„Freiraum“ – auch für Nazis?

Auswirkungen neonazistischer Raumnahme

 

In der Linken gehört der Begriff „Freiraum“ schon lange zum Diskurs; „Freiräume“ werden immer wieder mit Nachdruck gefordert. Der Begriff dürfte tatsächlich für die meisten Menschen etwas Positives bedeuten: ein Raum, in dem vieles möglich ist, der gefüllt werden und in dem man sich entfalten kann. Was aber, wenn auch Nazis „Freiräume“ fordern – oder sie gar schon zur Verfügung haben? Was sind solche Freiräume? Und was bedeuten sie für die Neonazis einerseits, für potenziell von ihnen Betroffene andererseits?

Unter „Raum“ kann sowohl ein geographisch verortbarer Raum als auch ein „Diskursraum“ verstanden werden – also das Feld, das durch einen bestimmten Diskurs definiert wird. Im folgenden soll mit „Raum“ jedoch ein real existierender Ort gemeint sein. Dieser „reale“ Ort wird allerdings immer auch von Diskursen überlagert, ist also nie ausschließlich materiell vorhanden. Kein „Raum“ ist einfach nur da. Er ist Ergebnis kultureller, sozialer und politischer Praxen. Der Sozialgeograph David Harvey macht drei Dimensionen von „Raum“ aus, die in Wechselwirkung zueinander stehen: der absolute, der relative und der relationale Raum. Die absolute Ebene bezeichnet die physische, die „greifbare“ Ebene des Raums. Dazu gehören die Größe des Raums, seine Lage und Beschaffenheit wie auch die Art seiner Begrenzung. Die im Raum anwesenden Personen und ihre Positionierung machen die zweite Ebene aus, die relative. Mit der dritten, der relationalen Ebene ist dann auch noch die Einbeziehung der einzelnen Persönlichkeiten gemeint, ihrer Vorstellungen, Erfahrungen, Eingebundenheiten.

Beispiel Jugendzentrum

Zur absoluten Ebene gehört das Gebäude, in dem sich das Jugendzentrum befindet, die Anzahl und Größe der Räume sowie seine Lage im Ort. Dazu gehört aber auch die Ausstattung, also beispielsweise die Theke, der Billardtisch, die Musikanlage. Die anwesenden Personen bilden die relative Ebene. Wie viele Personen sind da? Sind Sozialarbeiter_innen anwesend? Wie alt sind die Anwesenden? Sind sie in Gruppen da oder alleine? Was tun sie? Hinsichtlich der relationalen Ebene wirkt nun auch die Persönlichkeit der Anwesenden auf den Raum – ihre Hintergründe, Erfahrungen und Einstellungen. In dieser Hinsicht ist auch ihre politische Verortung und Positionierung von Bedeutung. Denn es macht einen Unterschied, ob erkennbare oder bekannte Neonazis darunter sind. Die Persönlichkeiten der Anwesenden prägen einen Raum zwangsläufig. Offensichtliches Beispiel hierfür ist die Musik, die gehört wird. Die Atmosphäre verändert sich. Wer kann in so einem Raum (noch) welche Dinge tun und äußern? Wie sind die Machtverhältnisse? Löst die Anwesenheit von Neonazis Angst oder Beklemmung aus? Verdrängt sie sogar andere Personen?

An diesem Beispiel wird deutlich, wie sich Raumnutzung durch Neonazis auswirken kann. Genauso hat ihre Dominanz oder gar die ausschließliche Nutzung durch sie Konsequenzen.


Eine Frage der Perspektive

Wie ein bestimmter Raum individuell erlebt wird, ist sehr unterschiedlich. Fest steht aber, dass die Einrichtung und die anwesenden Personen eine Wirkung auf das Individuum haben. Der Raum kann Erinnerungen wecken an unangenehme wie angenehme Erfahrungen und entsprechend erlebt werden. Wurden an einem Ort schon nachteilige Erfahrungen gemacht, so kann der Raum noch (für andere nicht wahrnehmbare) „Spuren“ davon enthalten und entsprechende Reaktionen auslösen. Einige Menschen können die Verknüpfungen überwinden und neu in einem Raum ankommen. Anderen ist das nicht möglich, der Raum bleibt unter Umständen von Angst und Bedrohungsgefühlen besetzt.

So beeinflusst auch die Nutzung von Räumen durch Nazis die Wirkung dieser Orte. Jenseits offen einschüchternder oder bedrohlicher Gesten können sie einen Raum prägen. Menschen, die bereits von rechter Bedrohung und Gewalt betroffen waren, nehmen bestimmte Dinge vielleicht stärker wahr als Andere. Für sie können zum Beispiel Aufkleber, Kritzeleien oder Ähnliches eine bestimmte Wirkung entfalten, während andere diese nicht einmal wahrnehmen. Dies gilt auch für Räume, die nur gelegentlich von Nazis besucht werden.

Die Forderung nach eigenen „Räumen“ seitens der Neonazi-Szene ist keine Seltenheit. So plante das Aktionsbüro Mittelrhein im März 2012 einen Aufmarsch mit der Forderung nach dem Aufbau eines „nationalen Jugendzentrums“. Die Schließung des Zentrums in der Rheinischen Straße 135 in Dortmund im selben Zeitraum veranlasste die regionale Szene zu einer Art Kampagne unter dem Motto „R135 bleibt“. Das Freie Netz Hessen tritt seit 2011 mit einem Transparent in Erscheinung, auf dem das Motto „Freiräume erkämpfen“ zu lesen ist.

Freiraum = Freiraum?

Der Anspruch linker und alternativer Freiräume besteht darin, Orte zu schaffen, in denen sich die einzelnen Individuen so frei wie möglich von den Zwängen und Normierungen des Kapitalismus entfalten und verwirklichen können. Diese Räume sollen auch einen Schutzraum gegen rassistische, sexistische, schwulen- und lesbenfeindliche Diskriminierung bieten. Und vor allem: Sie sollen Experimentierfeld sein, um ein anderes Zusammenleben zu erproben. Solche Versuche können scheitern – allein schon deshalb, weil die Nutzer_innen natürlich in die gesamtgesellschaftlichen Strukturen eingebunden bleiben. Ein solcher, Emanzipationsstreben betonender und utopischer Begriff von Freiraum ist jedoch auf rechte Räume nicht übertragbar. Zwar formuliert auch die extreme Rechte verschiedentlich das Ziel, sich gegen staatliche Einflüsse und Eingriffe abgrenzen zu wollen. In eigenen Häusern und Grundstücken oder in solchen, in denen sie die hauptsächlichen und dominanten Nutzer_innen sind, sehen Neonazis ihre „Freiräume“. Die „Entfaltung“ steht jedoch unter dem engen Rahmen der ideologischen Vorgaben und erschöpft sich größtenteils in der Äußerung ansonsten sanktionierter Aussagen und im Zeigen strafbarer Symbole. Dennoch sind auch diese Räume Frei-Räume: Sie sind frei von staatlicher Kontrolle und Sanktionierbarkeit, frei von gesellschaftlicher Intervention, frei von politisch unliebsamen Menschen. Um diese Umstände zu umschreiben, benutzen wir hier den Begriff „Frei-Raum“.

In der medialen, der politischen und der wissenschaftlichen Diskussion um Räume, in denen extrem rechte Gruppen auftreten und agieren, tauchen immer wieder die Begriffe „Angstraum“, „No-Go-Area“ und „National befreite Zone“ auf. Dabei handelt es sich nicht um verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache. Die Schwerpunkte und Perspektiven hinter den Begriffen unterscheiden sich.

„National befreite Zone“

In der öffentlichen Debatte wurde der Begriff „National befreite Zone“ hauptsächlich im Jahr 2000 bemüht, um Orte, in denen Neonazi-Gruppen eine Dominanz im Alltag ausübten oder Gewalttaten begingen, zu kennzeichnen. Der Begriff selbst ist allerdings eine Wortschöpfung der extremen Rechten von Anfang der 1990er Jahre. Er entstand aus Diskussionen innerhalb der Jungen Nationaldemokraten (JN) und des Nationaldemokratischen Hochschulbundes (NHB), die mit dem Konzept der „National befreiten Zone“ ihre Vorstellungen von Orten bezeichneten, an denen sie die Hegemonie innehaben würden. Mit dem Konzept der „National befreiten Zonen“ sollte auf lokaler oder regionaler Ebene eine nationalistische, völkische und rassistisch geprägte Alltagskultur angestrebt und zu einem Gewaltmonopol der extremen Rechten verfestigt werden. Diese einmal etablierten Zonen sollten Keimzellen für einen völkischen Aufstand werden. Obwohl sich die extreme Rechte punktuell noch immer auf den Begriff der „National befreiten Zone“ bezieht, ist eine einheitliche Strategie zur Umsetzung dieses Konzeptes in die Realität nicht zu erkennen. Heute wird der Begriff seitens der extremen Rechten für unterschiedlichste Räume und Aktionen gebraucht. So etwa 2011 in Wuppertal, wo die Nationalen Sozialisten Wuppertal massenhaft Aufkleber mit dem Slogan „National befreite Zone. Wuppertal ist unsere Stadt“ verklebten. Dies sollte Teil einer Strategie zur Erlangung der Vorherrschaft im Wuppertaler Stadtteil Vohwinkel sein, zu der vor allem die Einschüchterung, Bedrohung und gewalttätige Auseinandersetzung mit politischen Gegner_innen gehörte.

„No-Go-Area“

Im Unterschied zur Propagandaformel „National befreite Zone“ richtet der aus dem Militärwesen stammende Begriff der „No-Go-Area“ den Blick auf die Menschen, für die der Aufenthalt in einem Gebiet gefährlich werden kann und die dieses daher meiden. In der medialen Öffentlichkeit tauchte der Begriff vermehrt im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 auf. Der  ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye warnte: „Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen“. Kritisch wurde in den Diskussionen angemerkt, dass die Einteilung von Gebieten in „Go-Area“ und „No-Go-Area“ potenziellen Opfern rechter und rassistischer Gewalt suggeriere, dass es außerhalb von „No-Go-Areas“ zuverlässige Bereiche der Sicherheit gäbe. Zudem würde die Markierung von „No-Go-Areas“ deren öffentlichen Status als Gefahrengebiet erst recht verfestigen und so die rechte Hegemonie möglicherweise ungewollt zu voller Entfaltung bringen.

„Angstraum“

Auch der Begriff „Angstraum“ richtet die Perspektive auf die Betroffenen oder potenziell Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt. Anders jedoch als bei „No-Go-Area“ oder dem polizeilich geprägten Begriff des „Gefahrenortes“ liegt die Deutungsmacht, was ein angstbesetzter Raum ist, bei der betroffenen Person.

Der aus feministischen Debatten der 1980er Jahre stammende Begriff „Angstraum“ basiert auf Erfahrungen von Betroffenen und potenziellen Betroffenen und ihren subjektiven Wahrnehmungen. Über die Kommunikation innerhalb von potenziellen Betroffenengruppen oder auch durch mediale Thematisierung können Angsträume zu kollektiv tradierten Angstzonen werden.

Kampf um Raumhoheit

Entsteht irgendwo ein Raum, der regelmäßig oder auch dauerhaft von Nazis als Frei-Raum genutzt wird, hat dies oft Auswirkungen auf die ganze Gegend. In der Straße verkehren öfter oder regelmäßig Nazis, sie sind präsent, schüchtern gegebenenfalls Menschen ein. Oft geht diese Präsenz einher mit der Zunahme extrem rechter Sprühereien, Plakate oder Sticker. Diese dienen der „Reviermarkierung“, sollen die Dominanz mit herstellen oder stärken. Damit sind sie Teil eines Kampfes um die Raumhoheit.

Der Kampf um Raumhoheit ist zum einen ein Kampf um reale Orte und ihre Nutzung oder Nutzbarkeit, ebenso jedoch auch ein Kampf um den Diskurs darüber. Wird über den von Nazis genutzten Raum gesprochen oder berichtet, wird damit immer auch ein bestimmtes Bild davon gezeichnet und durchzusetzen versucht. Sei es, dass seitens der Nazis versucht wird, einen Erfolg oder ein Zeichen der eigenen Stärke zu vermitteln, sei es, dass sie sich als „unproblematische“, unauffällige Nachbarn präsentieren wollen. Dieser Diskurs kann ähnlich großen Einfluss haben wie die Ereignisse vor Ort selbst. Die mediale Repräsentation hat jedoch auch Auswirkungen auf (potenziell) Betroffene. Der Diskurs kann dazu beitragen, dass dort ein Angstraum entsteht, der einerseits vor realen Gefahren schützen, andererseits aber auch einengend und lähmend wirken kann.

Räume, in denen sich extrem Rechte bewegen können, ohne Repressionen oder gesellschaftliche Sanktionen befürchten zu müssen, haben für die Szene unterschiedlichste Bedeutungen.

Orte wie Kneipen, Säle oder auch Scheunen, die von der extremen Rechten angemietet werden, um dort Veranstaltungen oder Konzerte durchzuführen, stellen zwar nur einen temporär durch Nazis besetzten Raum dar. Dennoch ermöglichen sie es der Szene, sich zu versammeln, soziale Kontakte zu pflegen, sich nach innen selbstzuvergewissern oder auch in einem oftmals halb-öffentlichen Rahmen die eigene Ideologie zu verbreiten. Stellvertretend hierfür kann die Lounge Deluxe in Mettmann stehen, wo mehrfach Veranstaltungen der extremen Rechten stattfanden (s. S. 20ff.)

Im Gegensatz zu Räumen, die unter mehr oder minder großem Aufwand und trotz erkennbarer Schwierigkeiten immer wieder neu gesucht und angemietet werden müssen, bieten eigene Räumlichkeiten wie Ladenlokale oder ganze Häuser – ob gemietet oder gekauft – die Möglichkeit einer kontinuierlichen Nutzung. Ein Beispiel für ein Grundstück, das sich fest in extrem rechten Händen befindet und genutzt wird, ist das Anwesen des Die Rechte-Landesvorsitzenden Klaus Mann im brandenburgischen Finowfurt. Dort wohnt der Neonazi mit seiner Familie, es finden aber auch Rechtsrock-Konzerte und Parteitreffen statt.

Werden Gebäude oder Räume nur gemietet, können sie ebenso einen relativ stabilen Treffpunkt darstellen; eine Kündigung des Vertrags kann die Verlässlichkeit jedoch mehr oder weniger schnell beenden, wie der (mittlerweile verbotene) Nationale Widerstand Dortmund (NWDO) Anfang 2012 erfahren musste. Der Mietvertrag für das Objekt in der Rheinischen Straße, das der dortigen Szene sechs Jahre als Treffpunkt diente, wurde gekündigt. Beendet wurde die Nutzung jedoch erst durch das Verbot des NWDO im August 2012. Das „Nationale Zentrum“ in Dortmund stellte zwischen 2009 und 2012 den Dreh- und Angelpunkt der lokalen Naziszene dar. Es bot die Möglichkeit, wöchentliche Kameradschaftsabende, Vortragsveranstaltungen, Partys und Konzerte durchzuführen. Gleichzeitig betrieb Dennis Giemsch zeitweise von dort aus seinen Internetversandhandel Resistore, der die Szene mit Propagandamaterial belieferte. Räume wie dieser können also auch eine ökonomische Funktion für die extreme Rechte haben.

Von der Stadt aufs Land

Neben dem Strukturaufbau in urbanen Räumen, wo Nazis versuchen, sich mit Kleidungs-, Platten- oder Tattooshops, Zentren und Wohngemeinschaften Strukturen zu schaffen, stellt die völkische Siedlungsbewegung eine weitere Form extrem rechter Raumnahme dar. Zur „Siedlungspolitik“ zählt die Strategie, in ländlich geprägten Regionen gezielt extrem rechte Familien anzusiedeln, um dort eine Art völkische Parallelgesellschaft aufzubauen. In den Landkreis Güstrow beispielsweise zogen in den letzten Jahren rund ein Dutzend „nationaler Familien”, die günstig alte, zum Teil verfallene Höfe erwarben, um sich dort in der Gemeinschaft Gleichgesinnter niederzulassen. In der kleinen Ortschaft Jameln werden inzwischen zwei Drittel der zehn Häuser im Ort von Nazis bewohnt.

Vordergründig zielt dies auf die Schaffung eigener Struktur- und Sozialisationsräume ab. Doch auch wenn die Siedlungsbewegung vor allem auf sich selbst bezogen ist und versucht, einen Ausstieg aus der Gesellschaft zu ermöglichen, entfalten solche Projekte eine nicht zu unterschätzende Außenwirkung. Zu Festen wie Sonnwendfeiern werden Nachbar_innen und Arbeitskolleg_innen eingeladen, nach außen präsentieren sich die Siedler_innen nicht offen als Nazis und können so in Schulen, Kindergärten oder Vereinen das alltägliche Leben mitgestalten, ohne dass schnell starker Protest entsteht. So werden völkische Vorstellungen niedrigschwellig in der Gesellschaft verbreitet.

Nazis den Raum nehmen

Nehmen Nazis Räume für sich in Anspruch, entsteht damit mehr als nur ein isolierter Treffpunkt. Der Raum hat Auswirkungen für die Strukturen der Neonazis wie für das Viertel, in dem er sich befindet. Für (potenziell) Betroffene sind die Konsequenzen ebenfalls deutlich: Sie können sich an diesen Orten nicht mehr frei bewegen. Daher ist es wichtig, den Nazis diese Orte streitig zu machen. Dabei gibt es verschiedenste Ansatzpunkte. Oft reicht schon eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit oder die Weitergabe von Informationen aus, um ihnen angemietete Räumlichkeiten wieder zu nehmen.
 

Der Artikel erschien in Ausgabe #53 der antifaschistischen Zeitschrift LOTTA.