Monster Mohel und die Kindermörder

Religiöse Beschneidungen zwischen Urteil und Vorurteil

Nachdem gerichtlich festgestellt wurde, dass religiöse Beschneidungen strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen können, entbrannte eine Diskussion, die sich schnell auf jüdische Religionsausübung konzentrierte. Der Stellenwert antisemitischer Inhalte in dieser Debatte, Kulturrelativismus und die rechtlichen Hintergründe der Gesetzesänderung bieten Anlass zur kritischen Betrachtung.

Im Mai vergangenen Jahres hatte das Kölner Landgericht über einen Sachverhalt zu entscheiden, bei dem es nach der Beschneidung eines vierjährigen Jungen zu Komplikationen gekommen war. Diese waren jedoch nicht Gegenstand des Urteils [1], es wurden keine Fehler des behandelnden Arztes festegestellt. Vielmehr stellte das Gericht fest, dass die fachgerechte Beschneidung Minderjähriger grundsätzlich eine Körperverletzung sei, selbst wenn durch die Eltern religiös begründet. Weil der Arzt dies nicht wissen konnte, wurde er wegen eines unvermeidbaren Irrtums über die Strafbarkeit freigesprochen. Gegen das Urteil war wegen des Freispruchs keine Revision möglich, zudem war unklar, wie andere Gerichte in dieser Sache entscheiden würden. Diese offene Rechtslage erschwert somit Beschneidungen ohne medizinische Notwendigkeit im Sinne des Islams oder Judentums.

Diskussion über das Urteil
Vor dem Hintergrund von Schätzungen, dass in Deutschland pro Jahr 46.000 Beschneidungen vorgenommen werden, von denen lediglich 300 mit jüdischer Kultur begründet werden, gibt es in der Beschneidungsdebatte eine unverhältnismäßige Fixierung auf das Judentum. Der ideologische Gehalt der Beschneidungsdebatte ist also hier zu suchen.
Rein rechtlich betrachtet mag die hohe Wertschätzung der körperlichen Unversehrtheit des Individuums überzeugen. Jedoch finden sich schon in dieser Begründung problematische Argumente. So wird behauptet, dass die Beschneidung das Recht des Kindes nehme, sich frei für eine Religion zu entscheiden. Unterstellt wird also, dass die Beschneidung unwiderruflich eine Religionszugehörigkeit festlege. Das ist absurd vor dem Hintergrund, dass in den USA ein großer Teil der männlichen Bevölkerung ohne direkten religiösen Kontext beschnitten ist, Beschneidungen nicht selten aus medizinischen Gründen vorgenommen werden und auch keine Fälle bekannt sind, in denen aufgrund einer Vorhautbeschneidung der Zugang zu einer Religionsgemeinschaft verwehrt wurde. Ginge es darum, die Eltern in der religiösen Erziehung ihrer Kinder zu beschränken, müsste erst recht gegen die christliche Taufe vorgegangen werden, die viel unveränderlicher die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft manifestiert.[2]
Dass die Debatte über Beschneidungen mit teilweise haarsträubenden Argumenten ausgetragen wird, zeigt ein Blick auf die USA. Von einer Initiative, die sich für eine gesellschaftliche Ächtung von Beschneidungen einsetzt, wurde eigens die Comicserie „Foreskin Man“ entwickelt, in der eine Superheldenfigur Jungen vor Beschneidungen bewahrt. Als Gegenspieler tritt ein Charakter namens „Monster Mohel“ auf, der – unterstützt von zwei mit Maschinengewehren bewaffneten orthodoxen Juden – junge Knaben entführt, um sie auf blutrünstige Art zu beschneiden. Dabei wird nicht darauf verzichtet, die Monsterfigur – benannt nach der Person, die getreu dem jüdischen Glauben als Mohel ein fachliche Ausbildung hat, um Beschneidungen durchzuführen – mit allerlei antisemitischen Stereotypen auszuschmücken.

Weibliche Genitalverstümmelung vs. Beschneidung
In Deutschland hat sich zuletzt die Giordano-Bruno-Stiftung für ein Verbot religiöser Beschneidungen bei Minderjährigen ins Zeug gelegt. So wird in fast schon absurd wirkender Art versucht, politisch korrekt aufzutreten, wenn in Anlehnung an feministische Kampagnen der Slogan „Mein Körper gehört mir“ verwendet wird. Sogar die mehrfach eingeforderte[3] SprecherInnenperspektive wird eingehalten, wenn anlässlich der Tagung des Deutschen  Bundestages über den Gesetzesentwurf, der religiöse Beschneidungen erlaubt, der Film eines jüdisch-israelischen Regisseurs gezeigt wird, um in die Diskussion einzubringen, dass Beschneidungen auch innerhalb der jüdischen Gesellschaft umstritten sind. Tatsächlich mögen einige der vorgebrachten Argumente bedenkenswerte Aspekte haben. Emotionaler Höhepunkt der Öffentlichkeitsarbeit dieser Kampagne ist jedoch die Anfang Dezember 2012 gestartete Aktion, bis zum Beschluss des Gesetzesentwurfes jeden Tag einen weiteren Bericht über blutig bis tödlich endende Beschneidungen an hilflos ihren Eltern ausgelieferten Kindern zu veröffentlichen.
Ein beliebter Aufhänger zur Dämonisierung der Beschneidung war die mehrfach bemühte Gleichsetzung mit Genitalverstümmelungen bei Frauen. Zwar stimmt es, dass auch am weiblichen Geschlechtsorgan Eingriffe vorgenommen werden können, welche die Klitoris intakt lassen und daher mit männlichen Beschneidungen verglichen werden können. Diese Praxis ist jedoch wenig verbreitet und weitestgehend unbekannt, sodass wohl bewusst auf eine Assoziation mit der zu Recht abschreckenden Praxis gesetzt wurde, wonach dieser Eingriff bei Frauen dazu dient, das weibliche Lustempfinden zerstörerisch zu unterbinden. Auch wenn der Aktion Terre des Femmes zugute gehalten werden kann, sich auch unabhängig von der aktuellen Debatte für dieses Thema einzusetzen, wurde von ihr in unzähligen Pressemitteilungen in eben diese Kerbe geschlagen.
Übertroffen wurde dies noch vom Berliner Kurier, der im Juli eine Person mit Hakennase darstellte, die einem mit Kippa bekleideten Jungen das komplette Genital abschneidet, was in der Jüdischen Allgemeinen mit der NS-Propaganda des Stürmers verglichen wurde.[4]
Zudem wurde in unzähligen LeserInnenbriefen und Forenbeiträgen so ziemlich alles über Beschneidungen und „die Juden“ geschrieben, was gerade noch rechtlich erlaubt ist.[5]

Ritualmordlegende
Schon im Mittelalter hat die kollektiv eingebildete Schändung von Kindern für den Antisemitismus eine Rolle gespielt. Unter Begründung auf christliche Motive wie den Gottesmord wurde den JüdInnen im Antijudaismus die Schuld für das Unglück verschwundener Kinder gegeben. Die regelmäßig in Folter und Tötung der Beschuldigten sowie in anschließenden Pogromen gegen die jüdischen Gemeinden endenden Vorwürfe setzten sich aus einer Kombination unterschiedlicher Aspekte zusammen. Besonders in zeitlicher Nähe zum Osterfest wurde unterstellt, „die Juden“ würden christliche Kinder im Rahmen geheimer Rituale wie Jesus kreuzigen, um so an deren Blut zu gelangen. Damit würden religiös motivierte Kulthandlungen ausgeführt, die in der geschichtlichen Entwicklung dieses antisemitischen Klischees in den wahnhaften Schilderungen eines Hexensabbats ihren christlichabergläubischen
Höhepunkt fanden.
Die sich mit vermeintlichen Kindesschändungen begründende Verfolgung der jüdischen Bevölkerung dauerte bis ins 19. Jahrhundert an. Auch wenn ihr Stellenwert für den mörderischen Wahn mit dem Aufkommen eines modernen Antisemitismus nachließ, wurden Ritualmordlegenden noch im Nationalsozialismus wiederholt. Solche Legenden und eine übertreibende Kritik an Beschneidungen sind jedoch keinesfalls gleichzusetzen, auch wenn sich einzelne Aspekte, wie die Kindesentführungen im Foreskin-Comic oder die blutige Schändung und Tötung in der Giordano-Kampange, wiederholen. In der Debatte zeigte sich jedoch deren begrenzte Wirkungsmächtigkeit, die im Zusammenhang eines aktuellen Antisemitismus eingeordnet werden muss.

Antisemitismus und Israel
So ist beispielsweise der Slogan „Kindermörder Israel“ auf deutschen Demonstrationen immer wieder zu hören, wenn der Nahostkonflikt thematisiert wird. Dem steht es nicht entgegen, wenn die Versammlung von vermeintlich friedensbewegten Linken angemeldet wird, wie bspw. vom SDS Leipzig selbstbezichtigend dokumentiert.[6] Dies zeigt zwar, wie sich das Motiv noch immer für antisemitische Stereotype eignet, jedoch durch eine neue Entwicklung abgelöst wurde: Die Fixierung auf Israel. Da es nach Auschwitz gerade in Deutschland schwer ist, sich offen antisemitisch zu bekennen, die
entsprechende ideologische Denkstruktur jedoch weiterexistiert, verschiebt sie sich auf ein neues Objekt. Der Staat Israel bietet sich an, da er Deutschland immer wieder erinnert, warum nicht einfach unbekümmert weitergemacht werden kann. Gelingt es, Israel einen Makel nachzuweisen, der die eigene Schuld relativiert oder ihr vermeintlich gleichsteht, wird gehofft, dieses Hindernis in der eigenen Geschichte so aus dem Weg zu räumen.
Dieser sekundäre Antisemitismus[7] löst antijudaistische Stereotype nicht komplett ab, macht sie aber mehr und mehr überflüssig. Umgekehrt war in der Ritualmordlegende bereits die Behauptung mit eingebaut, nur mittels christlichem Blutes würden „die Juden“ ihre Heimat zurückerlangen können. Dieses Motiv wurde später im Antizionismus ausgebaut, da dem Feindbild aufgrund der langen Zeit ohne Heimat ein unersättlicher Landhunger unterstellt wurde und taucht in einer „differenzierten Israelkritik“ wieder auf, wenn die Siedlungspolitik als Ursache des Nahostkonfliktes abgehandelt wird.[8] So sehr also die verschiedenen Bestandteile des Antisemitismus miteinander verwoben sind, so ändert sich auch ihre Gewichtung mit der Zeit.
Horrorgeschichten über geschändete Kinder sind nicht mehr notwendig, um das antisemitische Bedürfnis zu stillen. Günther Grass hat vorgemacht, wie sich Antisemitismus heutzutage artikuliert, indem er Israel die Absicht zu einem alles vernichtenden Erstschlag unterstellt, nach dessen Ausführung er sich selbst wenige Chancen zum Überleben gibt. Mittlerweile können unmittelbar an den antijudaistischen Kontext der Ritualmorde anknüpfende Erzählungen in Europa als Randerscheinung unbeirrbarer religiöser Spinner bezeichnet werden, die hier auf die Meinungsbildung im antisemitischen Mainstream kaum Einfluss haben.

Stellenwert des Antisemitismus
Wer im modernisierten Deutschland hingegen immer noch auf das Motiv des geschändeten Kindes zurückgreift, hat zwar gute Chancen, den autoritären Mob zu mobilisieren, stellt sich damit jedoch in die Nähe der NPD, die unter den dem Slogan „Todesstrafe für Kinderschänder“ als Ewiggestrige das strategische Abseits des aktuelle Politikbetriebes markiert.
Stattdessen bot die Debatte eine Steilvorlage für jene, die sich schon immer beweisen wollten, wie sehr sie gegen Antisemitismus sind. Schon lange wurde dies den Deutschen nicht mehr so leicht gemacht. Selbst Grass könnte sich in diesem Kontext fest an die Seite seiner lyrisch bemühten „israelischen Freunde“ stellen, wenn er ihnen nur zugestehen würde, sich zu beschneiden. Auch jene, die mit ihrem Gerede von „Islamophobie“[9] mehr oder weniger bewusst dabei helfen, einen internationalen Antisemitismus hoffähig zu machen, konnten beweisen, die dringend notwendige  Unterstützung im Kampf gegen Antisemitismus zu liefern, indem sie sich wie in Berlin auf einer gemeinsam von jüdischen und islamischen  Organisationen getragenen Demonstration für religiöse Beschneidungen einsetzten. Die Debatte wurde keinesfalls ausschließlich von GegnerInnen der Beschneidung dominiert, auch Stellungnahmen der beiden Religionsgemeinschaften kamen deutlich zu Wort. Jenseits einer Dämonisierung der Beschneidung gab es auch sehr eindeutige Signale, diese zu erlauben. Spätestens seit Merkels Aussage, Deutschland könne nicht die einzige Nation sein, die Beschneidungen verbiete, war klar, dass die offene Rechtslage beendet und es nicht zu einem Verbot kommen wird.

Kulturrelativismus
Da es problemlos möglich ist, trotz antisemitischer Ansichten für eine Beschneidung zu sein, lohnt ein kritischer Blick auf die Argumentation der BefürworterInnen. Dabei werden oft medizinische Argumente aufgeführt. Die Behauptung, die Beschneidung senke das Risiko einer HIV-Infektion, ist in der medizinischen Wissenschaft umstritten. Während es in den USA ärztliche Verbände gibt, die einen Zusammenhang festgestellt haben, diesen jedoch nicht kausal erklären können, bezweifeln andere Fachverbände diese Verbindung.[10] Oft wird sich auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation berufen, die diesen Eingriff aus hygienischen Gründen empfiehlt. Dies kann sinnvoll sein, solange jedoch ausreichend Mittel zur körperlichen Hygiene zur Verfügung stehen, gibt es hierzu keine Notwendigkeit. Über die Auswirkungen der Beschneidung auf das Sexualleben gibt es die unterschiedlichsten Ansichten, die keine eindeutige Schlussfolgerung erkennen lassen. Allein aus der Tatsache, dass Beschneidungen teilweise aus fachärztlicher Sicht empfohlen werden, ergibt sich, dass für eine geradezu verteufelnde Ablehnung dieser Praxis keine Gründe bestehen. Eine allgemeine medizinische Notwendigkeit, noch dazu bei Minderjährigen, lässt sich jedoch eben so schwer behaupten.
Solange es für die Beschneidung ohne medizinischen Grund keine rationalen Argumente gibt, die eine Notwendigkeit dieses Eingriffs belegen, bleibt festzuhalten, dass es vor allem religiöse Gründe sind, welche die Beschneidung fordern. Nachvollziehbar daher das Verständnis der katholischen Kirche für die Situation der jüdischen Gemeinden: Lassen sich aus ihrer Sicht doch zunehmend erhebliche Schwierigkeiten feststellen, ihre eigenen Standpunkte in der Gesellschaft zu verankern. Die Problematik einer kulturrelativistischen Argumentation wird im Kommentar zugespitzt, dass wenn in Deutschland die „Liebe fürs Archaische“ entdeckt werde, der „Weg zur modernen Barbarei nicht weit“ sei.[11] Da andererseits auch in der Dämonisierung der Beschneidungspraxis eben jene Tendenzen erkennbar sind, wird klar, dass zwischen diesen beiden Standpunkten eine einwandfreie praktische Position ohne Kompromisse schwer zu haben ist. Zum Verständnis des Kölner Urteils und der letzten Gesetzesänderung ist eine Kenntnis der rechtlichen Hintergründe notwendig.

Ärztliche Eingriffe als Körperverletzung
Die Rechtsprechung deutscher Gerichte sieht bei jedem ärztlichen Eingriff zunächst einmal den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Dies führt zu Streit, nicht nur zwischen ÄrztInnen und JuristInnen, sondern auch innerhalb der Rechtslehre. Verständlicherweise wollen Erstere die Ausübung ihres Berufes nicht mit Gewalttaten gleichgestellt sehen. Auch abseits einer eher moralischen Entrüstung über die tatbestandliche Einordnung von Heilbehandlungen als Körperverletzung wird diese Sichtweise in der Rechtswissenschaft kritisiert. Dabei wird der ärztliche Eingriff nicht als Einzelakt gesehen, der die körperliche Unversehrtheit vorübergehend beeinträchtigt, sondern im Gesamtzusammenhang mit der Wiederherstellung und Erhaltung des körperlichen Wohls betrachtet.[12] Demnach kann auch eine misslungene Behandlung nicht als Tatbestand einer Körperverletzung betrachtet werden, da es an einer entsprechenden Absicht der behandelnden Person fehlt.
In der juristischen Literatur wird die Ablehnung dieser Rechtsprechung in unterschiedlichsten Variationen vertreten. So soll bei der Frage, ob eine Körperverletzung vorliegt, teilweise zwischen erfolgreichen und misslungenen Eingriffen unterschieden werden oder aber eine Körperverletzung nur dann nicht von vornherein ausgeschlossen sein, wenn der Eingriff mit einem Substanzverlust einhergeht. Oft wird jedoch für ärztliche Behandlungen, die nicht einer direkten Heilung dienen, sondern beispielsweise aus kosmetischen Gründen erfolgen oder experimentellen Zwecken dienen, eine Körperverletzung
nicht vorab ausgeschlossen. Spätestens hier zeigen sich dogmatische Schwierigkeiten, es ist auch praktisch schwer abzugrenzen, wann im Einzelfall eher von einer kosmetischen oder heilenden Behandlung auszugehen ist.
Auch die Rechtsprechung will Heilbehandlungen nicht per se als Straftaten hinstellen. In dem vorübergehenden Eingriff in den Körper der behandelten  Person wird hier eine Verletzung des Rechtsgutes der körperlichen Unversehrtheit gesehen. Erst in einem nächsten Schritt wird die Strafbarkeit abgelehnt: Wenn die PatientInnen angemessen aufgeklärt wurden und entsprechend in die Behandlung eingewilligt haben, ist der Eingriff gerechtfertigt. Es gibt demnach aus strafrechtlicher Sicht eine Aufklärungspflicht, welche die Rechte der Behandelten stärkt. Sie sollen nicht nur Objekt der Medizin sein, sondern selbst über die Vornahme des Eingriff es entscheiden können und dazu über die Risiken und Wirkungsweisen der Heilung informiert werden. Dies ist nicht zuletzt aufgrund der Verbrechen, die von Ärzten im Nationalsozialismus begangen wurden,[13] ein wichtiges Merkmal einer Gesellschaft,  welche die Einzelnen nicht dem Zwang des Kollektivs unterstellen, sondern in ihrer Fähigkeit achtet, über sich selbst zu bestimmen.

Behandlungen bei Minderjährigen
Die geltende Rechtsauff assung kommt allerdings bei der Frage der Einwilligung minderjähriger Jugendliche an ihre Grenzen. Mittlerweile wird abgelehnt, sich bei der Einwilligungsfähigkeit an den zivilrechtlichen Regelungen der Geschäftsfähigkeit zu orientieren. Vielmehr hat sich eine individuelle Beurteilung des Reifegrades als Maßstab durchgesetzt, wonach die Einsicht- und Urteilsfähigkeit bei Vierzehn- bis Achtzehnjährigen im konkreten Fall beurteilt werden
soll. Hier finden sich durchaus progressive Ansätze: Selbst eine möglicherweise objektive Unvernünftigkeit der Entscheidung lasse keinen automatischen Rückschluss auf mangelnde Urteilsfähigkeit zu. Es gelte hier die selbständige Entscheidungsfindung des Individuums zu würdigen.
Das heißt allerdings nicht, dass Minderjährige deshalb selbständig über ärztliche Eingriffe entscheiden können. Vor Gericht wird davon ausgegangen, dass die Zustimmung der Eltern unverzichtbar ist und ihnen somit eine Art Vetorecht zukommt. Dagegen spricht neben der ärztlichen Schweigepflicht auch die Höchstpersönlichkeit des in Frage stehenden Rechtsgutes. Aufgrund unakzeptabler Ergebnisse müssen dann beim Schwangerschaftsabbruch bei Minderjährigen, wenn auch nur in sehr engen Grenzen gestattet, Ausnahmen von der Zustimmungspflicht der Eltern gemacht werden.

Die gerichtliche Behandlung
von Minderjährigen ist insgesamt bevormundend. Die Einwilligungsfähigkeit von Kindern hat jedoch Grenzen, wo diese den Sachverhalt nicht nachvollziehen können. Da Entscheidungen von den Eltern gefällt werden müssen, regelt der Begriff des Kindeswohls, dass die Interessen des Kindes gewahrt werden. Hier wird sich auf verschiedene Einzelnormen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bezogen, die dort unter der Überschrift „Elterliche Sorge“ gefasst sind. Dies war auch der Kernpunkt in der umstrittenen Entscheidung zur Beschneidung. Hier stellte das Gericht mittels Abwägung der betroff enen Grundrechte fest, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht durch die Religionsfreiheit der Eltern eingeschränkt
werden dürfe. Weil mit der Entscheidung der Eltern nicht dem Wohl des Kindes entsprochen werde, könne nicht wirksam in den ärztlichen Eingriff eingewilligt werden.

Aktuelle Gesetzgebung
Festzuhalten ist jedoch, dass durch das Urteil aus rechtlicher Sicht ein Ungleichgewicht hergestellt wurde. Im Rahmen des Kindeswohls sind Eingriff e gestattet, die entweder rein kosmetischer Natur, wie bspw. das Anlegen abstehender Ohren, oder klar schwerwiegender als eine Vorhautbeschneidung sind, wie mit Operationen einhergehende medizinische Maßnahmen zur Festlegung auf ein „biologisches“ Geschlecht. Mit der Gesetzesänderung vom Dezember 2012 wurde dieses Ungleichgewicht zu Gunsten der Beschneidung aufgelöst. Ein neuer § 1631 d des BGB[14] regelt nun, dass Eltern religiös motiviert rechtswirksam in die Beschneidung einwilligen können, sofern diese fachgerecht ausgeführt wird. Ein zweiter Absatz dieser Norm soll auch durch die Religionsgemeinschaft bestimmten Personen mit entsprechender Ausbildung gestatten, bei bis zu sechs Monate alten Jungen
Beschneidungen vorzunehmen. Kritisiert wird an diesem Entwurf, dass es sich nicht nur um gesetzgeberischen Aktionismus handelt, auch die fachliche Umsetzung sei nicht überzeugend. In ihrer Begründung will die Gesetzgebung eigentlich ein religiöses Sonderrecht verhindern, da es den  unterschiedlichen Zwecksetzungen der Beschneidung nicht gerecht werde. Trotzdem sollen bestimmte nichtreligiöse Gründe wie Verhinderung der Selbstbefriedigung und ästhetische motivierte Eingriff e unterbunden werden. Wie dies jedoch praktisch umgesetzt werden soll, wovon also abhängig gemacht wird, ob eine Beschneidung vorgenommen werden darf, ist unklar.
Auch funktioniere die sogenannte Mohel-Klausel nicht. Zwar ist es möglich, Personen jüdischen Glaubens so auszubilden, dass sie den Eingriff „wie ein Arzt“ vorzunehmen können. Scheitern wird dies jedoch an den in Absatz 1 geforderten „Regeln der ärztlichen Kunst“, welche nach der Begründung des Gesetzes eine Narkose erfordert, die nur ärztlich ausgeführt darf.[15] Die Verabschiedung dieses Gesetzes taugte jedoch nicht mehr für Schlagzeilen, die Beschneidungsdebatte scheint vorbei zu sein. Es zeigte sich dabei keine Neuaufl age der Ritualmordlegende, vielmehr bot sich den Deutschen die selten so einfach zu habende Gelegenheit, zu zeigen wie eng sie an der Seite „der Juden“ stehen. Das mit dem neuen Gesetz die von fast allen Seiten mit eher schlechten Argumenten geführte Diskussion zu Ende geht, dürfte sein größter Verdienst sein.


Lars Feldmann

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[1] Neue Juristische Wochenschau 2012, 2128.

[2] www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Taufe-laesst-sich-nicht-rueckgaengig-machen-id18552091.html (Stand aller Links: 17.12.2012).

[3] Jungle World-Debatte ab Ausgabe 29/2012.

[4] www.juedische-allgemeine.de/article/print/id/13818.

[5] Elke Wittich, Vorhäute im Sommerloch, www.jungle-world.com/artikel/2012/32/46000.html.

[6] www.chronikle.org/ereignis/antisemitische-parolen-übergriffe-free-gaza-demonstration-leipzig.

[7] Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust, 2005, 56, 82.

[8] Berliner Zeitung, Israel baut, teilt und sperrt ab, 06.12.2012, 2.

[9] Manuel Frischberg, Das Konzept Islamophobie als Abwehr westlicher Zumutung, in: Stephan Grigat (Hrsg.), Feindaufklärung und Reeducation, 2006, 155.

[10] Tonio Walter, Der Gesetzentwurf zur Beschneidung, JuristenZeitung 22/2012, 1110 Fn. 5.

[11] Jörn Schulz, Lass und zur Steinigung gehen, jungle-world.com/artikel/2012/34/46086.html.

[12] Michael Hettinger / Johannes Wessels, Strafrecht BT 1, 36. Aufl., 2012, 103, Rn. 325 ff.

[13] Evelyn Haustein, Ärzte im Dritten Reich, www.thieme.de/viamedici/zeitschrift/heft0502/3_topartikel.html.

[14] http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2012/0597-12.pdf.

[15] Walter, Fn. 10, 1114.