Vom Schauen und Sehen

Schwarze Literatur und Theorieproduktion als Chance für die weiße Mehrheitsgesellschaft.

 

„Mein Projekt ist ein Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden; von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu den Bedienten.“ (Toni Morrison) (1)

Was passiert, wenn du etwas anschaust? Vielleicht schaust du ohne böse Absicht, gänzlich unschuldig, aus reinem Interesse oder sogar aus Verwunderung. Manchmal hast du einen ausfragenden Blick – um einen bereits verfestigten Glaubenssatz zu bestätigen oder zu verwerfen. Es könnte sein, dass du etwas aus Angst anschaust, vielleicht sogar aus Empörung. Was passiert dann?
Bist du Teil einer dominanten Gruppe, erscheint deine Perspektive als allgemeingültig. Allerdings: Wenn Angehörige deiner Gruppe einen Gegenstand anschauen, schaffen oder bestätigen sie eine bestimmte Perspektive darauf, die nicht neutral ist. Allein die Tatsache, dass eine Person etwas anschaut, stellt ein Objekt, das angeschaut oder beobachtet wird, (erneut) her. Wenn viele Personen, die sich als Teil der dominanten Gruppe verstehen, denselben Gegenstand anschauen, wird ein dominanter Blick auf dieses Objekt hergestellt. Dieser dominante Blick wird verschiedentlich kommuniziert und reproduziert. Er gehört zum allgemeinen Kultur- und Gedankengut einer Gesellschaft. In der Summe gewinnen diese Blicke oder Perspektiven eine hartnäckige Legitimität, und im Verlauf der Bildung eines „Wir“ scheinen die Geschichten über „die“ authentischer, als deren eigene Erzählungen jemals sein werden. Jedoch sind die Informationen, die du durch das „Schauen“ erhältst, lückenhaft, weil diese Kommunikation nur in eine Richtung läuft. „Schauen“ und „Sehen“ sind nicht gleich.
Bist du Teil einer marginalisierten Gruppe, funktioniert es anders. Du bist von Anfang an angehalten, zwei Perspektiven im Blick zu haben: die der dominanten Gruppe und die der eigenen Gruppe. Die Fähigkeit, diese zwei Blicke zu beherrschen, ist wesentlich, in manchen Situationen sogar überlebensnotwendig. Für die Angehörigen deiner Gruppe ist der Blick auf sich selbst irritiert durch die (Des)Informationen vonseiten der dominanten Gruppe. Der Blick auf die dominante Gruppe hingegen ist genau, präzise und informiert durch tägliche Interaktionen mit der Mehrheitsgesellschaft: Es wird tatsächlich gesehen. Hier ist wenig Spielraum für Fehler. Sollte der Blick falsche Informationen liefern, hat allein das marginalisierte Subjekt die Konsequenzen zu tragen. In der Mehrheitsgesellschaft leiden Angehörige der dominanten Gruppe selten unter den Konsequenzen für den mangelhaften Blick. Im Gegenteil – alle, die Loyalität zeigen, werden belohnt. Sie, die versuchen, kritischer zu schauen, werden ebenfalls marginalisiert. 

Den Blick umkehren. In einer rassifizierten Gesellschaft dominiert der weiße männliche Blick auf ein imaginiertes Schwarzes Objekt. Die Praxis dieses Blickes umzukehren und das weiße Subjekt in den Fokus zu nehmen, ist die Hauptaufgabe der Kritischen Weißseinsforschung (Critical Whiteness Studies). Eines der bedeutendsten Werke in diesem Zusammenhang ist „Playing in the Dark“ (1992, dt. „Im Dunkeln spielen“, 1995) von Toni Morrison. Es wird oft behauptet, dass sich die Critical Whiteness Studies erst infolge der Schwarzen Bürgerrechtsbewegungen entwickelten. Schwarze Personen in den USA haben weiße Menschen aber immer schon genau beobachtet. (2) Diese Beobachtungen waren lediglich nicht Teil von weißem Wissen bzw. nicht für weiße Personen zugänglich.
Die frühesten Schwarzen Bürgerrechtler_innen (unter anderem Ida B. Wells, Frederick Douglass und Sojourner Truth) haben ihr Wissen über Weißsein schon im 19. Jahrhundert schriftlich überliefert. Versklavte Afrikaner_innen teilten ihre Beobachtungen (mündlich) noch früher miteinander. Tatsächlich gehört der Soziologe und Philosoph W.E.B. Du Bois mit seinem bahnbrechenden Buch „The Souls of Black Folk“ (1903) zu den Gründer_innen der Kritischen Weißseinsforschung in den USA. Ebenfalls haben Schwarze Personen und sonstige People of Color im deutschen Kontext stets ihre eigene Perspektive auf Weißsein gehabt. So schreibt Peggy Piesche im Sammelband „Mythen, Masken und Subjekte“ (einem Werk von 2005 , das erstmalig einen umfassenden Überblick über den Stand der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland bot (3)): „Die Analysekategorie Weißsein wurde nicht zuletzt auch im Kontext Schwarzer Hegemonialkritik gebildet und ist ebenso Teil einer tradierten Schwarzen Überlebensstrategie wie auch Schwarzer politischer Bewegungen. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland ist damit keineswegs ein rein akademisches Feld, sondern auch die alltägliche Reflexion Schwarzen Lebens in einem hegemonialen weißen Setting.“

Schwarzes Wissen. Die aktuelle Diskussion in Deutschland um Kritische Weißseinsforschung und ihre Relevanz für den antirassistischen Widerstand verkennt die Tatsache, dass es – lange bevor es so genannt wurde – Kritische Weißseinsforschung hierzulande bereits gegeben hat. Einmal mehr handelt es sich hier um ein Ausblenden von Schwarzem Wissen, Schwarzer Theorieproduktion und Schwarzer Literatur, mit dem Zweck, eine Konstruktion von Weißsein zu stabilisieren.
Wie dies genau passiert, analysiert Toni Morrison in ihrem Buch „Im Dunkeln spielen“ für den US-amerikanischen Kontext. Auf nur rund hundert Seiten beschreibt Morrison, wie sich die weißeamerikanische Literatur der Präsenz Schwarzer Personen oder vielmehr (weil es nicht um reale Schwarze Personen geht, sondern um eine imaginäre Reproduktion von ihnen) des „Afrikanismus“ bedient, um bestimmte Fragen wie Freiheit, Macht oder Unschuld zum Thema zu machen. Anhand mehrerer Beispiele aus weißen Klassikern der Literatur gelingt es Morrison zu demonstrieren, dass die Konstruktion der Vereinigten Staaten als Nation unmittelbar geknüpft ist an die Auseinandersetzung mit „Race“. Ohne versklavte Menschen beispielsweise konnten sich weißeMenschen nicht als frei vorstellen. Ohne wilde, unzivilisierte Schwarze konnten sie sich nicht als kultiviert, zivilisiert präsentieren.

Das Problem mit dem „Struwwelpeter“. In der deutschsprachigen Literaturlandschaft funktioniert die Konstruktion vom Weißsein ähnlich: Mit wenigen Ausnahmen werden entweder Schwarze Personen gänzlich ausgeblendet oder tauchen nur in einer passiven Rolle auf. Wir denken an die Schwarze Präsenz in Kinderbüchern wie „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann (1845), Kurzgeschichten wie „Die Probe“ von Herbert Malecha (1954) oder Romane wie „Die weiße Massai“ von Corinne Hofmann (1998). In all diesen Werken wird die Überlegenheit des weißen Subjektes hervorgehoben, durch ein mangelhaftes, bemitleidenswertes oder sogar furchterregendes Schwarzes Objekt. Was sagen solche Kulturproduktionen über die (konstruierte) deutsche Nation aus? Was sagen Repräsentationen von weißen Menschen aus, die nur deshalb funktionieren, weil andere dadurch erniedrigt und gedemütigt werden? 
Laut Morrison haben Autor_innen die Fähigkeit, sich Begebenheiten oder Lebensweisen vorzustellen, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen; sie können das Fremde vertraulich machen und das Bekannte mystifizieren. Ihre Rolle in der Bildung der kulturellen Identität einer Nation ist zentral. Dadurch wird Literatur zu einem wichtigen Ort der kritischen Auseinandersetzung mit Weißsein, „Race“ und Rassifizierung. 
Hier liegt eine Chance für die weiße Mehrheitsgesellschaft. Dadurch, dass sie bisher die Expertise von Schwarzen Autor_innen nur wenig wahrgenommen hat, weiß sie wenig über die Auswirkungen rassistischen Denkens, Sprechens und Handelns auf Menschen in Deutschland. Sie bleibt deshalb, um Morrisons Metapher zu benutzen, im Dunkeln. Es fehlt im weißen Mainstream eine starke Repräsentation der Schwarzen Perspektive – eine Perspektive, die ermöglichen könnte, dass Angehörige einer dominanten Gruppe nicht nur schauen, sondern endlich tatsächlich sehen.

 

Fußnoten:
(1) Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Rowohlt 1995
(2) bell hooks: Representing Whiteness in the Black Imagination. In: Lawrence Grossberg et al.: Cultural Studies. Routledge 1992, S. 338–342
(3) Peggy Piesche: Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die Kritische Weißseinsforschung?. In: Maureen Maisha Eggers u.a.: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast Verlag 2009 (2. Auflage), S.14–17
 

Literatur