Ägypten: Befreiung auf einem Berg von Leichen?

Ein brutalisiertes Massenbewusstsein befürwortet die Massaker der Armee

Wer bei den sich überschlagenden Ereignissen dieses Sommers in Ägypten nicht mehr durchblickt, ist eingeladen, sie aus dem Blickwinkel eines graswurzelrevolutionären Grundsatzes zu betrachten: des prinzipiellen Antimilitarismus. Das schafft Klarheit. Sarah Carr, die Autorin dieser am 8. Juli 2013 vor Ort verfassten Einschätzung aus Kairo, vom Umschlag einer anfänglich hoffnungsvoll erscheinenden Massenbewegung (30.6. – 3.7.) hin zu einer schnell dominant werdenden offenen Zustimmung zu den Morden der Armee in der ersten Juli-Woche, nimmt die Massaker an Hunderten, ja vielleicht Tausenden bereits vorweg, die dann Mitte August von der Armee begangen wurden – und über deren Tragweite niemand reden will. Den Hinweis auf ihren Text verdanken wir einer Empfehlung aus Kreisen der antimilitaristischen Internationale War Resisters’ International. (GWR-Red.)

 

n der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen hatte ich noch für Mohammed Mursi gestimmt, um Ahmad Schafiq [Kandidat der alten Mubarak-Seilschaften] von der Macht fernzuhalten. Ich bin eine Web-Administratorin des Blogs „MB in English“, der Englischübersetzungen [aus dem Arabischen] von entsetzlichen, sektiererischen, verschwörungstheoretischen oder einfach nur übergeschnappten Stellungnahmen veröffentlicht, welche die Muslimbrüder (MB) eigentlich nur für inländische LeserInnen verfassen.

Ich bin gegen die Intervention der Armee in den politischen Bereich.

 

Ich schicke dies voraus, weil die gegenwärtige Gesellschaft und Politik in Ägypten ent­lang identitärer Grenzziehungen auf eine Weise gespalten sind, wie sie es in den letzten drei Jahren nie waren. Dieses Problem ist so chronisch geworden, dass der Wert oder die Schwäche eines Arguments fast komplett von dem abhängen, wer das Ar­gument ausgesprochen hat. Es wird dann durch einen Nebel aus Raserei und Misstrauen hindurch betrachtet.

Die Muslimbrüder hätten meiner Meinung nach ihrem eigenen Scheitern überlassen werden sollen, weil sie (noch) nicht ein solches Verbrechen begangen hatten, das die Absetzung Mursis durch das Militär gerechtfertigt hätte. Der Preis, den Ägypten als Konsequenz dieser Entscheidung gezahlt hat und noch zahlen wird, ist zu hoch.

 

Eindrücke aus den Protestcamps beider Lager

In der letzten Woche [erste Juliwoche 2013] bin ich zwischen den Pro- und Anti-Mursi-Pro­testcamps hin- und hergewech­selt. Es ist so, als würde man mit dem Raumschiff zwei verschiedene Planeten bereisen.

Das Pro-Mursi-Lager umfasst bedeutend mehr Männer als Frauen – obwohl auch Frauen und Kinder anwesend sind – und es fehlt ihm die Vielfalt des Anti-Mursi-Lagers.

Im Pro-Mursi-Camp habe ich nicht eine unverschleierte Frau gesehen, es sei denn, sie war Journalistin. Ich habe dort nie einen/eine Christin getroffen und alle JournalistInnen, die ich fragte, haben auch keine/n gesehen. Das ist bedeutsam, weil Pro-Mursi-DemonstrantIn­nen und Pro-Mursi-Medienbe­richte oft behauptet haben, dass ChristInnen zu ihren Sit-Ins kommen. Gleichzeitig unterstellen sie, dass die Kirche hinter einem Verschwörungsplan von AnhängerInnen des früheren Mubarak-Regimes und US-ZionistInnen stehe, die Mursi schon lange stürzen wollten.

Am wichtigsten ist die Beobachtung, dass die Pro-Mursi-Menge weitgehend homogen ist. Ihre GegnerInnen nutzen diese Homogenität als Beweis dafür, dass die Muslimbrüder – im besten Fall – eine Organisation ist, deren Strategie, Nicht-Mitglieder zu binden, fehlgeschlagen ist. Und im schlimmsten Fall sind sie eine geschlossene Gruppe, die sich für Nicht-Mitglieder überhaupt nicht interessiert.

Wenn auch das Anti-Mursi-La­ger mit dieser Darstellung wahrscheinlich richtig liegt, so gehen viele aus diesem Lager noch einen Schritt weiter. Sie behaupten, dass alle jetzigen UnterstützerInnen Mursis offizielle Mitglieder der Muslimbrüder sind – das heißt denkunfähige Roboter, die von ihrem Höchsten Führer programmiert werden. Der ebenso verbreitete wie herabwürdigende Begriff dafür ist khirfan (Schafe). Ziel dieser Begriffswahl ist es, sie zu entmenschlichen und ihnen jede Fähigkeit zu eigenständigem Handeln abzusprechen – genau auf dieselbe Weise, wie die Muslimbrüder ihre GegnerInnen als kuffar (Ungläubige) oder feloul (Profiteure des Mubarak-Regimes, „Lo­yalisten“) diffamieren.

Am 4. Juli ging ich in den Stadtteil Nasr-City zu dem Sit-In, das gegen die Massenproteste vom 30. Juni, welche die Absetzung des Präsidenten Mursi gefordert hatten, eingerichtet worden ist. Eine Reihe von Panzern sperrte den Eingang zum Camp ab und den JournalistInnen wurden Taschen durchsucht und sie wurden mit Flüchen überzogen. Hinter den Panzern war Stacheldraht ausgerollt worden. Zwei Männer standen fünf Meter dahinter, ruhig, und hielten beide Plakate mit Mursis Portrait hoch.

Ein weiterer Mann ging an ihnen vorbei und begann, laut zu reden: Es war ein Ingenieur und er lispelte. Er erklärte in einem Ton der Verzweiflung, dass er nicht an den Protesten vom 25. Januar [2011, als die Bewegung zum Sturz Mubaraks begann,] teilgenommen habe, aber diese Proteste hätten ihn gelehrt, „wie man Meinung macht und sie verteidigt“. Er habe für Mursi in beiden Präsidentschafts-Wahlgängen gestimmt und er bestand darauf, dass er hier nicht für ein Individuum protestiere, sondern „für eine Idee“. Er meinte weiter: „Mir wurde die Demokratie von der Elite gelehrt. Also bin ich zur Wahl gegangen. Aber nun habe ich gelernt, dass es weder eine Revolution noch Demokratie gibt.“

Ein weiterer, sich in der Nähe befindlicher Mann fing nun an, in Richtung der Armee zu schreien, auch er hielt ein Plakat von Mursi hoch. Er war so rasend, dass er sein eigenes Plakat in zwei Teile zerriss und dann in einen Haufen aus Material auf dem Boden fiel und weinte.

 

Die Ermordung von 40 Menschen vor dem Offiziersclub: Barbarische Ignoranz

Am Samstag [6. Juli 2013] besuchte ich die in düsterer Atmosphäre, aber maßvoll abgehaltene Beerdigung von Moha­med Sobhy, einem Vater von zwei Kindern, dem am Vortag bei den ersten Protesten vor dem Offiziersclub der republikanischen Garde in den Kopf geschossen worden war. Augenzeugen berichteten, dass Sobhy umgebracht wurde, als er ein Mursi-Plakat am Stacheldraht direkt vor einigen Soldaten befestigte, die anscheinend nervös geworden waren. Insge­samt wurden allein bei diesem Vorfall vier Menschen getötet.

Ich hatte seinen Körper eine halbe Stunde später sehen und fotografieren können. Ich versuchte, das Bild über Twitter ins Internet zu laden, aber das Netzwerk funktionierte nicht und ich konnte es nicht senden. Also schrieb ich, dass ein Mann getötet worden war und sein Körper noch immer vor Ort war – und dass ich weiter versuchen würde, das Bild hochzuladen, schon für all jene, von denen ich wusste, dass sie oh­ne Bild sagen würden, ich würde lügen. Das Problem bestand dann aber nicht darin, dass mir die Leute nach meiner ersten Nachricht nicht geglaubt haben (es ist ja immer gut, vorsichtig zu sein).

Das Problem lag vielmehr darin, dass sie mir immer noch nicht glaubten, es sei jemand gestorben, auch nachdem ich das Bild endlich hochladen konnte. Einer antwortete mir: „Der hat nicht die Gesichtszüge eines Ägypters.“

Andere meinten, das sei ein veraltetes Foto. Als dann später ein Video veröffentlicht wurde und es einfach nicht mehr möglich war, die Tatsache zu bestreiten, dass ein Mann au­ßerhalb des Offiziersclubs in Kairo zur selben Zeit und am selben Ort erschossen worden war, richtete sich die Aufmerksamkeit der EmpfängerInnen plötzlich auf die Verwundungen des Opfers.

Sobhy stand mit dem Gesicht zu den Soldaten, als er fiel, und Blut spritzte aus seinem Hinterkopf. Also gab es einen fast automatisch einsetzenden Konsens darüber, dass er von hin­ten erschossen worden sein müsse. Und die letztlich am meisten verbreitete Schlussfolgerung war dann die, dass die Muslimbrüder selbst Sobhy erschossen hätten, um der Armee den Mord in die Schuhe zu schieben. Die Äußerung ir­gendeiner Empörung als Antwort auf eine wahrscheinliche Tötung eines Zivilisten durch das Militär, das solche Vorfälle normalerweise kennzeichnet, war vollkommen abwesend [im Anti-Mursi-Lager]. Es gab nicht einen einzigen Bericht über die Beerdigung des Opfers in den ägyptischen Medien, einmal von unserer Nachrichten-Website abgesehen. (1)

Ganz anders war dagegen die Situation bei der Beerdigung von Jugendlichen aus dem Kai­roer Stadtteil El-Manial, die bei Zusammenstößen zwischen Muslimbrüdern und den Be­wohnerInnen der Nachbarschaft ermordet wurden: Eine Fülle an Medien, viele Sympa­thiebekundungen und viel Empörung – all das zweifellos zu Recht.

Eine fast identische Szenerie fand am Montag [dem 8. Juli] statt, als Ägypten erwachte und die Nachricht vernahm, dass über 40 Menschen getötet worden waren – wieder außerhalb des Offiziersclubs.

Das staatliche Fernsehen und private Satellitenkanäle wie et­wa ONTv beschränkten ihre Berichterstattung auf die Sendung von Interviews mit Leuten von den Sicherheitskräften und stellten durchweg die angeblich unwiderlegbare Schlussfolgerung auf, dass bewaffnete Pro-Mursi-Protestierende den Angriff auf die Armee angezettelt hätten.

Die Nachrichtensprecherin Amany al-Khayat sprach be­reits von den Pro-Mursi-De­monstrantInnen als „Terroristen“, die sich in Wohngebieten verschanzen würden. Als sie sich auf die Leichen der Pro-Mursi-DemonstrantInnen bezog, die in der Moschee Rabea al-Adaweya [in Nasr-City] – dem Ort der Pro-Mursi-Sit-Ins – aufbewahrt wurden, machte sie sich über sie lächerlich und verspottete sie.

 

Ein schäbiger Umgang mit den realen Opfern: Autoritäres und militarisiertes Bewusstsein

Wenn ich diese Szenen beschreibe, möchte ich keines­wegs Sympathie für die Pro-Mursi-UnterstützerInnen bekunden. Politisch kann ich mit ihnen nicht übereinstimmen.

Einige von ihnen waren selbst verantwortlich für unvorstellbare, barbarische Gewaltakte. Unabhängige JournalistInnen berichteten darüber, dass einige von ihnen bewaffnet sind (so, wie sie auch darüber berichtet haben, dass ihre Geg­nerInnen Waffen tragen).

Schon ihre Entscheidung, einen Marsch zum Maspero-Stadtviertel und dann zum Tahrir-Platz über den Stadtteil Manial machen zu wollen, war ein provokativer Akt und von so unglaublicher Dummheit, dass jeder Beteiligte mit einem Minimum an Schamgefühl sich von solchen Protesten hätte fernhalten müssen.

Mein Problem ist aber die Reaktion auf diese Protestierenden. Die offiziell überparteilichen Medien ignorieren entweder einen großen Teil der ägyptischen Gesellschaft oder sie würdigen ihn herab und verteufeln ihn. Es gibt bei der Berichterstattung über die Pro-Mursi-Proteste überhaupt keine Differenzierung mehr wie noch bei den Anti-Mursi-Protesten.

Dort wurde gesagt, dass der bösartige, rassistische Ausdruck an­ti-amerikanischer Ge­fühlslagen Einiger nicht die Gesamtheit der Protestierenden repräsentieren würde. Systematische Akte sexueller Gewalt gegen Frauen auf dem Tahrir-Platz sollten nicht dazu benutzt werden, die gesamte [Anti-Mursi-]Bewegung zu diskreditieren.

Und sogar noch, als nach dem 30. Juni bei den Massenprotes­ten gegen Mursi eine armeefreundliche Atmosphäre entstand, wurde in den Medien noch betont, dass nicht alle Protestierenden hinter dem Militär stünden. Doch die ägyptischen Medien haben im Großen und Ganzen jede auch nur entfernt ähnliche Differenzierung zu den Motivlagen der anderen Seite vermissen lassen.

 

Das ist aus drei Gründen problematisch – und alle drei betreffen die ägyptische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit:

Erstens bestätigt dieses Vorgehen wieder einmal, dass die lokalen Medien in Ägypten stärker daran interessiert sind, uns zu erzählen, welche Ereignisse sie denn am liebsten hätten, als daran, zu erzählen, was wirklich passiert. Zweitens unterschätzt dieses Vorgehen die Gefahr, die von einer auf diese Weise entfremdeten, aber ebenso entschlossenen Gruppe ausgeht, die glaubt, dass sie beraubt worden ist. Und drittens ist das ein allzu billiger Weg, eine öffentliche Diskussion über eine Frage zu vermeiden, deren Aktualität bis zum 3. Juli doch noch auf der Hand lag: Ob nämlich ein gewählter Präsident durch Massenproteste [und nicht die Armee] gestürzt werden sollte.

Es gibt bei einigen ÄgypterIn­nen einen tief sitzenden Hass auf die Muslimbrüder und ihre salafistischen Bündnispartner. Dieser Hass spannt sich über alle sozialen Klassen und bedingt alle gegenwärtigen Ereignisse. Er entstammt einem vertretbaren und berechtigten Misstrauen und einer Angst vor einer Gruppe, die gelogen hat, die ihre Interessen in den Vordergrund gestellt hat, die andere Gruppierungen ausschloss, die einen Abklatsch von einer Verfassung durchgepeitscht hat, die Mursi diktatorische Vollmachten zu geben versucht hat, die mit dem Militär geflirtet und auf erschreckende Weise mit sektiererischer Politik gespielt hat. Diese Gruppe hat nicht verstanden, dass sie ein Land regierte. Und sie hat übersehen, dass schon aus Gründen der öffentlichen Selbstdarstellung ein arabischer Präsident nur dann Widerspruch unterdrücken kann, wenn er eine organisierte Institution wie das Militär sicher auf seiner Seite weiß. Am wichtigsten war viel­leicht, dass die Muslimbrüder, während sie Ägypten regierten, höllische Schwächen zeigten. In einer entscheidenden Zeit, in der andere Amateure davon ganz freiwillig die Finger lassen würden.

Als die Mursi-AnhängerInnen versuchten, ihre Sicht der Dinge vorzubringen, prallten ihre Argumente von einer Wand des Hasses auf sie zurück, aber diese Argumente waren nicht ganz falsch, zumindest nicht bis [zu den Massenprotesten vom] 30. Juni. Nach dem 30. Juni erst hoben die Unnachgiebigkeit Mursis und das Verhalten seiner UnterstützerInnen jede Le­gitimiät auf, die sie vorher hatten. Doch isoliert vom konkreten Beispiel sind Verlogenheit, ungenügende Amtsführung, das Verfolgen von Eigeninte­ressen und die Kaltstellung an­derer politischer Mächte Kennzeichen aller politischen Gruppierungen überall und reichen als solche nicht aus, die Ab­setzung eines Präsidenten durch das Militär zu rechtfertigen.

Die Verfassungserklärung vom 22. November [2012], welche dem Präsidenten Mursi unbeschränkte Macht garantiert hatte, war ein Verbrechen und vielleicht nur ein Omen für künftige, noch düstere Vorhaben – aber Mursi hat diese Erklärung [am 8.12.2012] widerrufen. Da­vor war er jedoch bereit, durch Blut zu waten, als die Verfas­sungserklärung im Dezember 2012 zum Funken von Anti-Mursi-Protesten wurde, gegen die dann die Muslimbrüder ihre Männer aufboten.

Die sektiererische Sprache der Muslimbrüder, die Zunahme sektiererischer Vorfälle, der Angriff auf die Markuskathedrale [das größte Heiligtum koptischer ChristInnen, mit zwei Toten und Dutzenden Verletzten] im April [2013], Mursis fehlende öffentliche Reaktion auf einen Scheich, der die SchiitIn­nen „Unflat“ genannt hatte, so­wie seine nutzlose Antwort auf das Lynchen von [vier] Shiiten im Juni [2013 durch eine von salafistischen Scheichs angeführte Menge im Dorf Abu Mu­sallim in Groß-Kairo] – das alles waren Hinweise auf Mursis Unwillen, extremistische Elemente aus der islamistischen Szenerie im Zaum halten zu wollen. Insbesondere zeigten diese Beispiele, dass Mursi nie daran interessiert war, alle ÄgypterInnen zu repräsentieren. Doch auch hierzu muss ge­sagt werden, dass Mursi ledig­lich die Tradition staatlicher Diskriminierung und des Sektierertums von seinem Amtsvorgänger geerbt hat. Er hat die Kurbel nur um einige Stufen weiter angezogen.

Und was das Flirten mit dem Militär angeht, so ist das jetzt [im Anti-Mursi-Lager] geradezu zur Mode geworden.

 

Revolution oder Militärputsch?

So hat sich meine Position zu den Ereignissen vor dem 30. Ju­ni 2013 durch die nachfolgenden Ereignisse nicht verändert: Die Muslimbrüder hätten meiner Meinung nach ihrem eigenen Scheitern überlassen werden sollen, weil sie (noch) nicht ein solches Verbrechen begangen hatten, das die Absetzung Mursis durch das Militär gerechtfertigt hätte.

Der Preis, den Ägypten als Konsequenz dieser Entscheidung gezahlt hat und noch zahlen wird, ist zu hoch. Sie hat eine ganze Generation von Isla­mistInnen geschaffen, die aufrichtig glauben, dass Demokratie sie nicht einschließt. Die Nebenprodukte nach dem 30. Juni bestätigen diese These, beson­ders angesichts der nunmehr geschlossenen islamistischen Fernsehsender und Zeitungen sowie der verhafteten und isoliert gefangen gehaltenen Füh­rungspersonen – augenscheinlich einer Entscheidung von oben folgend.

Dreißig Jahre lang hat ihnen Mubarak eingebläut, dass der demokratische Prozess nichts für sie ist – und nun bestätigt ihnen das auch noch die angebliche Revolution des Volkes. Die ägyptische Gesellschaft wird den Preis für die dadurch verursachten Leiden und für die Tatsache zahlen müssen, dass sie [die Pro-Mur­si-AnhängerInnen] angesichts ihnen verbotener Medien und fehlender Berichterstattung durch unabhängige Medien tatsächlich ohne jede Möglichkeit zurückgelassen werden, ihre Stimme hörbar zu machen.

Ich möchte zur Debatte über Militärputsch oder Revolution hier nur Folgendes sagen: Millionen ÄgypterInnen besetzten den Boden und forderten Mur­sis Absetzung, während Mili­tärjets Herzen in den Himmel über ihnen zeichneten. Und dann verkündete der Vereidi­gungsminister Abdel Fattah al-Sisi, dass Mursi sich zwangs­weise verpisst habe. Doch nichts hat sich verändert. Die wirkliche Revolution wird erst kommen, wenn die Einmischung der Armee in die Politik ein vergangenes Relikt der Geschichte sein wird.

Diese Debatte wird rein semantisch und ermüdend geführt – und über die Terminologie wird hier und jetzt nicht entschieden werden. Der einzige Aspekt der allgemeiner gefassten Argumentation, der mich hier interessiert, ist die Vorstellung, dass sich die Legitimität eines gewählten Präsidenten auflöst, wenn Millionen Menschen [gegen ihn] auf die Straße gehen. Wenn das ein Präzedenzfall ist, dann bedeutet das künftig stürmische Zeiten, wenn das Interesse der Massen einmal nicht mehr mit denen der Armee zusammenfallen sollte.

Politisch befindet sich Ägypten in einem umfassenden Durcheinander. Wenn die Euphorie einmal verschwunden sein wird, dann wird sich die [ehemalige] Opposition wieder daran erinnern, dass eine Fraktion bei der Frage, wie viele Füße eine Kuh hat, bestreiten wird, dass das vorliegende Tier wirklich eine Kuh ist; eine andere Fraktion mit „vier“ antworten, und noch eine weitere Fraktion den Schwanz als ein Gliedmaß werten wird. Die lustigen Zeiten haben schon begonnen, als die Salafi-Nour-Partei [Partei des Lichts, eine salafistisch-islamistische Partei, die kurzzeitig an der Regierungskoalition nach dem Putsch beteiligt war,] ihr Veto gegen Mohammed el-Baradeis Nominierung als Premierminister mit der Begründung einlegte, dass er spalte, während die Tamarod-Vertretung – jene Graswurzel-Peti­tionskampagne, die hinter den Protesten des 30. Juni steckt, die zum Sturz Mursis führte [aber Achtung: nicht zu verwechseln mit antimilitaristischen Positionen, denn ihre AktivistInnen unterstützen das Militär und denunzieren gar einen „prinzipiellen Antimilitarismus“ (2)] – sich gerade für ihn und niemand anderen ausgesprochen hat.

Wenn die Armee noch irgendein [strategisches] Gespür hat, dann sollte sie darauf achten, dass die Legitimität des Regi­mes vom 30. Juni – in Ermangelung einer besseren Bezeichnung – nicht auf der Vernichtung von IslamistInnen basieren darf, wie sehr die öffentliche Stimmung das auch einfordert. Sie müssen integriert werden, denn diese Leute werden nirgendwo hingehen.

Das kaum funktionierende System, das aus dem 25. Januar 2011 hervorgegangen ist, wurde durch noch etwas Zerbrechlicheres ersetzt: streitende Fraktionen ohne klares Verfahren zur Lösung des Streits, das Mi­litär als Schiedsrichter und die wütenden Muslimbrüder, die sich betrogen fühlen. Schnallt euch gut an!

 

Sarah Carr (in Zusammenarbeit mit Jadaliyya)

 

Übersetzung aus dem Englischen, Einfügung von Titeln und Zwischenüberschriften sowie Zusatzinformationen in eckigen Klammern: Lou Marin. Ursprünglicher Originaltitel der Autorin: „Über Schafe und Ungläubige“.

 

Anmerkungen:

  1. Der Artikel von Sarah Carr auf Eglisch: www.madamasr.com/content/sheep-and-infidels
  2. A.d.Ü.: Vgl. Marwan Chahine: „Mahmoud Badr – le rebelle normal“ (Mahmoud Badr – der ganz normale Rebell), in: Libération, 25. Juli 2013, S. 40.

 

 

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 381, September 2013, www.graswurzel.net