Die Siebziger vor Gericht

Der aktuelle RZ-Prozess ist nicht nur juristisch spannend und umstritten

Seit September letzten Jahres läuft in Frankfurt/Main einer der wohl letzten Prozesse gegen die Revolutionären Zellen (RZ). Angeklagt ist das Paar Christian Gauger und Sonja Suder. Die beiden betagten Angeklagten – Suder ist mit 80 Jahren die älteste Untersuchungsgefangene Hessens – sollen in den siebziger Jahren an Anschlägen der RZ gegen Atomfirmen mit Sachschäden beteiligt gewesen sein.Zudem wirft die Staatsanwaltschaft Suder die logistische Unterstützung, und somit möglicherweise Mittäterschaft, des Attentats auf die OPEC-Konferenz 1975 mit drei Toten vor. Die gesamten Umstände der bisherigen Verhandlung lassen Beobachter*innen stark das Klima der späten siebziger Jahre spüren. So ist die Anklage offensichtlich politisch gefärbt, ebenso wie die offensiv geführte Verteidigung und Unterstützung für die Angeklagten.
Spürbar ist das politisch aufgeladene Klima z.B. dahin gehend, dass die Richterin Stock bisher sämtliche Anträge der Verteidigung abgelehnt hat. Die Anklage berührt in ihrer Gesamtheit gleich mehrere juristisch und ethisch nicht unbedenkliche Fragestellungen. So stützt sich die Anklage im Kern ausschließlich auf die Aussagen zweier sehr umstrittener Belastungszeugen, auf einen für in Deutschland verübte Brand- und Sprengstoffanschläge im RZ-Komplex, und auf einen anderen für die OPEC-Geiselnahme in Wien.

Zeugenaussagen um jeden Preis?
Bei ersterem Belastungszeugen handelt es sich um Hermann Feiling, welcher 1978 als mutmaßliches RZ-Mitglied versuchte, mittels einer Bombe im menschenleeren argentinischen Konsulat in München gegen die Unterstützung der in Argentinien herrschenden Diktatur zu protestieren. Die Bombe explodierte vorzeitig auf seinem Schoß und er verlor beide Beine sowie sein Augenlicht. Keine 24 Stunden nach seiner lebensrettenden Notoperation wurde Feiling bereits von Polizei und Staatsanwaltschaft in seinem Krankenzimmer „verhört“. Der den Ermittlungsbeamt*innen völlig ausgelieferte Feiling wurde von Freund*innen und sogar von Anwält*innen isoliert. Seine Rechte wurden ihm „aus Zeitgründen“ nicht verlesen. Monate verbrachte er ohne Haftbefehl in einer Polizeikaserne in Münster.[1] In der aufgeheizten Stimmung der Terroristenjagd kam Feiling offensichtlich gerade recht. Es wurde noch im Krankenhaus mit der Protokollierung von über 1000 Seiten Gesprächen mit dem unter dem Einfluss starker opiathaltiger Schmerzmittel stehenden Feiling begonnen. Diese Protokolle bilden die Basis für die heutigen Ermittlungen u.a gegen Gauger und Suder.[2]
Gauger und Suder nutzten damals eine Chance zur Flucht und lebten seitdem in Frankreich. Nach Feilings „Entlassung“ aus dem Krankenhaus in die Polizeikaserne in Münster versuchte sein Rechtsanwalt Beier vergeblich, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Diesen Kontakt zu seinem Mandanten musste Beier sich erst vor dem Verwaltungsgericht erklagen. Bis zu diesem Zeitpunkt befand sich Feiling nach eigener Aussage „voll unter deren Fittiche“ und war den ermittelnden Beamt*innen völlig ausgeliefert. Er konnte die ihn umgebenden Personen nicht zuordnen und hatte keinerlei räumliches Vorstellungsvermögen, da sich seine Bewegungsfreiheit auf sein Bett beschränkte und er aufgrund des Verlustes seines Augenlichts stark in seiner Wahrnehmung eingeschränkt war. Feiling widerrief seine „Aussagen“ später, die entsprechenden Protokolle waren für ihn als Blinden auch kaum zu kontrollieren.

Menschenunwürdige Behandlung damals – und heute?
Eine Kernfrage des aktuellen Prozesses in Frankfurt ist, ob eben diese Aussagen verwertbar sind oder im Grunde als unter folterähnlichen Verhältnissen zustande gekommen gelten müssen. Der Staat hatte diese Situation nicht herbeigeführt, gibt ihm dies jedoch das Recht, sie so auszunutzen? Es ist anzunehmen, dass Feiling aufgrund der Explosion in einem körperlich und psychisch derart geschwächten Zustand war, dass er nicht hätte vernommen werden dürfen. Inwieweit sind die Aussagen des isolierten, möglicherweise auch traumatisierten Feiling – auch hinsichtlich seiner fehlenden visuellen Überprüfungsmöglichkeiten – verwertbar?
Ein Gutachten zu dieser Frage, was den aktuellen Stand der Traumaforschung widerspiegeln würde, wurde von der Vorsitzenden Richterin Stock im Frankfurter Prozess abgelehnt. Sie möchte weiterhin die Gutachten aus dem Verfahren gegen Feiling von 1980 nutzen. Die Verteidigung kritisierte hierbei nicht zu Unrecht, dass bei anderen Fragen der Beweisfindung niemand auf die Idee käme, auf dem Stand der achtziger Jahre zu argumentieren. Letztlich geht es darum, ob Feiling ausreichend über seinen eigenen Willen verfügte, um belastende Aussagen zu machen oder ob seine Willens- und Entscheidungsfähigkeit durch seine körperliche und seelische Verfassung so stark eingeschränkt war, dass ihm jede Möglichkeit der freien Entscheidung über seinen Willen fehlte. Diese freie Entscheidung und die damit verbundene Willensfähigkeit zur Entscheidung für oder gegen eine Aussage ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Strafprozessordnung. Alle Versuche der Verteidigung, die mögliche vergangene wie auch aktuelle Traumatisierung Feilings und seine eingeschränkte Willensfähigkeit geltend zu machen, scheiterten jedoch. Absurd wurde die Diskussion, als das Gericht vorschlug, man könne Feiling ja per Videoschaltung aussagen lassen. Dies sei möglicherweise weniger traumatisierend. Hier wird offensichtlich, dass das Gericht sich mit einer möglichen gegenwärtigen Traumatisierung beschäftigt, es aber um keinen Preis die damaligen Aussagen in Frage stellen möchte – sind sie doch die einzigen Beweise gegen Gauger im RZ-Komplex.

Aussagen um keinen Preis!
Schließlich wurde die damalige Lebensgefährtin von Feiling, Sibyle S., als Zeugin im Frankfurter Prozess geladen. Sie war 1980 auf Grund der Aussageprotokolle ihres Lebensgefährten zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Was genau sie im RZ-Prozess eigentlich beitragen sollte, blieb unklar. Ihr Rechtsbeistand beanspruchte für sie jedenfalls ein Aussageverweigerungsrecht mit einer interessanten Argumentation: Sollte sich herausstellen, dass die Aussagen Feilings nicht verwertet werden dürfen, dann habe Sybille S. einen Anspruch auf eine Wiederaufnahme ihres damaligen Verfahrens, da dieses ebenso ausschließlich auf diesen Angaben basiert habe. Sollte dies nicht der Fall sein, sei ihre Aussage überflüssig und nicht weiterführend. Dies wurde vom Gericht abgelehnt, woraufhin die Zeugin überraschend auch ohne rechtlichen Anspruch ihre Aussage verweigerte. Hierbei ließ sie sich auch nicht von Ordnungsgeld oder der Androhung von Beugehaft abbringen. Laut ihrer Aussage habe sie diesem Gericht nichts zu sagen, solange mit Hermann Feiling so umgegangen werde. Die anwesenden Unterstützer*innen der Angeklagten freuten sich hörbar über diese Entscheidung. Weiter kam der Prozess zum Komplex RZ noch nicht, wenn man das Verlesen nicht weiterführender Zeugenaussagen aus den siebziger Jahren außer Betracht lässt.

Geschichte bezeugen – aber welche?
Zum Entstehungszeitpunkt dieses Artikels wird der Kronzeuge Hans Joachim Klein vernommen. Dieser war am OPEC-Anschlag, für den auch Suder angeklagt ist, beteiligt. Er wurde 1998 im Untergrund festgenommen. Zuvor hatte er bereits Ende der siebziger Jahre medienwirksam seinen Ausstieg aus der militanten Szene verkündet. In seinem eigenen Verfahren fand gerade noch rechtzeitig die Kronzeugenregelung in der alten Form ihre Anwendung. Dies bedeutete, dass er zu „nur“ 9 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt und nach der Hälfte der Zeit begnadigt wurde. In diesem Prozess stufte das damalige Landgericht Frankfurt seine belastenden Aussagen zum Nachteil des Mitangeklagten Rudolf Schindler als unglaubwürdig beziehungsweise nicht mehr vollständig ein und sprach diesen folgerichtig frei. Eben genau diesen Fragen wird sich auch die mit diesem Fall beschäftigte Kammer in Frankfurt stellen müssen. Klein bezichtigt Suder der Anwerbung und des Waffentransports für den OPEC-Überfall. Ob sich diese Anschuldigungen halten lassen, scheint nach den ersten Befragungen im Gericht sehr fraglich. Die Vorsitzende Richterin erklärte jedoch wiederholt, keine Hinweise für eine Falschbelastung erkennen zu können. Ob das tatsächlich für einen Kronzeugen der Anklage zutrifft, wird sicherlich noch weiteres Thema im Prozess sein. Hinzu kommt, dass Klein auch ein „politischer“ Kronzeuge ist. So äußerte sich Klein noch Jahre nach seinem Ausstieg öffentlich über angebliche Interna der bewaffneten Gruppen. Klein wurde von den sog. Spontilinken um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit als lebender Beweis der Abkehr vom militanten Kampf genutzt und unterstützt. Gut möglich, dass eben diese Kontakte zu seiner Entdeckung durch das BKA führten. Seine Aussagen sind nicht nur belastend für die Angeklagten, sondern auch davon geprägt, eine bestimmte Deutung der Frankfurter Linken der siebziger Jahre zu verkünden, welche natürlich begierig von den Medien aufgesogen wird. Ein Teil der damaligen Linken trat den langen Marsch durch die Institutionen an und musste sich als Grüne Partei glaubhaft von dem alten militanten Kampf verabschieden. Klein selbst erzählt vor allem Räubergeschichten über Waffen und Passfälschungen, aber äußerte auch wiederholt, dass sich die Linke nicht mit ihrer Ge-schichte beschäftigen würde. Ein Gerichtssaal ist jedoch kein für innerlinke Diskurse geeigneter Raum, könnte doch niemand der anderen Beteiligten offen reden, ohne sich einer Strafverfolgung auszusetzen.

Konflikte im Gerichtssaal
Der Prozess selbst ist durch größte Widerstände von Zuschauer*innen, Anwält*innen und Unterstützer*innen im Gerichtssaal geprägt. Mittlerweile haben sich die Auseinandersetzungen massiv hochgeschaukelt, sodass es nun eine Sicherheitsverfügung gibt, welche neben dem Anfertigen von Ausweiskopien der Besucher*innen auch regelmäßig uniformierte, bewaffnete Beamt*innen im Saal festlegt. Versuche der Richterin, ihre „Autorität“ durchzusetzen, wurden massiv ins Lächerliche gezogen oder unterlaufen. Nachdem sie seit dem fünfzehnten Verhandlungstag z.B. das Aufstehen fordert, und dies von aus Berlin angereisten Unterstützer*innen trotz angedrohter Ordnungshaft verweigert wurde, einigten Richterin Stock und die Zuhörer*innen sich dahingehend, dass diese den Saal vor dem Betreten durch die Richterin verlassen und erst nachdem sich alle Beteiligten hingesetzt haben wieder betreten sollen. Dieses Spiel konnte nicht ewig durchgehalten werden, erst recht nicht bei mehreren Verhandlungspausen am Tag, sodass diese Etikette aktuell wieder egal ist. Doch auch die Anwälte fahren offensichtlich eine Konfliktverteidigung auf allen Ebenen und nutzen jede Möglichkeit der Strafprozessordnung, um gegen das Gericht zu bestehen. So gab es bereits mehrere (abgelehnte) Befangenheitsanträge gegen die Vorsitzende Richterin.

Eine ethische Frage
Eine weitere Frage ist, ob man den mittlerweile 71 jährigen Christian Gauger überhaupt verurteilen könnte, selbst wenn das Gericht zu der Überzeugung eines Tatnachweises käme. Denn Gauger hatte im Untergrund einen Herzstillstand und wurde reanimiert, wobei er sein bisheriges Erinnerungsvermögen einbüßte. Kann man diesen Menschen für etwas Verurteilen, das er möglicherweise einmal getan hat, wovon er aber nichts mehr weiß? Ohne Erinnerung an die Tat ist doch auch jede potentielle Reue oder Besserung nicht möglich, welche immer noch zu den Hauptanliegen des Strafrechts zählen. Selbst wenn er wollte, könnte er sich schlecht adäquat verteidigen, kann er doch gegen keine der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen Gegenbeweise erbringen. Diese Frage ist noch völlig offen, befindet sich das Gericht derzeit doch noch in der Beweiserhebungsphase.

Dünne Beweise
Die Beweiserhebung ist auch das eigentliche Problem dieses Verfahrens. Nicht das versucht wird, eine Tat aufzuklären, welche sich vor fast 40 Jahren zugetragen hat und bei der bereits viele der Beteiligten tot sind. Die Frage ist, mit welchen Mitteln der Nachweis geführt werden soll. Die Beweismittel sind nicht nur dürftig, sie sind z.T. vor allem unter untragbaren Zuständen zustande gekommen. Es würde dem Gericht sicher nicht schaden, einen sorgsameren Umgang und etwas Sensibilität an den Tag zu legen. Leider war die Bereitschaft, sich mit den fragwürdigen Beweiserhebungen ernsthaft auseinander zu setzten, bisher kaum zu erkennen. Verwundern muss dies jedoch nicht unbedingt, war doch die Vorsitzende Richterin auch am sogenannten Daschner-Prozess beteiligt. Wer sich an die Urteilsbegründung erinnert: Die rechtlichen Missbilligung der Folter bzw. „menschenunwürdigen Behandlung“ wurde zwar grundsätzlich anerkannt – gleichzeitig blieb das Verhalten zumindest für die staatlichen Akteur*innen ohne echte Sanktionen.
Übertragen heißt dies dann: Das war nicht schön mit Hermann Feiling, ändern tut es aber nichts.
Egal wie der Prozess am Ende ausgeht, diesem Rechtsstaat hätte mehr Sensibilität im Bezug auf möglicherweise erfolterte Aussagen gut zu Gesicht gestanden. Stellt sich diese Frage doch durchaus aktuell immer wieder, wenn im Ausland unter ungeklärten Umständen oder auf fragwürdige Weise erhobene Beweismittel gegen Angeklagte vorgebracht werden.

Daniel Steinmetz studiert in Frankfurt Jura, ist u.a. im lokalen AKJ engagiert und beobachtet den Prozess interessiert.

[1] Http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14330593.html (Stand aller Links: 25.03.2013).
[2] Http://www.verdammtlangquer.org/2012/11/ermittlungsmethodenskrupelloser-fahndungseifer-dokumention-zum-prozess-1980/.