Das Projekt A und die Kunst des „Scheiterns“

Ein Gespräch mit dem Ex-Kommunarden Bernd Elsner: „Es gibt für mich keine andere Alternative als die Anarchie“

Bernd Elsner, 1948 in Karlsruhe geboren und aufgewachsen, ist selbständiger Dekorateur. Seit 1979 lebt er mit seiner Frau in Elmstein im Pfälzer Wald. Er hat vier erwachsene Töchter. Nach seiner Grundausbildung zum Funker bei der Bundeswehr wurde er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt und leistete „Ersatzdienst“ im Rettungsdienst des ASB. Seitdem ist er aktiv in der Kollektiv-, Kommune-, Friedens- und Ökologiebewegung. Leserinnen und Lesern der Graswurzelrevolution ist er bekannt durch seine im Oktober 2009 in der GWR 342 veröffentlichte Trauerrede, die er bei der Beerdigung seines langjährigen Freundes und Genossen Horst Stowasser gehalten hat.1 Das Interview mit dem telefonisch Zugeschalteten wurde im Studio des Medienforums Münster aufgezeichnet. Es erscheint hier als Vorabdruck aus dem voraussichtlich im Januar 2014 in Berlin im Karin Kramer Verlag von Bernd Drücke herausgegebenen Inter­view-Sammelband „Anarchismus Hoch Zwei“ (ca. 260 Seiten, ca. 19.80 Euro, ISBN 9783879563753). (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution (GWR): Du hast jahrelang in Kommunen gelebt. Kannst Du die Geschichte der Kommune-Bewegungen skizzieren?

 

Bernd Elsner: Oh je, das ist ein bisschen viel verlangt. Es gibt dazu unzählige Bücher und wissenschaftliche Abhandlungen. Das ist im Prinzip auch nichts Neues. Gütergemeinschaften, Werkkommunen, Produktionsgenossenschaften usw. gab es schon seit dem 12. Jahrhundert. Ich möchte nur an die Waldenser2, Albigenser3, Humiliaten4  und viele andere erinnern. Uns Anarchistinnen und Anarchisten unterscheidet davon der Wegfall der religiösen Bindung und der Wunsch nach einem herrschaftsfreien Zusammenleben, also die Aufhebung der Hierarchien, ein Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Das ist etwas Neues gewesen, was sich seit dem 18./19. Jahrhundert entwickelt hat.

 

GWR: Du warst in der libertären Kommune-Bewegung aktiv. Wie waren Deine persönlichen Anfänge? Wie wurdest Du zum Kommunarden?

 

Bernd Elsner: Das fing schon in meiner frühesten Kindheit an. Ich bin in eine völlig verrückte Zeit hineingeboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in den zerbombten Städten große Wohnungsnot. Meine Mutter kam aus dem Sudetenland, aus der damals polnisch-deutsch-tschechischen Grenze.

In Karls­ruhe gab es damals ein Amt für Wohnraumbeschaf­fung und Flüchtlingsfragen.

Wir wurden bei einem älteren Witwer zwangseinquartiert.

Das hat bedeutet, dass sechs bis sieben Erwachsene und zwei Kinder zusammen in einem etwa 30 Quadratmeter großen Raum lebten. Wir konnten die Küche des Wohnungsinhabers mitbenutzen. Als ich in der Schule war, lebten wir in einem Übergangswohnheim für obdachlose Familien. Im Seitentrakt befand sich ein Wohnheim für die wohnsitzlo­sen Männer. Weil mich das Ver­walterehepaar gut leiden konnte, erhielt ich dort immer mein Frühstück. Später war ich mehrere Wochen im Waisenhaus. Jungs und Mädchen waren dort getrennt, in jedem Trakt gab es einen gemeinsamen Kleiderschrank, der nach Größen sortiert war. Daraus erhielten wir unsere Kleidung. Samstagnachmittag war immer Badetag in einem großen Schwimmbecken. Auch größere Jungs, Pubertierende mit 13, 14 Jahren, durften sich keine Badehosen anziehen. Die damaligen Nonnen standen als „Aufsichtsper­sonen“ am Bec­kenrand. Da ha­be ich schon ei­ne Menge in meiner Kindheit erlebt. Das hat Einfluss gehabt auf mein späteres Kommune-Leben. Als ich dann meinen „Ersatzdienst“ ableistete, gab es noch Kasernen für „Ersatzdienstleistende“. Dagegen haben wir Demos organisiert. Wir selbst hatten in Karls­ruhe das Glück, dass wir vom Arbeitersamariterbund (ASB) eine Dreizimmerwohnung in einem zum Abbruch vorgesehenen Haus erhalten haben. Wir waren sechs „Ersatzdienstleis­tende“. Ich war Jugendleiter des ASB-Ortsverbandes und später ASB-Landesju­gendleiter in Baden-Württem­berg, da kamen immer viele Jugendliche in unsere Wohnung. Wir hatten viele Beziehungen zu verschiedenen Frauen. Da sind manche bürgerliche Ver­haltensnormen weggefallen. Das könnt ihr euch ja vorstellen, drei Zimmer, sechs Leute, und manch einer hat eine Frau dabei gehabt.

Das war ein anderes Leben. Wir nannten das K91, weil es in der Kaiserstraße war. Wir hatten in Karls­ruhe vorher schon mal ei­ne Kommune gehabt, die bekannt war. Manche werden sich vielleicht noch an den Namen Cannapol erinnern. Cannapol stand für „Cannabis und Politik“. Das war in der Kommune-Bewegung schwierig, weil wir ja Politik gemacht haben. In der Drogen- und Haschischszene, da wurde dann gesagt: „Was, Politik? Das ist bekloppt!“. Wir hatten probiert, das zu verbinden, so wie die Kommune Can­napol das vor­her schon gemacht hatte.

 

GWR: Das war Anfang der 1970er Jahre, als Du in die Kommune-Szene gekommen bist?

 

Bernd Elsner: Ja, das war so 1972/73. Das war die Wohnung, in der wir waren. Wir wussten, dass es Kommunen wie die K1 gab und was die in Berlin gemacht haben. So ha­ben wir uns auch ähnlich strukturiert und organisiert. Es gab Kommune-Treffen regional und überregional, mit anderen Kommunen gab es einen Austausch. Das lief dann auch in Karlsruhe. Ab 1971 gab es die ersten Hausbesetzun­gen. Da haben wir uns weiter organisiert und stärker verbunden, auch auf überregionaler Ebene. Ich denke da z.B. an das Georg von Rauch-Haus oder das Thomas-Weißbecker-Haus in Berlin oder die Frankfurter Sce­ne.

 

GWR: Was hat Dich damals an Kommunen fasziniert?

 

Bernd Elsner: Eigentlich nichts. Es gab ja schon immer Großfamilien. Wir versuchten lediglich eine frei gewählte Großfamilie zu bilden. Heute würden wir das vielleicht als Mehrgenerationenprojekt bezeichnen.

 

GWR: Was war gut an den damaligen Entwicklungen?

 

Bernd Elsner: Gut war, dass wir versucht haben, solidarisch zusammen zu leben, nach dem Prinzip der Ge­genseitigen Hilfe. Ich denke, für Kinder war es wichtig, dass sie immer eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner hatten, die da waren und Lebenserfahrung mitgebracht haben. Diese Intensität, das kann von einer bürgerlichen Kleinfamilie, wie sie immer propagiert wurde, nicht geleistet werden.

Vor der Kommune-Bewegung haben wir schon in Karls­ruhe im ehemaligen Felsenkeller einen antiautoritären Kinderladen gegründet. Da haben wir uns mit diesen Dingen schon beschäftigt, theoretisch. Das, wie ich leben wollte, hat sich dann in meinem „Ersatzdienst“ und danach verwirklicht.

 

GWR: Wo siehst Du rückblickend Probleme? Was war negativ?

 

Bernd Elsner: Ein großes Problem war immer die finanzielle Ungleichheit. Es gab einige, die waren finanziell unabhängiger als andere, die ständig kämpfen mussten für ihre Kohle, wie z.B. ich. Ich musste ständig gucken, woher ich meine Kohle bekomme. Und dann die unterschiedliche Herkunft, also das soziale Gefälle. Oft fehlte das Vertrauen in sich selbst und in andere. Es gab auch die fehlende Ehrlichkeit mit sich selbst und den anderen. Es gibt sicher immer Probleme, die wir durch Gespräche abbauen können, wenn wir uns auf gleicher Ebene treffen und auf gleicher Augenhöhe mitein­an­der kommunizieren.

 

GWR: Im September 2013 hast Du auf Einladung der anarchosyndi­kalistischen FAU im Libertären Zentrum Schwarze Katze Hamburg über „Libertäre Ökonomie und das Projekt A“ referiert. Du hast dort auch von einem Vergewaltigungsfall in einer Kommune berichtet. Wann und wo ist das passiert?

 

Bernd Elsner: Wir haben in Hamburg auch über Kommunen gesprochen. Die Kommune, in der das Anfang der 1980er Jahre passiert ist, war in einer pfälzischen Kleinstadt. Damals gab es dort eine Kommune, in der auch ein Alleinerziehender mit seiner To­chter lebte. Sie war damals vier oder fünf Jahre alt. Erst Ende der 1990er habe ich erfahren, dass dieses Mädchen  mehr­mals „missbraucht“ wurde. In unserem Verständnis ist das ei­ne Vergewaltigung! Es gibt im­mer ein Machtgefälle zwi­schen Kindern und Erwachsenen.

Kinder können mit Kindern ihre Sexualität entwickeln. Erwachsene sollen ihre Sexualität mit Erwachsenen leben, wenn sie denn Sexualität wollen.

 

GWR: Mir hat ein Teilnehmer der Veranstaltung in Hamburg erzählt, dass bei Deinem Vortrag der Eindruck entstanden sei, dass diese Kommune, in der das Mädchen vergewaltigt worden war, etwas mit dem Projekt A zu tun gehabt habe. Du hast mir erzählt, dass das ein Missverständnis war. Was war das für eine Kommune? Kannst Du da­zu etwas Genaueres sagen?

 

Bernd Elsner: Wir hatten als anarchistische Gruppe BKA (Bund Karlsruher Anarchisten) zwischen 1976 und 1980 die Zeitung Der schwarze Gockler - der im Dunkeln kräht herausgegebenen (in Anlehnung an eine anarchistische Zeitung aus dem China der 30er Jahre). Wir hatten in Elmstein drei Abonnenten, wie sich allerdings erst herausgestellt hatte, als einige aus dem BKA, darunter auch ich, dort schon als Kollektiv und Kommune wohnten. Diese drei hatten wiede­rum Kontakt zur Scene in einer pfälzischen Kleinstadt (Scene war für uns immer der Begriff für ein alternatives Leben, so zwischen Rock’n‘Roll, Drogen, Kleinkri­minalität und politischer Aktivität). Dort hatte sich 1980/81 eine WG/Kommune ge­gründet (also lange Jahre vor dem Projekt A!) und die Leute wollten eine Stadtzeitung machen. Wir haben dabei geholfen das Projekt zu verwirklichen. Ich weiß nicht mehr genau wie viele Ausgaben wir für diese Kommune gedruckt haben. Exemplare jeder Ausgabe davon liegen in unserem Archiv. Ich möchte den Namen der Kommune und von Leuten nicht nennen, weil davon heute noch Leute betroffen sein können und dies ihnen in so einer Kleinstadt, nachdem sie nun „gut situiert leben“, Schaden zufügen könnte. Ich habe keine Ahnung, wer von diesem Missbrauch wusste. Etwa 1998 traf ich einen ehemaligen Kommunarden dieser Kommune, der nach einer Scheidung seine Kinder zugesprochen bekam, und mir diesen Missbrauch schilderte, von dem ich bis dato nichts wusste.

 

GWR: Du hast beim Projekt A mitgemacht. Was war das Projekt A? Welche Ideen stecken dahin­ter?

 

Bernd Elsner: Das Projekt A geisterte seit 1985 in der anarchistischen Welt herum. Das Ganze ist im Zusammenhang mit der 1968er-Bewegung zu sehen. Wir wussten nicht so richtig, was wir wollten. Wir wussten nur, was wir nicht mehr wollten.

Was wir nicht mehr wollten, das war diese autoritäre Art der Erziehung, die Art, wie wir in Kleinfamilien zusammenlebten, die Art, wie wir damals noch als Lehrlinge ständig im Betrieb vom Meister eins hinter die Ohren kriegten, wenn wir etwas falsch gemacht hatten, und dann noch wenig Geld zu kriegen, sich dann noch dafür zu bedanken, dass wir für die Arbeit überhaupt Geld kriegten. Ich bekam in den ersten drei Monaten 10 D-Mark Lehrlingsgehalt im Monat, danach durch eine „Gehaltserhöhung“ von 100% immerhin 20 DM. Damit konnte ich meine Monatskarte für den ÖPNV von 17 DM gerade mal bezahlen! Von Tarifen, Arbeitszeitverordnung und ähnlichen Dingen hatte ich keine Ahnung und die damalige Gewerkschaft HBV, die ich zum Ende meiner Lehrzeit kennen lernte, war ein lahmer Haufen. Das ist heute kaum vorstellbar, wie wir damals lebten und arbeiteten. Und da hat sich diese 68er-Bewegung entwickelt, die heute immer noch teilweise verspottet, teilweise bewundert, teilweise mit harten Bandagen bekämpft wird. Die Konservativen machen immer noch Wind gegen diese „komische 68er-Bewegung“. Wir wollten die Verwirklichung unserer Träume, die Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse.

Das wollten wir ganz praktisch angehen. Daraus hat sich dann hier die Kommune-Bewegung entwic­kelt, daraus haben sich Betriebe entwickelt, die sich selbstverwaltet nannten. Wir in Karlsruhe haben 1975/76 die erste selbstverwal­tete Druckerei gegründet.

Das Projekt A war eine Idee von Horst Stowasser, der unsere Gespräche und Wünsche zusammengefasst hat in dem Buch „Das Projekt A“. Die Ideen, die da­hinter steckten, waren im Prinzip, dass die Trennung zwischen Leben, also persönlichem Glück, Liebe, Beziehungen usw., und politischer Arbeit, in Form von Projekten, Verändern der Welt, Verbreitung von Ideen, Revolution und dann Geld verdienen, Beruf, kreatives Schaffen, Entfremdung aufheben, dass wir diese drei Bereiche miteinander verknüpfen wollten. Das war die Idee, die wir dazu hatten. Horst hat das in diesem Buch sehr gut dargestellt. Er war ein hervorragender Autor, ein Autodidakt, sozusagen der aktivste, vor Ideen sprühend und als Mitgründer der Wetz­larer Gruppe ein fester Bestandteil in unserem Chaos. Sprachgewandt und einige Fremdsprachen beherrschend hatte er gute internationale Kontakte. Horst gab dem Ganzen einen Namen, vermarktete geschickt als nicht gelernter aber hervorragender Werbetexter und Grafiker das Projekt A selbst und suchte dafür Menschen mit einer gesunden finanziellen Basis, nicht unbedingt erklärte Anarchistinnen oder Anarchisten. Das Buch hat weit über die anarchistische Szene hinaus Leserinnen und Leser gefunden. Das Projekt A war also wesentlich mehr als ein Kommune-Projekt.

Diese Trennungen wollten wir mit sogenannten Doppelpro­jekten aufheben. Das bedeutet, wenn wir z.B. eine Kneipe eröffnen, dann wirft sie norma­lerweise Geld ab. Wenn wir einen Buchladen aufmachen oder ein anderes kulturelles Projekt, dann wirft das in der Regel kein Geld ab, sondern es braucht Geld. Also sollte die Kneipe dann dieses soziale, kulturelle Projekt mitfinanzieren. Das war eine Grundidee des Projekt A. Soweit die Theorie!

 

GWR: Die verschiedenen, vernetzten Doppelprojekte sollten auch neue Projekte finanziell mit anstoßen und helfen, sie zu finanzie­ren.

Das Projekt A ist gescheitert. Wo siehst Du die Gründe da­für? Woran ist es gescheitert?

 

Bernd Elsner: Da habe ich die richtige Antwort gar nicht parat. Wenn wir uns umschauen, dann sehen wir ständig, dass Dinge scheitern. Ob das eine Zweierbeziehung ist oder große Unternehmen, die kaputt gehen. Nur wenige Zweierbeziehungen funktionieren über Jahre hinweg. Ich denke, so ähnlich ist es auch mit Projekten, die wir initiieren. Wir Anarchistinnen und Anarchisten sind ja keine besonderen Menschen, sondern einfach nur Menschen, wie sie von der Gesellschaft produziert worden sind. Ich denke, das ist der Grund, warum Projekte scheitern, auch das Projekt A.

 

GWR: Ich habe mich gestern mit An­dreas S. unterhalten. Er war in den 80ern beim Projekt A in Wetzlar dabei und hat erzählt, dass es wie ein Magnet auf „gescheiterte Existenzen“ gewirkt habe. Darin sieht er auch eine Ursache für das Scheitern. Was sagst Du dazu?

 

Bernd Elsner: Ich denke, da misst er dieser Personengruppe zu großen Einfluss bei. Ich würde das nicht so sehen, sondern das Scheitern eher auf andere psychische Probleme und auch auf gesellschaftliche Ursachen zurückführen. Natürlich gibt es immer wieder finanzielle Probleme. Und „gescheiterte Existenzen“ kennt ja jede Kommune und jedes Projekt, das sich irgendwo aufbaut. Aber dem so viel Einfluss zuzubilligen, nein, das würde ich nicht machen.

 

GWR: Denkst Du, dass auch die Ideen, die hinter dem Projekt A stehen, gescheitert sind? Oder lohnt sich ein Neuanfang?

 

Bernd Elsner: Ich denke immer, dass ein Neuanfang sinnvoll ist. Es gibt seit Jahrtausenden Menschen, die anders zusammen leben und ar­beiten wollen. Seit 150 Jahren gibt es Anarchistinnen und Anarchisten, die das machen wollen. Das wird immer wieder passieren.

 

GWR: Es gibt immer noch eine teil­weise auch libertäre Kommune-Bewegung. So heißt es auf der Homepage von Kommuja, einem Netzwerk politischer Kommunen: „Wir wollen ein gleichberechtigtes Miteinander, Machtstrukturen lehnen wir ab. Wir wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und uns vom herrschenden Verrechnungs- und Besitzstandsdenken lösen.“Es gibt auch heute noch selbstver­waltete Kollektivbe­triebe. In den letzten Jahren hat sich aber zum Beispiel die Kommune Laerifari aus Laer aufgelöst und viele Kollek­tivbe­triebe sind verschwunden oder wurden privatisiert. Wo siehst Du Gründe dafür?

 

Bernd Elsner: Einmal die schon beschriebenen unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Leute mit einbringen. Dann habe ich festgestellt, dass die kapitalistische Wirtschaftsform scheinbar auch mir mehr bietet. Ich kann mir also jetzt, wo ich nur noch mit meiner, ich sag ungern „meine Frau“, das klingt so besitzergreifend, dann schon eher meiner Denk-, Kampf- und Lebensgefährtin zusammenlebe, wesentlich mehr Dinge leisten, als früher, als ich in einer Kommune gelebt habe. Wenn ich in einem Kollektivbetrieb gearbeitet habe, dann war immer finanzieller Mangel da gewesen.

Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass viele Kommunarden von zu Hause aus gut ausgestattet waren. Sie haben das aber aufgrund von fehlendem Vertrauen nicht in diese Gütergemeinschaft mit eingebracht. Darin sehe ich ein Problem.

Natürlich gibt es da auch noch andere Sachen, technische Sachen, Steuerberater, Berufsgenossenschaft und solche Dinge, aber das können wir im Prinzip ja irgendwie regeln, indem wir Leute anfragen, mit denen wir das gut auf die Reihe kriegen. Ich denke, das Hauptpro­blem liegt bei uns, durch den Anreiz der kapitalistischen Wirtschaft. Der wirkt immer noch, und da sich Leute mal ein größeres Auto oder einen schönen Fernseher kaufen wollen, oder was immer für Wünsche sie ha­ben, dann denke ich, diese Reize sind da. Das kann die Leute dazu bringen, von der Kommune, vom Kollektivbe­trieb wieder weg zu gehen. Das sehen wir, um wiederum ein Bei­spiel zu nennen, an den sozialistischen Kibbuzim in Israel, die Probleme mit der jüngeren Generation haben, die in die Städte zieht.

 

GWR: Wie siehst Du die aktuelle Situation von Kollektivbetrieben hierzulande?

 

Bernd Elsner: Die Kollektivbetriebe stellen ein gewaltiges Mitglie­derpo­tential dar, z.B. für die FAU, weil: Da sind Leute, die aktiv sind, die sich er­klärtermaßen in einen solchen Betrieb einbringen und dort arbeiten. Das sind Leute, die auch lernen, wie sie einen Betrieb zusammen führen können, die keinen Chef mehr brauchen, sondern alles selbst gemeinsam in die Hand nehmen. Wir haben hier in der Stadt Lam­brecht, bei uns in der Nähe, einen 450jährigen Textilbetrieb. Der sollte vor zehn Jahren geschlossen werden. Und da haben die 50 Arbeiterinnen und Arbeiter einen Aktienbetrieb gegründet und das Ding gekauft. Als Aktienbetrieb führen die das weiter. Ich war da mal bei einer Führung und kenne auch Leute, die dort arbeiten, und ich bin baff. Das sind keine Anarchos, keine Anarchosyndikalisten, sondern Leute, die gesagt haben: „Ne, wir erhalten uns unseren Betrieb, un­sere Arbeitsstätte, wir kaufen das ab“. Solche Versuche gab es in der Bundesrepublik immer wieder. Ich denke, da ist Potential da. Wenn wir mit denen die politischen und wirtschaftlichen Sachen besprechen, da auch ein bisschen Bildungsarbeit leisten, dann haben wir ein Potential, wo sich die FAU mitgliedermäßig verbessern kann. Denn es handelt sich hier ja eindeutig um systemverän­dernde Vorgänge.

 

GWR: Das wäre ja mal was.

 

Bernd Elsner: Ja. Die Leute um die FAU beginnen, in Kollektivbetrieben zu agitieren. Da gibt es Menschen, die wehren sich zusammen mit der FAU, z.B. gegen Dumpinglöhne bei der Heinrich-Böll-Stiftung (siehe Kasten). Da gibt es Ansätze, da sehe ich Potential.

 

GWR: Ich auch. Die FAU hat in den letzten Jahren einiges bewegt, auch im Zusammenhang mit „Strike-Bike“ (die GWR berichtete).6 In Münster haben FAU-Mitglieder den Kollektivbetrieb FairDruckt7 gegründet, der fair gehandelte Öko-T-Shirts produziert. In Hamburg gibt es die Öko-Kaffee-Kooperative Aroma Zapatista8. Beide sind Hoffnungsträger in Bezug auf eine solidarische Ökonomie und eine andere Form zu arbeiten und zu leben.

 

Bernd Elsner: Ein solches Potential sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Wir haben da als kommu­nalpolitische Vereinigung in unserem Tal damals der Belegschaft von Strike-Bike und der Gewerkschaft der Lokomotivführer Solidaritätsadressen geschickt und über sie berichtet.

 

GWR: Du verstehst Dich als Anarchist. Was bedeutet Anarchie für Dich?

 

Bernd Elsner: Erst einmal möchte ich sagen, wie es war, als ich das zum ersten Mal gehört habe. Damals habe ich gedacht, ich bin der einzige Anarchist auf der Welt. Dann habe ich Kontakte gekriegt zu anderen. Was es bedeutet, ist das Ende einer grenzenlosen Macht und einer unersättlichen finanziellen Gier.

Das wird erreicht durch klare Selbstbestimmung, Selbstver­antwortung, Selbstorganisa­tion und Selbstverwaltung in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen.

 

GWR: Welche Perspektiven siehst Du?

 

Bernd Elsner: Das ist schwer zu beantworten. Wenn ich mich umschaue, dann schaue ich als Anarchist ja auch über die Grenzen hinweg. Da sehe ich viele rechtskonser­va­tive, rassistische, nationalistische und faschistische Bewegungen und Strömungen, die sich über­all zu Wort melden und Zuwachs kriegen. Diese Entwicklung sehe ich mit großer Besorgnis. Wenn wir das richtig sehen, dann sind die Anar­chistinnen und Anarchisten eigentlich die einzige konträr gerichtete Bewegung, weil sie keine Hierarchien wollen, keine Führerinnen und Führer, keine Parteien benötigen, weil wir die Macht als gesellschaftsschä­digend sehen und bekämpfen. Und weil wir dem politischen Zentralismus eine klare Absage erteilt haben.

 

GWR: Ein Schlusswort?

 

Bernd Elsner: Gerne. Ich bin überzeugt, dass es nur Sozialismus oder Barbarei geben kann. Und der Sozialismus kann nur frei und damit staats- und in diesem Sinne grenzenlos sein. Im Moment befürchte ich, dass wir immer mehr auf eine Barbarei hinzusteuern. Wenn ich verfolge, was hier passiert, dann sind die „Barbaren“ sogar noch sehr zahme Menschen gewesen. Wenn ¾ der Welt von den sozialen Errungenschaften und der Teilhabe ausgeschlossen sind, dann verliert die Menschheit ein riesiges Potential. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Auch, wenn es utopisch klingt, es gibt für mich keine andere Alternative als die Anarchie, zumindest weiß ich nichts Besseres für uns alle.

 

Interview: Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

 1 Siehe: www.dadaweb.de/wiki/Horst_Stowasser_-_Gedenkseite

 2 „Die Waldenser sind eine protestantische Kirche mit Verbreitung in Italien, Süddeutschland und Südamerika. Ursprünglich als Gemeinschaft religiöser Laien Ende des 12. Jahrhunderts durch den Lyoner Kaufmann Petrus Valdes in Südfrankreich gegründet, wurden die Waldenser während des Mittelalters von der katholischen Kirche ausgeschlossen und als Häretiker durch die Inquisition verfolgt. Ein wichtiges Rückzugsgebiet waren die Waldensertäler in den Westalpen (...). Die Bezeichnung Waldenser wurde (…) oft zum Synonym nicht nur für Häretiker schlech­thin, sondern von ihren Gegnern mit Hexen, Zauberern, Magiern und Astrologen in Teufelsdiens­ten gleichgedeutet.“ (Wikipedia)

 3 „Die Albigenser im Südwesten Frankreichs waren die bekannteste und wichtigste Untergruppe der Katharer, einer religiös-sozialen (Protest-)Bewegung des 12. und 13. Jahrhunderts, die Anhänger in vielen Gegenden Europas hatte. An­fänglich von der Amtskirche weitgehend ignoriert, wurde ab dem Ende des 12. Jahrhunderts der Druck auf die Bewegung immer stärker – ein Druck, der schließlich im Albigenserkreuzzug (1209–1229) und der Einrichtung von Inquisi­tionstribunalen (ab 1233) gipfelte und zum Untergang des Katharerglaubens führte.“ (Wiki­pedia)

 4 „Die Humiliaten (lateinisch: humilis: niedrig, demütig) waren Anhänger einer mittelalterlichen christlichen Armuts- und Bußbewegung in Norditalien.“ (Wikipedia)

5 www.kommuja.de

6 Der Fahrradhersteller Strike-Bike in Nordhausen war zwischenzeitlich selbstverwaltet. Die ArbeiterInnen besetzten nach dem Konkurs des Vorgängerunternehmens der Biria AG, die 2005 von der texanischen Lone Star Investment übernommen worden war, eine Fertigungsanlage und produzierten in eigener Regie. Selbstverwaltet und ohne Chefs wurden bis zum 26. Oktober 2007 „Strike-Bikes“ produziert. Die vorbestellten Fahrräder wurden an die Käuferinnen und Käufer ausgeliefert.

7 www.fairdruckt.de

8 www.aroma-zapatista.de

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 383, November 2013, www.graswurzel.net