Elende Demokratien oder … auf den Knien vor Big Brother

Das dumme Wort „anti-amerikanisch“ hat jetzt, da Edward Snowden die Machenschaften des NSA enttarnt hat, erneut Konjunktur, denn es wurde „erfunden“, um den Spieß umzudrehen, sprich: die Kritiker ans Kreuz zu schlagen. Ich erinnere mich gut an die Frage, die Allensbach vor zwanzig Jahren in die Menge warf: „Lieben Sie die Amerikaner?“. So platt kann Meinungsforschung im Grunde nicht agieren, schon gar nicht mit (seinerzeit) Noelle-Neumann an der Spitze – etwas infam hintergründig aber schon. Denn welche Antwort erwartete man: Ja oder Nein. Und wer schon will ein ganzes Volk verdammen?
Auch heute hält man wenig von Differenzierung. Die Amerikaner sind mächtig, ab und zu auch aggressiv und widerlich … im Spionieren. Doch was soll’s? Die Anklage macht für einen Augenblick vordergründig Schlagzeile, sorgt für Auflage und Quote. Dann herrscht meist Ruhe.
Was ist diesmal passiert? Ein Mann, der vorgibt, sich bewusst eingeschleust zu haben, um aufzuklären, klärt auf. Er „entheimlicht“ den geheimsten der US-Geheimdienste und flieht dann. Zurück bleibt ein attraktives Trümmerfeld – ein Torso aus Erkundung und Impertinenz: Irische Banker haben Klartext gesprochen, britische Geheimdienste sekundieren als Oberschnüffler, und Deutschland wird aufs Netteste erniedrigt. Das, was die NSA aus Glasfasernetzen extrahierte oder einfach nur von kooperierenden IT-Firmen absaugte, scheint niederschmetternd. Da brandet für Momente Entsetzen auf. Da flackert so etwas wie Wut auf, wenn sichtbar wird, dass auch EU-Institutionen und vor allem NATO-Partner Bundesrepublik im Fokus der Abschöpfung stehen. Plötzlich glaubt man sich beraubt, weil der Datenklau natürlich auch das Kanzleramt, Industriekonzerne, Finanzinstitute und Forschungseinrichtungen betreffen könnte, nein: betrifft.
Wie viel von der Empörung ist gespielt? Heuchelei und Verdrängung bestimmen das Geschehen. Haben wir – unsere zuständigen Stellen und Ämter – nicht gewusst, dass die Amerikaner spionieren? Den PRISM-Vorgänger Echelon gibt es sei mehr als 20 Jahren, und Ami-Wanzen in deutschen Wänden, Lampen, Telefonen gehören zum Alltag. Ganz richtig: Eben das flackert immer mal auf, um ebenso schnell in Vergessenheit zu geraten. Es ist nun einmal so: Die amerikanische Regierung, die amerikanischen Geheimdienste machen, was sie wollen. Sie betreiben die Abschöpfung von Informationen und Wissen global (weil das kostengünstiger ist, als die eigene Kreativität zu bemühen), ballern mit Drohnen in fremde Länder, entziehen sich dem Internationalen Gerichtshof und nehmen politisch Einfluss, wo immer ihnen das opportun erscheint.
Wenn Kanzlerin Merkel punktuell Unmut zeigen lässt (mit der Stimme ihres Pressesprechers), wenn EU-Beamte jetzt die Aussetzung der Gespräche zu einem Freihandelsabkommen USA-EU angedroht haben, dann geschieht das ausschließlich deshalb, weil die Bürger eine solche Reaktion erwarten, oder anders herum: weil das Ausbleiben einer solchen zu eklatanten Verlusten in Wahlkämpfen führen müsste. Inzwischen hat der sanfte Druck der potentiellen Profiteure – Angela Merkel hat aktiv daran mitgewirkt – obsiegt: Über Freihandel wird weiter gesprochen, flankiert von Datenschützern. Wer sich jetzt nicht totlacht, ist selber schuld.
Doch das Ganze dreht sich noch weiter: Nun wird auch der BND – wer hätte solches für möglich gehalten! – NSA-ähnlicher Spionage bezichtigt; er habe die Datenkabel fremder Botschaften angezapft, freilich nicht im US-amerikanischen Ausmaß und nur bei Karsai in Kabul. Gleichwie: Die Relativierung der Ungeheuerlichkeit ist in vollem Gange. So wie man Echelon schluckte, wird man schon ab morgen auch die Lauschangriffe der NSA wegstecken. Denn was hilft es schon, wenn Deutschland und die EU die Proteste verschärfen oder gar auf detaillierte Aufklärung drängen? Bekommt man dann die eigenen Intrigen und Schlafzimmergeschichten serviert, erfährt man dann Unliebsamkeiten, die man wiederum vor neuen Wistleblowers, den Medien und damit der breiten Öffentlichkeit verbergen muss?
Das Stück ist lächerlich, und doch wird es aufgeführt. Und man übt sich erneut im Kotau. Man schickt sich an, den Beteuerungen Obamas zu glauben. Er nämlich verspricht, es zu richten. Er verspricht, das neue Gleichgewicht herzustellen – das zwischen dem Anti-Terrorkampf und dem, was natürlich sein muss: der herkömmlicher Spionage. Welch ein Unsinn: Terroristen bewegen sich weitgehend außerhalb der Netze, und herkömmliche Spionage führt seit jeher ein Eigenleben. Wir sollten uns also darauf einstellen, dass die Schnüffelei weiter geht – künftig mit noch ausgefeilteren Techniken. Gut nur, dass dieses Geschäft noch immer des Menschen bedarf, und es folglich auch künftig Leute wie Snowden geben wird, denen das Gewissen schlägt.
Dieser Wettlauf zwischen Spionage und Transparenz bleibt bis auf weiteres unsere einzige Hoffnung. Hinzukommen müsste gelebte Solidarität – das bewusste Schützen derer, die uns aufklären. Aber dass viele von uns Snowden & Co. sofort Asyl gewähren würden, zählt nicht in dieser Welt. Hier entscheiden Regierungen – zumeist in gewohnter Feigheit, respektive: falscher „Aliiertheit“. So hat es auch die Bundesregierung mit einer entschlossenen Eile, die wir sonst an ihr eher vermissen, abgelehnt, Snowden in Deutschland aufzunehmen – obwohl sie mehr als andere von den offen gelegten Daten profitiert hat. Man sagt NEIN und geht zum Tagesgeschäft über.
Ähnlich reagierten bislang auch bereits die meisten anderen Länder, bei denen Snowden um Asyl nachsuchte. Sie alle fürchten Verprellungen und Sanktionen – im und aus dem Land der Täter. Da ist Asylverweigerung ein aus taktischer Sicht verständlicher Vorgang, könnte man meinen. Tatsächlich jedoch ist diese Haltung eine jämmerliche Schande, vor allem für sogenannte Demokratien. Diese Schande allerdings passt gut ins westliche Establishment, das Transparenz und arabische Frühlinge lautstark und fortwährend zu beheucheln vermag.
Die USA werden eine Zeit lang an NSA-Gate zu würgen haben. Wirklichen Schaden müssen sie davon kaum befürchten, und der Aufschrei der Düpierten wird auch künftig nicht wehtun. Denn man bleibt (zumindest vorerst) Sieger, solange man das Netz und andere Machthebel am eigenen Ufer und die betroffenen Verbündeten so uneins und inkonsequent wie eh und je weiß.