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 3, 1997, 682.
[4] Helmut Peitsch, Tradition und kulturelles Erbe (Fn. 3), 688.
[5] Helmut Kintzel / Gerda Köppen / Alfred Ulrich, SuR 1962, 1574.
[6] Johann Poppen, SuR 1962, 1578.
[7] Erwin Hallmann / Karl Urban, SuR 1962, 1584.
[8] Ebenda, 1590.
[9] Wilhelm Ersil / Karl-Heinz Schöneburg, SuR 1962, 2126.
[10] Ralf Dreier / Jörn Eckert / Karl A. Mollnau, Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971, 1996, 339.
[11] Rainer Arlt / Wolfgang Lungwitz, SuR 1963, 800.
[12] Ebenda, 803.
[13] Per Mazurek, in: Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Auflage, 1994, 406.
[14] Dreier / Eckert / Mollnau (Fn. 10), 328 f.
[15] Ebenda, 355 ff.