Ortlose Bildung

Welches Wissen hilft beim Ändern?1 Und beim Ändern von Was? Von den Umständen und den Bedingungen, in und unter denen sich eingerichtet, gesucht, gelitten und gestritten wird um das ›gelingende Leben‹? Und das Ändern von sich selbst, einem Selbst, in das sich auch eingerichtet wurde und das sucht und leidet und mit sich selbst streitet um Maßstäbe des ›gelingenden Lebens‹? Und gilt der alte Grundsatz von Marx in der dritten Feuerbachthese, dass es gar nicht anders ginge, als dass man beim Ändern der Umstände sich selbst verändert (MEW 3, 6)? »Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern. Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen«, fasst Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands (Bd. 1, Frankfurt/M 1975, 226) die Einsichten aus den Arbeiterbewegungs- und Antifaschismus-Kämpfen, aus den kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegungsformen zusammen. Kein Paternalismus, keine sozialen Imperative, kein ›du musst‹ wird beim Ändern der Umstände die Wirkungsmacht entwickeln können wie das begründete ›ich will‹.

Wir haben uns aus der religiösen Form, die die Menschen als Mühselige und Beladene aufnahm, befreit. Und sind bei uns angekommen, zwar mit entsetzlichen Einbrüchen, aber doch angekommen – als säkularisierte historische Subjekte, indem wir uns als erniedrigt und beleidigt erkennen können und dies nicht als Schicksal abbilden müssen. Mühe und Last wurden uns auferlegt. Doch können wir, durch Verhältnisse und Menschen zu Erniedrigten und Beleidigten geworden, uns gegen Verhältnisse und Menschen wenden und lernen, ihnen zu widerstehen. Wir können uns, trotz der Schwerkraft der Verhältnisse, über uns selbst aufklären. Kant hatte dies schon 1784 verstanden:

Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen [...], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.« (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? W 11, 53)

Das ›Wissenszeitalter‹, in dem wir uns bewegen, vermittelt sich in veränderten Vernunft-, Mündigkeits- und Hierarchieverhältnissen. Wissen als Inhalt, der mir hilft, einen Willen zu entwickeln, der dieses Wissen zur Selbstbildung verknüpft, der mir Maßstäbe liefert, nach denen ich begründet mein Handeln ausrichte, der mir gesellschaftliche Aufgaben so anmisst, dass ich mich für sie entscheide und für sie mich verantwortlich erkläre, der mit dem gewussten Recht auf Selbstbestimmung verletzlich genug ist, ihr Fehlen als Grund für Widerstand zu sehen – dieses Wissen ist zurückgedrängt zugunsten von abfragbaren Informationen, deren Sammlung mit Zertifikaten belohnt wird. Aber: »Das ›Cogito ergo sum‹ ist immer davon abhängig, wie gedacht wird.« (Schurz 2011) Und das hängt wiederum von der Verfasstheit des Wissens und seiner besonderen Aneignung ab. »Wie ich etwas weiß – das bestimmt auch die Form meines Daseins.« (Ebd.)

Die Frage des Faust, die holistisch gestellt ist: Was nämlich die Welt im Innersten zusammenhält, scheint überflüssig, wenn Information über Alles und Jedes beliebig vorhanden ist. [...] Wir wissen, dass Faust scheitert. Mephisto spielt dabei ein wenig die Rolle des Internets, da er dem, der alles wissen will, ermöglicht, beliebig in Zeit und Raum zu reisen [...]. Faust schafft es trotzdem nicht: Er bleibt in Äußerlichkeiten befangen und am Ende begnügt er sich mit Expertenwissen, mit dem Bau eines Deichs. Er hat gelernt, sich zu bescheiden. Das Netz nun als moderner Mephisto scheint zunächst der Selbstermächtigung des Bildungssubjekts ungeheure Macht zu verleihen; jeder kann alles wissen. (Schurz 2011)

Darin ist viel Demokratie, weil alles Wissen abrufbar ist, jede Minderheit eine Stimme erhält. Ganz anders ist wissenschaftliches Wissen angeordnet: es gibt eine Systematik, der eine Logik zugrunde liegt, eine Hierarchie, die Besonderes und Allgemeines in ein Verhältnis bringt. Der Rabe ist eine Besonderheit der Gattung Vogel, die wiederum ... usw. Eine Schülerin könnte heute ein Referat über den Raben in all seinen Facetten halten, ohne dass begriffen wurde, was die übergeordnete Kategorie ›Vogel‹ auszeichnet.

Die Selbstaufklärungsmöglichkeiten sind auf neue Weise verstellt. Wir werden immer noch vergesellschaftet und also ergreift uns Gesellschaft; aber wir sollen uns selbst anstelle der Gesellschaft ergreifen, sollen uns selbst ändern, anstelle der Bedingungen, die uns hindern, die zu werden, die wir sind. Wir sollen uns engagiert zeigen, ohne uns zu involvieren; das helfe, sich zu trennen: am Ende eines Projekts, am Ende eines Arbeitsaufenthalts, am Ende eines Arbeitsvertrages. Aber der Mangel an Wirklichkeit in diesem Wissen macht die Gesellschaft nicht greifbarer. Niemand und nichts kann für sich selbst gelten und sprechen: Immer müssen die Teilnehmer/innen erst geschult werden, sie müssen einen Lehrgang besuchen, um mitreden zu können. Maßnahmen, Regeln, Mummenschanz bis in die Betten.

Hat der Begriff des Erfolgs alle Lebensdimensionen kolonisiert? Und jenen der Emanzipation abgelöst? Ist der Begriff der Gleichheit – beim Erwerb der Kompetenz, sich zu unterscheiden und andere auf Abstand zu halten – stimmlos? Sind die Zeiten, in denen »ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen war« (Brecht, An die Nachgeborenen), abgelöst durch die Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume (jenseits der Berufe Gärtner/in und Landschaftspfleger/in) abseitig und allein als ein Gespräch über die von ihnen gelieferten konsumierbaren Waren erträglich ist? Eine Studentin möchte untersuchen, ob in jugendlicher Gewalt eine Anerkennungsproblematik steckt, ob Gewaltausübung nicht auch eine Form von Anerkennung sei. Ich sträube mich, erschrecke, ich wehre mich innerlich. Aber: Nur wer überhaupt noch gesehen wird, ist als eine Besondere/ein Besonderer da, ist präsent. Wann kommt der Zeitpunkt, dass den Töchtern, die nicht missbraucht wurden, dämmert, dass ihr Trauma die Hässlichkeit ist? Im Nicht-Gesehen-Werden steckt der soziale Tod. Die Formen des Gesehen-Werdens aber sind radikal fremdbestimmmt.

Was war mit ›Bildung‹ mal gemeint? Das Begreifen der eigenen Lage, so dass die eigene Natur als Geschichte sichtbar wird und mich mit den anderen verbindet – so wie Kant es uns aufgab, daran und nur daran unser Menschsein zu erfassen, indem wir aus der Unmittelbarkeit ausbrechen können, über uns hinaus im Anderen uns selbst sehen, erkennen, verändern. Die gelegten Spuren der Vorherigen zu erkennen und selbst Spuren zu legen. Sich als Ursache von Folgen zu fassen und darunter zu leiden, wenn es nicht gelingt, nicht vorgesehen ist. So war das mal gedacht: republikanisch als Auftrag an alle und nicht an die Eliten oder die Herrschenden. Jetzt werden wir getrieben, um die Sonnenplätze zu konkurrieren und uns zu besondern. Dass wir so den Sonnenplatz gestalten, ist unwahrscheinlich.

Marx wendete das kantsche Sittengesetz in den praktischen Vollzug der Kritik als Kampf gegen das Unsittliche, das in der Knechtschaft, der Erniedrigung, der Einsamkeit, der Verachtung liegt: »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. [...] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385).

Wir werden zurückgeworfen ins Zeitalter des Betens und Hoffens, einer passiven Reflexivität: dass der Krieg in jenem Teil der Welt nicht stattfinden, das Land X das Land Y nicht angreifen, der intransparente ›Euroschirm‹ halten möge, und zugleich zu ahnen, dass er das Elend in den Ländern nur für die Banken abhält, für diejenigen, die mit Fleisch und Blut, Hirn und Gefühl überleben müssen, vergrößert. Würden wir uns zwingen, das zu begreifen, was wir täglich lesen an politischen Erklärungen, wir müssten irr werden; wie damals in den 1970er Jahren, als wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass eine neue Bombe erfunden war, die die Gebäude und Panzer schützt und nur menschliches Leben vernichtet. Der ›Euroschirm‹ rettet die Institutionen und vergrößert das Massenelend: die Logik ist wiedererkennbar.

Die Renaissance-Ausstellung in Berlin zog so viele Menschen an wie lange keine Ausstellung mehr. Menschen wurden dort gezeigt. Menschen, wie sie zum ersten Mal von Menschen gesehen worden waren – ganz nah und ganz in ihre Lebenstätigkeiten verstrickt, die in ihren Gesichtern, im Faltenwurf eines Mantels, in der Haltung der Hände erkennbar waren. Menschen blickten offenbar auf Menschen und erkannten sich selbst: das also war schon mal gedacht, dieses Ernstnehmem, dieses Sich-Erkennen, diese Verstricktheit mit der Umwelt. In den Feuilletons war zu lesen, dass die »Kunstbegeisterung« kaum nachvollziehbar sei, die Schönheit der Gemälde aber auch verstehbar mache, dass so viele gekommen sind. Es soll die Kunst gewesen sein und nicht die zu sehende mögliche Wirklichkeit. Vielleicht blickten viele auf eine Vergangenheit und wünschten sich, als Menschen wieder so im Zentrum zu sein, wie es in der Menschenmalerei begonnen hatte und mit der Aufklärung weiterging.

 

Nicht-Ort von Bildung: die Universität

Es hat nie einen geschützten, idealen Raum des Lernens gegeben. Er musste immer gegen die objektiven Bedingungen hergestellt und verteidigt werden. Die Universität war in ihren besten Zeiten solch ein Raum, indem dort die ›objektiven Bedingungen‹ theoretisch bearbeitet wurden. Der Humboldt’sche Bildungsbegriff, von dem Heydorn (Werke 3, 104f) kritisch schrieb, er solle den Menschen eine »Fluchtburg« sichern, ein »Schlupfwinkel des Geistes« sein, wurde – kritisch theoretisch – transformiert in einen, der es erlaubte, die gesellschaftliche Verfasstheit der Bildung, des Subjekts und der Bedingungen selbst mit zu reflektieren. Das Selbstverständliche zu ent-selbstverständlichen und zugleich handlungsfähig zu bleiben, kann als Logik dieser Wissensproduktionen zugrunde gelegt werden.

Die Differenz des Zwecks der Bildung zu den Zwecken der Bedingungen von Bildung veränderte sich dauerhaft. Dem Zeittakt des Fordismus – der sich u.a. an Fließbändern realisierte – wurde die Muße des Studierens entgegengesetzt und verteidigt. Sie schlug sich – ab den späten 1960er Jahren in der westlichen Welt – in einem langen Studium nieder, aber auch in einem, das in der Lebenshierarchie an erster Stelle stand und auf die Intensivierung und Kollektivierung von Lernbedingungen ausgerichtet war. Dass die damaligen Wohngemeinschaften heute hauptsächlich unter der ihnen unterstellten ›sexuellen Freizügigkeit‹ medial erinnert werden, ist selbst schon vergessende Entfremdung, weil sie unterschlägt, dass in diesen Wohngemeinschaften zusammen gearbeitet, publiziert und Theater gespielt wurde, aus ihnen Projekte und Zeitschriften entstanden. Und immer wieder Gruppen, die sich den ›bürgerlichen Bedingungen‹ der Universität kritisch widersetzten – marxistisch wie spontaneistisch, feministisch und ökologisch. Für Frauen waren diese Wohn-Lebensgemeinschaften die nachdrückliche Erfahrung, nie wieder ohne ein ›eigenes Zimmer‹ leben zu wollen, so vertraut wurde ihnen der eigene Raum, den sie für sich beanspruchten. Sie machten sich einen Namen, der zu ihnen gehörte, indem andere sie durch ihn erkannten. Es sind diese Wohngemeinschaftsfrauen, die das Gesetz mit anschoben, diesen Namen auch bei einer Eheschließung behalten zu können; mit diesem Namen waren sie aufgefallen, hatten einen Ruf erworben, ihn unter Flugblätter, auf Referate gesetzt. Sie waren mit ihm an- und aufgerufen worden, er war Teil ihrer Geschichte und also machten sie Geschichte.

Bildung war, wie Heydorn es formulierte, »Selbstverständigung über die gegenwärtige Möglichkeit« (Werke 4, 127). Bildung kann als Prozess der »Vermittlung oder als Austragungsort der verschiedenen gesellschaftlichen Spannungs- und Widerspruchsverhältnisse gedeutet werden« (Bünger 2009, 179). Die Allgemeinbildung zielt also auf ein Allgemeines, auch Gemeinwesenhaftes, Verallgemeinerungsfähiges, nicht sofort zu Vernutzendes. Die Industriegesellschaften haben das Versprechen hervorgebracht, dass zweckfreie Bildung und gesellschaftlicher Status zusammenhängen. Insbesondere in Frankreich, wo Widerstände von Schülern/innen- und Studierendengruppen immer wieder aufflammen, zeigt sich, dass dieses Versprechen ernst genommen und seinem Unterlaufen mit Zorn begegnet wird. In Deutschland ist der ›Abbau‹ der historischen Mittelklasse leiser und vor allem widerstandsloser vor sich gegangen. Der Umbau der Universitäten z.B. hat nur kurzatmige Widerstände erzeugt. Der Neoliberalismus zersetzt nicht nur die wirtschaftliche Situation der Mittelklassen – es ist tatsächlich von einer Prekarisierung zu sprechen –, sondern zerschlägt auch ihr Wertgefüge, in dem die Bildung eine entscheidende Relevanz besaß. Bildung wird mittlerweile ganz allgemein als ein ›Mittel zum Zweck‹ einer verbesserten individuellen ökonomischen Integration gehandelt. Eine Ware. Der Selbstzweck ist ausgelöscht und mehr oder minder zum Vergessen gebracht. Die »alten Bildungswerte sind dysfunktional geworden, erweisen sich als hinderlich für die Produktivität des Individuums, lassen seine volle Rentabilität unausgenutzt« (Heydorn, Werke 4, 99). Die Bildungsbedingungen reduzieren sich auf die Bereitstellung von Räumen, Bestuhlung und Betreuungsverhältnis. Damit geht einher, dass das Prinzip, nach dem die Profitbedürfnisse des Kapitalismus bestimmen, wer und wie viele einer Generation als ›begabt‹ gelten, jetzt langsam auch greift. Im Jahre 1850 war undenkbar, dass ein Arbeiter eine ›Begabung‹ für den Ingenieurberuf haben könnte; 1871 wurde eine neue Mittelschule eingerichtet, die eben dies aufgrund neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse ermöglichen sollte. So gilt auch heute, dass die nachwachsenden Generationen ›begabter‹ sind, als sie noch gestern sein durften.

Jetzt hat die Bildungspolitik die Aufgabe, europäisch vergleichbare Verhaltensweisen zu entwickeln – ein später Sieg des Behaviorismus in Europa. Bildung kommt wesentlich ein integratives Moment zu, das vergleichbare Konsumbedürfnisse und produktionskonforme Arbeitseinstellungen, die bereits während der Schulzeit eingeübt werden sollen, umfasst. Eigeninitiative, Kreativität, Flexibilität als Einstellung auf wechselndes (Arbeits-)›Material‹ und wechselnde Situationen/Bedingungen sollen früh entfaltet werden; Formen von Kooperation werden als ›teamwork‹ und in Projektgruppen geübt. Der Verbund von Bildung und Produktionserziehung – von Marx als polytechnische Anstalten einst im Kapital hoffnungsvoll analysiert (MEW 23, 512) – unterliegt den Arbeitsmarktbedürfnissen der neoliberalen Gesellschaft und wird so in seinen Potenzialen paralysiert. Die Normierung der (Aus-)Bildungsmaßstäbe – unter Zuhilfenahme zahlreicher Testverfahren – kann so auf Dauer gestellt und umwegloser an die geänderten Rahmenbedingungen angepasst werden. Es gibt eine Art Kurzschluss, der die Kindheit schon an die Funktionalität der gesellschaftlichen Aufgaben anschließt, während das Kind noch kein Bewusstsein von sich hat und doch den Erziehungsprozessen bereits unterliegt, die es zur Affirmation dieses Anschlusses vorbereiten. Die »Verplanung« der nächsten Generation ist engmaschiger geworden.

Sieht man sich die Expertise Bildung neu denken! an, die 2003 von der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) herausgegeben und von dem Pädagogikprofessor Dieter Lenzen, dem ehemaligen Präsidenten der Exzellenzuniversität FU Berlin und jetzigen Präsidenten der Hamburger Universität redigiert wurde, dann wird deutlich, dass es nicht um den Streit über Schultypen, nationale Bildungsstandards oder ähnliches geht, sondern um eine umfassende Systemrevision.

So sollen etwa der Zeitpunkt der Einschulung (mit 4 Jahren), die Verkürzung der Bildungspflicht (auf 10 Jahre) und einer Ausbildungspflicht (auf 3 Jahre), die Einführung eines sozialen Pflichtjahres für alle, die Umstellung von Schulen auf Ganztagsbetrieb, die Verkürzung der Schulferien (Schulurlaub) und die Einphasigkeit aller akademischen Ausbildungsgänge gesetzlich geregelt werden. Zusammen mit zusätzlichen Pflichtinstrumenten zur Beratung, Diagnose, Lenkung und Kontrolle von Lernbiographien ergibt sich ein bisher unbekanntes Netz von Zugriffsformen auf die Individuen. Statt von Verfrühung, Verdichtung, Verstetigung des Lernens ließe sich ebenso gut von Integration, Verwertung und Gleichschaltung sprechen. (Pongratz 2009, 110)

Explizites Ziel ist »eine konsequente Arbeits- und Berufsorientierung des Lernens« (vbw 2003, Bd. 1, 27). Hinzu kommt, dass das Konzept der Allgemeinbildung ersatzlos gestrichen und durch »wissensbasierte, kompetenzorientierte und wertverpflichtende Lebenslaufqualifikationen« (175) ersetzt wird. Der ›Lebenslauf‹ findet im Leben statt, im Umfeld, im Milieu und ist der Herkunft ausgeliefert. Die dazugehörigen Qualifikationen haben keinen Ort mehr. Bildung wird an das ›Leben‹ verwiesen. Und zugleich sollen Leben und Lernen in der Kategorie ›Lernbiographie‹ ohne Unterschied miteinander verschmolzen werden. Was für die schulischen Bildungseinrichtungen gilt, hat längst auch auf die Universität übergegriffen, die mittlerweile die durch solche Schulbildung gegangenen Studierenden vor sich hat:

Diese Universitäten haben sich, als Produktionsstätten von Wissenden und Wissen für entfremdete, undurchschaubare Zwecke, von der Idee der Universität verabschiedet. Die aufklärende Vernunft verfällt dem neoliberalen Spott. Die neoliberale Universität ist kein Ort der Bildung, sondern der Anpassung: der Produktion des gesellschaftlich irrationalen, fachwissenschaftlich rationalen ›autoritären Charakters‹. Die Humanität ist aus dieser Institution verbannt. Das zeigt sich an einer Reihe zentraler Erscheinungen in den Sozialwissenschaften, in denen sich der gesellschaftliche Irrationalismus des Neoliberalismus besonders auswirken muss. Klassische, der Aufklärung verpflichtete Gesellschaftstheorien sind aus dem Studienplan – nun meist schulisch »Stundenplan« genannt – verbannt: Theorien von Hobbes bis Smith, von Hegel bis Marx und bis zur Kritischen Theorie; kommen diese Theorien in den Stundenplänen doch noch peripher vor, müssen sie auf eine Weise gelehrt werden, die ihrem Geist entgegengesetzt ist – eine aufklärerische Theorie wie etwa die Kants auswendig zu lernen und in einem Multiple-Choice-Test abzuprüfen, verwandelt die Theorie in ihr absolutes Gegenteil. Darum hatte Fichte einst den sokratischen Dialog, die aufklärende Frage und eben nicht die quicke Beantwortung vorgegebener Fragen, als Methode des akademischen Unterrichts bezeichnet. Das gedankenlose Beantworten entspricht dem Reiz-Reaktions-Schema von Quiz-Shows, nicht einem akademischen Studium, das seinen Ort in der Einheit von Forschung und Lehre, von Lehren und Lernen hat: das auf Selbstdenken gerichtet ist. (Stapelfeldt 2009)

Den Studierenden den Gegensatz von Bildung und Lebensbedingungen erfahrbar zu machen und zugleich Ressourcen zu vermitteln, die sie diesen Gegensatz bearbeiten lassen, war ein Ziel der Reformuniversitäten, wie sie in den 1970er Jahren installiert wurden und deren Kritikformen auf alle Universitäten ausstrahlten. Die Konflikte, die daraus resultierten, formulierte Adorno, indem er deren Prinzip entfaltete: Auf der einen Seite gibt es die Ausbildung zu einem Berufsmenschen, auf der anderen wird ein kritisches Philosophieren, Soziologisieren der Verhältnisse entfaltet: eine Art »intellektuelle Schizophrenie«, deren Installierung die Aufgabe von Seminaren war. Stapelfeldt führt nachdrücklich vor, wie weit sich die heutigen Lernbedingungen davon entfernt haben.

 

Illusionierung und Ideologisierung

Wir Lehrende sind Angestellte einer Illusionsindustrie geworden, in der die meisten gerade lernen, mit Begeisterung mitzuspielen: wir sollen die Bildungsaspiranten illusionieren, auf dass Bildung nur eine Beschäftigung auf Zeit sei. Wir helfen, dass Bildungsprozesse bloße Zeitvernichtungsmaschinen sind, die am Ende Menschen mit Zertifikaten ausspuckt. Wir werden Repräsentanten/innen des egoistischen Interesses der Universität, die ihren Aufklärungsauftrag ins Unernste verdunkelt. Wir sollen andere beschäftigen, damit sie das Geschäft im Beschäftigt-Sein ergreifen und betreiben. Die Universität wird eine Einrichtung der Gegenaufklärung, und es sieht so aus, als würde dieser Umbau gelingen.

Ein Menschenbild verändern ist etwas anderes, als es aufzugeben. Das scheint mir der entscheidende Punkt, der Bruch – der nichts zum Reifen bringt, was wir noch mit einer aufgeklärten, sich aufklärenden Menschheit verbinden können. Die Entfesselung der Produktivkräfte – wie Marx das im Kommunistischen Manifest nannte –, die immer schon Menschen aus allem Gewohnten gerissen hat und »alles Ständische und Stehende« zum Verdampfen brachte (MEW 4, 465), fesselte Arbeitende immer auch auf neue Weise an ihre Verhältnisse. Bis zum Ende des Fordismus war es die Kraft der Verallgemeinerung der Arbeit in der Lohnform. Dies ermöglichte einen Sozialstaat, starke Interessenvertretungen und bestimmte die Wirksamkeit der Gewerkschaftskämpfe. Die entfesselten Produktivkräfte wurden durch Menschengruppen eingehegt: Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien. Niemals konnte von der Anonymität von Märkten Einhegung und bewusste Formung erwartet werden.

Das ließe sich aus der Geschichte lernen. André Gorz schrieb Anfang der 1980er Jahre Abschied vom Proletariat. Es wurde überwiegend als ›Abschied von der Arbeitsgesellschaft‹ rezipiert. Heute wissen wir, dass nicht die gesellschaftlich notwendige Arbeit für alle weniger wird. Sondern dass wir uns von der Lohnarbeit, wie wir sie kannten, entfernen und verabschieden. Dass im 21. Jahrhundert ein sozialdemokratischer Satz lauten kann: wer 40 Stunden arbeitet, muss auch davon leben können, ist angesichts des angehäuften gesellschaftlichen Reichtums empörend und zugleich zukunftsweisend: auf dem Niveau kann also das Erworbene zukünftig bestenfalls erhalten werden. Was ist der schlechteste Fall?

Wenn die Aufteilung in Erste, Zweite und Dritte Welt, wie sie vor dem Mauerfall geradezu als Raumaufteilung gelehrt wurde, wegfällt, also auch all diese Grenzen, kann dies nicht die Verallgemeinerung der Ersten Welt auf alle anderen Welten bedeuten. Wir wissen, dass allein der Versuch suizidal ist. Den Umbau der Bildungsorte – an denen der Mensch sein Menschsein begreift und erfährt – mit diesem Suizidversuch engzuführen, erbringt schon ein Ergebnis: Wenn Wissen wieder zu dem Wissen der Eingeweihten wird, die heute Eliten heißen, dann gerinnt die Arbeit am Suizid zu ›Herrschaftswissen‹.

Und private Hochschulen, Exzellenzuniversitäten, die mit dem Verfall der öffentlichen Schulen aufblühen werden, schließen nicht nur die Mehrheit der Bürger von der Bildung aus, sie können die geforderte und notwendige Breite der Forschung nicht leisten, sie garantieren lediglich einen Fortbestand der Eliten. (Hein 2012)

Studierende in einem Seminar von mir können sich von Max Webers Protestantischer Ethik angegriffen fühlen; sie krallen sich an alles, was sie an den Verhältnissen festhält, selbst wenn es eine Religion ist, die sie nicht mehr aktiv betreiben, denn es gibt keine Orte für den freien – sich nicht klammernden – Gedanken, für die intellektuelle Verunsicherung. An der Kölner Universität lässt eine Gastprofessorin 97 Prozent der 400 Studierenden der Mathematik in der Lehrer/innenausbildung durchfallen. Die Fakultät ist schockiert, da die bisherigen Durchfallquoten bei maximal 33 Prozent lagen. Ausnahmsweise wird eine zweite Klausur von einer anderen Lehrperson abgehalten. Dieses Mal fallen zwei Drittel der Studierenden durch die Prüfung. Die Universität erwägt eine weitere Klausur, und noch eine und noch eine, möchte ich ergänzen. Die Wissens-Wirklichkeit der Schulabgänger/innen kann auch mit Prüfungen illusioniert werden. Was wäre das für eine Erkenntnis der Studierenden, wenn sie begreifen dürften und müssten, dass ihnen die Voraussetzungen für einen Studienbeginn schulisch nicht gegeben worden sind.

Ich sitze vor meinem obersten Dienstherrn und höre, dass ich mich unmäßig verhalten habe jenen gegenüber, denen ich in der Pflicht bin, dass sie Maße finden für ihre wissenschaftliche Arbeit, für das Arbeiten selbst. Kritik hatte ich geübt und sie bloßgestellt, indem ich ihnen sagte, dass sie etwas nicht getan hatten: einen Text gelesen, einen Zusammenhang verstanden. Ich wurde von meinem Dienstherrn mit der Macht ausgestattet, andere kenntlich zu machen. Nachdem diese Macht installiert war, wurde sie mir offiziell wieder entzogen: Kritik traumatisiere Studierende, verängstige sie und trage nicht zur Außendarstellung der Universität bei. Das sind die Axthiebe, die dem ersten Prinzip der Aufklärung, »sich des eigenen Verstandes zu bedienen«, an die Wurzel gehen.

Wir werden zu Illusions-Arbeitern/innen an diesem Ort gemacht von Menschen, die sich selbst illusionieren; andere illusionieren sich über ihre Fähigkeiten, und innerhalb des Gefüges Universität illusionieren wir uns gegenseitig die Bedingungen, unter denen wir lehren und lernen und so dafür sorgen, dass alles seinen Gang geht und voran kommt. Damit dieser Zusammenhang aufrechterhalten bleiben kann, werden die Universitäten dafür bezahlt, dass die Zahlen (der Prüfungen und Abschlüsse) hoch sind und die ›Bildungszeit‹ kurz. Die Dinge existieren in der Verfassung, dass unentwegt die Frage virulent ist: wie könnte man die Sache verbessern, ohne etwas zu ändern? Was fehlt und ist doch möglich?

»man müsste beispiele schönen verhaltens der leute und völker geben, ein mut zum anderssein sollte sichtbar werden.« (Braun 2009, 667) Wir könnten hier und jetzt damit anfangen, Beispiele nicht für die gelingenden Herrschaftslogiken zu finden, sondern von den im Stillen existierenden Alternativen zu berichten: der andere Konsum, die andere Lebensweise, das Anderssein überhaupt lebbar zu machen, die Entstigmatisierungen, die Infragestellungen, die alltäglichen Siege und Niederlagen beim Versuch, ein ›gelingendes Leben‹ herzustellen. Es gibt viel zu lernen.

 

Literatur

Braun, Volker, Werktage 1. Arbeitsbuch 1977-1989, Frankfurt/M 2009

Bünger, Carsten u.a. (Hg.), Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie, Paderborn 2009

Bünger, Carsten, »Emanzipation im Widerspruch. Notizen zur Dialektik von Verstrickung und Überschreitung«, in: ders. u.a. 2009, 171-192

Hein, Christoph, »So kommt kein neuer Leibniz! Und der nächste Bill Gates auch nicht: Mit dem Spardiktat ruinieren wir unsere Wissenschaft«, in: Die Zeit, Nr. 16, 12.04.2012, 1-3

Heydorn, Hans-Joachim, Werke 3, hgg. v. Irmgard Heydorn u.a., Wetzlar 2004

ders., Werke 4, hgg. v. Irmgard Heydorn u.a., Wetzlar 2004

Pongratz, Ludwig, »Heydorn reloaded – Einsprüche gegen die Bildungsreform«, in: Bünger u.a. 2009, 99-120

Schurz, Robert, »Vom Verlust der Übersicht. Die Bildung aus dem Internet verändert die Weltsicht«, 2011 (www)

Stapelfeldt, Gerhard, »Kritik der neoliberalen Zerstörung der Universität!«, 2009 (www)

Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) (Hg.), Bildung neu denken! Bd. 1: Das Zukunftsprojekt, Wiesbaden 2003

 

1 Leicht gekürzte und bearbeitete Fassung meines Vortrags vom 24.4.2012 in der Vortragsreihe des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammer Tirol: »Unternehmerisch und erschöpft? Anforderungen und Auswirkungen von Arbeit und Lebensgestaltung«. – Für ermutigende Kritik danke ich Martina Stenico.

© DAS ARGUMENT 302/2013, S. 357- 365